Copyright © Martin Welzel, Düsseldorf -
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung
sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Textes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche
Genehmigung des Autors Martin Welzel reproduziert werden oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Jean Paul Sartres Philosophie in "Das Sein und das Nichts" ENGLISH VERSION Vorbemerkung (1999) Zu diesem Text Zu Sartres Text Die Transzendenz des Ego Bewußtseinsphilosophie und Naturwissenschaft Das formale Ich und das materiale Ich Das formale Ich ist nicht im Bewußtsein Das materiale Ich ist nicht im Bewußtsein Zustände, Handlungen und Qualitäten Das Ego Konsequenzen Das Sein und das Nichts Einleitung: Auf der Suche nach dem Sein Dualismus Aussen / Innen Dualismus Potenz / Akt Dualismus Erscheinung / Wesen Auflösung der Dualitäten in die Dualität Endlich / Unendlich Restauration der alten Dualismen aus diesem neuen Dualismus Exkurs: Sartres Seinsbegriff Übergang zur Seinsphilosophie Die Existenz geht der Essenz voraus Die Spontaneität des Bewußtseins Das Sein des Bewußtseins Das Sein-an-sich Merkmale des Seins-an-sich Die Problematik der zwei Seinsbereiche Das Problem des Nichts Der Schritt zum Konkreten Das Frageverhalten als Ausgangspunkt im Konkreten Erklärung der Negation aus den negativen Aussagen Das Nichts Jede Negation ist Bestimmung Das Nichts bei Heidegger Der Ursprung des Nichts Kausalität und Negativität Die Angst Die Flucht vor der Angst Unaufrichtigkeit / Schlechter Glaube Freud kann den Schlechten Glauben nicht erklären Schlechter Glaube in der Praxis Nichtidentität des Bewußtseins mit sich selbst im schwächeren Sinne Der Mensch für Andere und für sich Ehrlichkeit gegenüber sich selbst Der Glaube des Schlechten Glaubens Das Für-sich-Sein Anwesenheit bei sich Faktizität: Existenz Die Kontingenz und Gott als notwendiges Wesen Faktizität: Umstände der Existenz Aus dem Cogito hinausgelangen Mangel und Begierde Der "Wert" Was dem Für-sich mangelt Die Möglichkeit Vorbemerkung zur Diskussion der Zeit Die Zeit Die Vergangenheit Identität und Nicht-Identität des Für-sich mit seiner Vergangenheit Die Gegenwart Die Zukunft Die Totalität der Zeit Nachbemerkung zur Diskussion der Zeit Die Reflexion und der "Wert" Unreine Reflexion Reine Reflexion Die Transzendenz Einige Aspekte der Transzendenz Schönheit und "Wert" Die allgemeine Zeit Begriff der "Ekstase" Das Für-Andere Andere Bewußtseine Die Beziehung zum anderen Bewußtsein als interne Negation Hegel, Husserl, Heidegger Der "Blick" Ontologie des Für-Andere Das Solipsismus-Problem Der Kampf der Bewußtseine und ihre Totalität Der Körper als Für-sich-Sein Der Körper als Objekt Sinnesorgane und Sinnesempfindungen Die Körperempfindungen Der "Ekel" Exkurs: Theorie der Emotionen Die konkreten Beziehungen zu Anderen Das Ideal der Liebe und die Sprache Das Scheitern der Liebe, ihr Nutzen und ihre Gefährdung Masochismus Biologische vs. ontologische Sexualität Ontologie der sexuellen Begierde Sadismus Gleichgültigkeit und Hass Gemeinschaftsbewußtsein Klassen- und Massenbewusstsein Handeln, Haben und Sein Handeln Motivdeterminismus Leidenschaften und Kausalität Wille und Antriebe Die Irrationalität der Freiheit Beispiel Minderwertigkeitskomplex Beispiel Müdigkeit Revision der Urwahl Der Widrigkeitskoeffizient Lebendige und tote Vergangenheit Das Sein-für-Andere als äußere Grenze der Freiheit Die Sprache als "Technik" Der Tod Situation und Verantwortlichkeit Existentielle Psychoanalyse: Erklärung aus dem Grundentwurf Existentielle Psychoanalyse vs. klassische Psychoanalyse Praxis der existentiellen Psychoanalyse Begierde nach Besitz Seinsbegierde und Authentizität Psychoanalyse der Dinge Metaphysische Schlussfolgerungen Ethik Eine sehr subjektive Bemerkung im Voraus: Obwohl ich in den folgenden Abschnitten die Mängel meines Textes so ehrlich wie möglich herauszustellen versuche, gehe ich davon aus, dass seine Lektüre die Lektüre einer der gängigen Einführungen (mindestens) ersetzen kann, was Sartres Frühphilosophie betrifft. - Ich habe versucht, aus meinem Exzerpt von Sartres Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" die grundlegenden Gedankengänge herauszuarbeiten, und zwar möglichst klar und möglichst ohne Sartres eigentümliche Ausdrucksweise (die ich - hoffentlich - nur verwende, wenn ihre Bedeutung geklärt ist). Ich bin der Auffassung, dass das ideale Verständnis eines philosophischen Textes dann erreicht ist, wenn man ihn seiner (nicht senilen, aber etwas langsamen und philosophisch ungebildeten) Grossmutter erklären könnte, und nicht bereits in dem Moment, in dem sich der interne Zusammenhang der Lieblingsphrasen des Autors erhellt - auch dann nicht, wenn man dieses System korrekt mit den Systemen anderer Autoren in Verbindung setzen kann. Es handelt sich hierbei um keine akademische Arbeit (und auch nicht um die Vorstufe einer solchen). Ich wollte ein bekanntes älteres, nicht-analytisches, bewußtseinsphilosophisches Werk wirklich lesen und verstehen. (Kontext ist das aus beruflichen Gründen jahrelang "eingeschlafene" Projekt einer Promotion über Bewußtseinsphilosophie an der Universität Düsseldorf.) - Das Ergebnis dieser Lektüre (die Ausformulierung meines Exzerptes, ergänzt um eine Art Einleitung) mache ich zugänglich, weil zur Zeit im Web eine detailliertere deutschsprachige Darstellung von Sartres Frühwerk zu fehlen scheint. Wenn ich gegen Sartres Auffassungen Einwände vorbringe, was ich besonders dort tue, wo es um seine Ontologie im engeren Sinne geht, verfolge ich damit keinen destruktiven Zweck, sondern es geht - wenigstens in den meisten Fällen - lediglich darum, mein Verständnis dieser Auffassungen besser zu konturieren. (Umgekehrt bedeutet das Fehlen kritischer Anmerkungen nicht, dass ich Sartres Ansichten teile, sondern in erster Linie, dass ich sie für ausreichend klar halte.) - Mein Verständnis wiederum hängt natürlich in einem gewissen Grad von meiner persönlichen philosophischen Ausrichtung ab (die eher angelsächsisch beeinflusst ist). Es ist also nicht sehr originell. Weil meine französischen Sprachkenntnisse ungenügend sind, leidet meine Sartre-Lektüre unter dem Handicap, auf deutschen Übersetzungen zu basieren. (Zitate daraus sind nicht nur meist kurz, sondern, um Missbrauch zu erschweren auch ohne Nachweis - normalerweise stammen sie aus dem besprochenen Kapitel.) Wenn ich das Gefühl habe, dass es interpretationsrelevante Unterschiede zwischen dem Gebrauch französischer Ausdrücke und dem Gebrauch der in der Übersetzung verwendeten deutschen geben könnte, merke ich das an. Sartre macht es zwar schwer, sich zu konzentrieren - das werde ich gleich erläutern -, ist aber kein hermetischer Autor: Wer Sartre verstehen will, soll ihn lesen. Obwohl ich diesem Grundsatz gefolgt bin, habe ich natürlich noch mehr gelesen. - Die von mir verwendete Literatur bildet eine sehr übersichtliche Liste, die Sekundärliteratur besteht aus drei Einführungen, von denen sich die online verfügbare von Paul Vincent Spade als die brauchbarste erwies. - Die Primärliteraturliste umfasst nur die Werke, auf die ich explizit eingehe. 1. Sekundärliteratur - Jürgen Hengelbrock: Jean Paul Sartre. Freiheit als
Notwendigkeit ; Einführung in das philosophische Werk. (Alber 2005) 2. Primärliteratur - Jean Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische
Essays 1931 - 1939. Übersetzt von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd
Schuppener. (Rowohlt 1982) Alle Zitate sind diesen Ausgaben entnommen. - Zitate Sartres, die mindestens einen Satz umfassen, erscheinen in roter Farbe. Wer der üblichen Empfehlung folgt, und vor "Das Sein und das Nichts" die "Transzendenz des Ego" liest, wird eine ähnliche Erfahrung machen wie ein Restaurantbesucher, der das Menü bestellt hat, und dem nach einer leichten und bekömmlichen Vorspeise überraschend eine Badewanne gefüllt mit halbgarem, durchwachsenen Bauchspeck vorgesetzt wird. - Während "Die Transzendenz des Ego" ein sachlich abgefaßter, um Deutlichkeit bemühter philosophischer Fachaufsatz ist, frei von literarischen Ornamenten, präsentiert sich "Das Sein und das Nichts" als das glatte Gegenteil davon. - Das macht das Werk nicht ungenießbar, aber eben schwer verdaulich: Mehr als tausend Seiten lang, wimmelt es darin von Sätzen wie "Die menschliche-Realität ist das Sein, insofern es in seinem Sein und für sein Sein einziger Grund des Nichts innerhalb des Seins ist." (Ein harmloses Exemplar.) - Gerne greift Sartre zu bildhaften Vergleichen, die seiner literarischen Begabung entsprechen, aber den ausgedrückten Gedanken nicht wirklich klarer werden lassen, wie z. B. das bekanntes Diktum, dass das Nichts im Kern des Seins steckt "wie ein Wurm". - Was muss noch erwähnt werden? Passagen von zahllosen Seiten ohne einen einzigen Absatz, redundante Wiederholungen seiner ontologischer Lieblingsschlagwörter, eine unbehebbare Zweideutigkeit seines Zentralbegriffes "Sein", sowie besonders in der zweiten Hälfte des Werkes die Absonderlichkeit der geäußerten Thesen (wenig bekannt z. B. die, dass nicht die Sexualorgane die Sexualität des Bewußtseins hervorbringen, sondern die Sexualität des Bewußtseins die Sexualorgane erzeugt). Sartres zweites Hauptwerk, die "Kritik der dialektischen Vernunft", in dem er seine Philosophie durch marxistische Anbauten modernisieren wollte (bzw. den Marxismus durch existentialistische Anbauten) übertrifft übrigens "Das Sein und das Nichts" noch an Leserunfreundlichkeit. (Zum Glück hat das Werk keine größere Popularität erlangt.) - Da die Lektüre von "Die Transzendenz des Ego" der Lektüre von "Das Sein und das Nichts" voranging (und das auch tun sollte), habe ich die Ausformulierung dieses Exzerptes vorangestellt. Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung Bewußtseinsphilosophie und Naturwissenschaft Wer das folgende liest und noch nie mit Bewußtseinsphilosophie zu tun hatte, wird vielleicht erstaunt sein, hier auf Themen zu stossen (Bewußtsein, Ich, Wahrnehmung, Entscheidungsfreiheit usw.), die er im Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen um Gehirnforschung kennengelernt hat, ohne dass hier Erkenntnisse der Gehirnforschung vorausgesetzt oder diskutiert werden. - Im Gegenteil, wo das Gehirn von Sartre erwähnt wird, geschieht es mit einer gewissen Abschätzigkeit. Er unterstellt sowohl hier als auch in "Das Sein und das Nichts", dass Erkenntnisse über die Gehirnphysiologie nichts zur Klärung der von ihm behandelten Probleme beitragen können. Man könnte annehmen, dass dieser Mangel dem Umstand geschuldet ist, dass zu Sartres Zeit die Wissenschaft vom Gehirn noch nicht weit genug war. Vor diesem Irrtum möchte ich warnen. Tatsache ist, dass der Gesichtspunkt der Philosophie ein völlig anderer ist als der Gesichtspunkt der Hirnforschung (oder Evolutionsforschung). Und das ist nicht deshalb so, weil man das Fehlen empirischer Kenntnisse über die menschliche Physiologie mit einem Hirngespinst kompensieren musste, als man in vorwissenschaftlichen Zeiten über das Bewußtsein nachdachte, so wie man die reale Unwissenheit über Naturzusammenhänge durch mythisch-magische Konstrukte bewältigte. - Dass die Philosophie ein Recht auf einen eigenen Gesichtspunkt in diesen Fragen hat, kann man sich mit einem kleinen Gedankenexperiment klar machen (das keinen Originalitätsanspruch erhebt - ähnliche Denkspiele gibt es bei Wittgenstein und anderen): Man nehme an, dass Erich von Däniken recht hat: In biblischen Zeiten landeten Ausserirdische auf der Erde und siedelten sich hier an. Diese Ausserirdischen bzw. ihre Nachfahren gibt es immer noch. Sie leben auf einer kleinen Insel im Meer, und sind dort kürzlich von Geologen entdeckt worden, weil man auf der Insel Erdölvorkommen vermutet. - Man schickt ein Team von Wissenschaftlern auf diese Insel, die folgendes feststellen: Die Ausserirdischen sind Menschen nicht nur optisch sehr ähnlich. Sie sprechen eine Sprache, sie bilden gesellige Kleingruppen, obwohl sie sich gelegentlich zu streiten scheinen, sind gastfreundlich gegenüber dem Wissenschaftlerteam, sie äußern Gefühle, sind zu beachtlichen geistigen Leistungen fähig usw. Doch diese Ähnlichkeit verschwindet, wo man zu einer medizinisch-biologischen Untersuchung schreitet: Das Körperinnere der Ausserirdischen ist völlig anders aufgebaut als das Körperinnere der höheren irdischen Lebewesen. Es gibt keine unterscheidbaren Organe, noch nicht einmal Zellen. Und in den Köpfen der Ausserirdischen befindet sich nicht etwa ein Gehirn, sondern lediglich eine wassergefüllte Blase. Das alles ist Anlass für folgende Sätze im Abschlussbericht des leitenden Wissenschaftlers: "Da diese Wesen in Ermangelung eines Gehirns auch keine Grosshirnrinde, kein limbisches System usw. besitzen, und in diesen Regionen, wie man weiss, Gefühle und Bewußtsein angesiedelt sind, ist davon auszugehen, dass diese Wesen kein Bewußtsein besitzen. Es besteht also kein Anlass, bei einer Ausbeutung der Erdölvorkommen auf sie Rücksicht zu nehmen. Als unbewußte Wesen haben die Ausserirdischen - so wie die Felsen auf der Inseloberfläche - keinerlei Eigentumsrecht und keinerlei Anrecht auf schonende Behandlung. Falls sie sich störend auf die Produktion auswirken sollten, ist ihre Liquidierung die empfohlene Massnahme." Warum wirkt dieser Passus verbrecherisch? Zieht der Wissenschaftler nicht dieselben Schlussfolgerungen, die es einem Schrebergärtner erlauben, seine Schnecken auf jede Art zu töten (mit Schneckenkorn vergiften, in Bier ertränken, mit Salz überschütten usw.)? - Nun, offenbar gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Ausserirdischen verhalten sich auf eine bestimmte Weise, auf die sich Schnecken und andere niedere Tiere nicht verhalten. Und der Grund für die sich aufdrängende Annahme, dass sie Bewußtsein haben, liegt nicht in ihrer Physiologie, sondern in diesem Verhalten, ganz gleichgültig, wie ihre Physiologie beschaffen ist. Das wesentliche Resultat dieses Gedankenexperimentes ist also: Die Frage nach dem Bewußtsein ist ursprünglich keine Frage der Physiologie. Der gehirnphysiologische Gesichtspunkt, der einem Arzt z. B. erlaubt, die völlige Bewußtlosigkeit eines Patienten zu konstatieren, sobald bestimmte Gehirnfunktionen ausgefallen sind, ist ein abgeleiter Gesichtspunkt! Er ergibt sich z. B. aus der Beobachtung, dass Patienten, deren Gehirn in einen solchen Zustand gerät, kein Verhalten mehr zeigen und sie, wenn es ihnen gelingt, daraus wieder zu erwachen, keine Erinnerungen an diese Zeit äußern. Man schließt also in Wahrheit aus einem bestimmten Verhalten auf das Vorhandensein eines Bewußtseins. In diesem Sinne verfährt auch der berühmte Turing-Test: Dieser Test soll nachweisen, dass ein Computer "denken kann" (also über Bewußtsein verfügt). Er besteht in einem Dialog, den ein Mensch mit einem Computer, der getestet werden soll, führt. Falls der Mensch nach einer bestimmten Zeit keinen Unterschied zwischen den Antworten des Computers (und Antworten sind eine Art des Verhaltens) und den Antworten eines Menschen feststellt, ist davon auszugehen, dass der Computer denkt. - Aber was bringt Turing dazu, mit Selbstverständlichkeit nur das Verhalten als Kriterium für das Vorhandensein von Bewußtsein zu nehmen? Kann ein scheinbar bewußtes Verhalten nicht auch unbewußt erfolgen? Die Frage, ob die Ausserirdischen Bewußtsein haben, kann also von der Naturwissenschaft nicht beantwortet werden. Sie verweist auf eine philosophische Frage: Welche Kriterien wenden wir an, wenn wir Wesen ein Bewußtsein unterstellen? - Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum eine Philosophie des Bewußtseins ein sinnvolles Unternehmen ist. Dieser Grund liegt in dem, was man als die "subjektive Erlebnisqualität" bezeichnet. Wenn ich Schmerzen habe, kann man das naturwissenschaftlich auf bestimmte neuronale Vorgänge zurückführen (genauer gesagt, es hat sich gezeigt, dass man bei Menschen, die Schmerzen äußern, häufig auf solche Vorgänge stößt und dass die Menschen umgekehrt gewöhnlich keine Schmerzen äußern, wenn keine solchen Vorgänge nachweisbar sind). Doch was hat eine solche Beschreibung mit den Schmerzen eines Menschen zu tun? Schmerzen sind z. B. unangenehm - doch wie soll sich dieser Aspekt in den neuronalen Vorgängen wiederfinden? Anscheinend gibt es einen Aspekt des Schmerzes, der sich einer naturwissenschaftlichen Beschreibung von vorneherein entzieht: Das, was erlebt wird und was nur das Eigentum desjenigen zu sein scheint, der die Schmerzen hat (da andere Menschen diesen Aspekt nur an sich selbst wahrnehmen können). Aus einer reduktionistischen naturwissenschaftlichen Beschreibung kann man die Existenz dieses Aspektes nicht erschliessen. - Anders ausgedrückt, man kann sich den Menschen, so wie ihn die Wissenschaft üblicherweise betrachtet, nämlich als physikalisch-chemischen Komplex, genauso gut auch unbewußt denken. Es war gerade diese subjektive Erlebnisqualität, die Philosophen der Neuzeit dazu brachte, einen besonderen Existenzbereich für das Bewußtsein zu reservieren, der sich von der sonstigen Welt unterscheidet (der Standpunkt wurde später von vielen Philosophen wieder aufgegeben). Descartes formulierte eine solche Theorie, und längere Zeit waren seine Nachfolger damit beschäftigt, herauszufinden, wie eine Wechselwirkung des Bewußtseins-Bereichs mit der Welt der Dinge möglich ist: Denn im Bereich des Bewußtseins gibt es offenbar keinen Raum (Gedanken, Schmerzen usw. haben keine Ausdehnung), so dass mechanische Ursache-Wirkung-Beziehungen, wie sie zwischen den Dingen im Raum bestehen, nicht herangezogen werden können, wenn z. B. erklärt werden soll, wie es möglich ist, dass ein Willensakt bewirkt, dass ich meinen Arm hebe. Ich möchte betonen, dass Sartre in dieser Tradition verwurzelt ist. Die Losgelöstheit, die dem Bewußtsein unterstellt wird, führt dazu, dass die Introspektion wichtigste bewußtseinsphilosophische Methode wird (nur ich selbst kann ermitteln, was in meinem Bewußtsein vorgeht, indem ich "in mich hinein sehe"), wobei man allerdings für mehr oder weniger selbstverständlich hält, dass die so gefundenen Erkenntniss verallgemeinerungsfähig sind. - Fast alle Argumentationen Sartres, in der "Transzendenz des Ego" und in "Das Sein und das Nichts" berufen sich auf durch Introspektion festgestellte Sachverhalte. - In "Ist der Existentialismus ein Humanismus?", einer 1946 verfassten Vorlesung, die seinen philosophischen Standpunkt gegen Vorwürfe von katholischer und marxistischer Seite verteidigt, bekennt sich Sartre zu dieser Erkenntnisquelle: "Unser Ausgangspunkt ist tatsächlich die Subjektivität des Individuums, und dies aus streng philosophischen Gründen. [...] Es kann dabei keine andere Wahrheit geben, von der man ausgehen kann, als diese: Ich denke, also bin ich. Es ist dies die absolute Wahrheit des Bewußtseins, das zu sich selbst kommt. [...] Damit also eine ungefähre Wahrheit sein kann, braucht es eine absolute Wahrheit, und diese ist einfach, leicht zu gewinnen, sie ist im Bereich eines jeden; sie besteht darin, sich selbst ohne Vermittlung zu erfassen." Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Sartres Thema das Bewußtsein des Menschen ist. Von Tieren (oder Ausserirdischen) ist niemals die Rede, das Kriterienproblem wird explizit nicht Thema. - Es ist eine interessante Frage, ob Sartres Philosophie auf höhere Tiere anwendbar wäre. Das formale Ich und das materiale Ich "Die Transzendenz des Ego" erschien 1936/37 in einer philosophischen Zeitschrift und legt Sartres Bewußtseinsphilosophie im Gegensatz zu anderen Auffassungen dar, insbesondere der seines Lehrers Husserl. Die dort vorgestellte Theorie ist eine wichtige Vorstufe zu derjenigen, die in "Das Sein und das Nichts" vertreten wird: Hauptthema ist das "Ich" und sein Verhältnis zum Bewußtsein. Sartres Grundthese besagt, dass das Ich kein Teil des Bewußtseins ist. Es werden zwei unterschiedliche Ich-Begriffe unterschieden, wobei die Behauptung auf beide zutreffen soll. Was unterscheidet das, was in meinem Bewußtsein vorhanden ist (meine Schmerzen, meine Gedanken usw.) von dem, was im Bewußtsein eines Anderen vorhanden ist? Was sorgt dafür, das es sich um unterschiedliche Bewußtseine handelt? Der Bezug auf das Ich. Doch dieses Ich ist zunächst einmal nur ein Bezugspunkt, der auf einer rein logischen Ebene sowohl die Einheit meines Bewußtseins garantiert (alles in meinem Bewußtsein ist auf dieses Ich bezogen) als auch die Individuierung meines Bewußtseins (was in meinem Bewußtsein ist, ist auf mein Ich bezogen, was im Bewußtsein eines anderen Menschen ist, ist auf sein Ich bezogen). Aus diesem Grund kann man es als "formales Ich" bezeichnen. Doch daraus, dass einen solchen logischen Bezugspunkt geben muss, folgt noch nicht, dass es ein real vorhandenes Ding gibt, das mit dem formalen Ich identifizierbar ist und für Einheit und Individuierung meines Bewußtseins sorgt. Es ist möglich, dass sich beides herstellt, ohne dass es einen Hersteller gibt und das ist genau die These, die Sartre vertritt. - Das materiale Ich ist leichter definierbar: Es handelt sich um das Ich, das Gegenstand der Psychologie ist, das psychische Ich. Das materiale Ich kann z. B. eifersüchtig oder ängstlich sein oder etwas begehren. Das formale Ich ist nicht im Bewußtsein Ein Philosoph, der sich intensiv mit dem Problem der Bewußtseinseinheit beschäftigt hat, war Immanuel Kant. Er kam zu dem Schluss, dass ein formales Ich notwendig ist (die "synthetische Einheit der Apperzeption", Apperzeption meint die Aufnahme von Wahrgenommenem ins Bewußtsein). - Doch Kant - so Sartre - behauptete nicht, dass das formale Ich eine Entsprechung in der Wirklichkeit habe. Es war für ihn nicht mehr als lediglich die Gesamtheit der logischen Bedingungen für die Einheit des Subjekts. - Doch Kants Nachfolger (Neukantianismus) sahen das anders. Einige vertraten die Auffassung, dass das formale Ich existiert, aber unbewußt ist, da es das Bewußtsein ja erst ermöglicht. Andere meinten, dass es tatsächlich alle unsere Vorstellungen begleitet, d. h. selber eine Bewußtseinstatsache ist. Auch der spätere Husserl schließt sich daran an: Das "transzendentale Bewußtsein" (das dem formalen Ich entspricht) stellt die Einheit des "normalen" Bewußtseins her und ist intuitiv zugänglich. - Sartre behauptet demgegenüber die Unnötigkeit eines solchen "Herstellers der Bewußtseinseinheit". Es reicht völlig aus, wenn die Elemente eines Bewußtseins einerseits auf Objekte und andererseits aufeinander bezogen sind, ein zusätzlicher Bezug auf einen bestimmten realen Punkt erübrigt sich so. - Wie ist das zu verstehen? - Eine Grundthese der von Husserl begründeten Phänomenologie besagt, dass jedes Bewußtsein Bewußtsein von etwas ist. Das Schlagwort dafür heisst "Intentionalität". Bewußtsein kann auf Objekte ausserhalb des Bewußtseins oder auf Bewußtseinselemente bezogen sein, doch ohne jeden Bezug auf etwas ist es nicht denkbar. Sartre meint nun, dass diese Grundeigenschaft des Bewußtseins ausreicht, um für seine Einheit und Individuierung zu sorgen. Wie spielt sich das konkret ab? Augenblicksbewußtseine vereinigen sich in einem einzigen Bewußtsein, wenn sie auf dasselbe Objekt bezogen sind. Dieses gegenwärtige Bewußtsein wiederum vereinigt sich mit dem vergangenen Bewußtsein dadurch, dass es Bewußtsein von dem vergangenen Bewußtsein ist (auf dieses "intendiert"). - Die Augenblicksbewußtseine leisten ihre Vereinigung also ohne Hilfe eines zusätzlichen Bewußtseinselementes "transzendentales Ich". - Doch was ist mit Husserls Behauptung, dass dieses "transzendentale Ich" intuitiv zugänglich sei? Denn man kann nicht bestreiten, dass wir jedesmal, wenn wir unser Denken selbst "ins Auge fassen", auf ein denkendes Ich stoßen. In diesem Sinne hatte Descartes ("Ich denke, also bin ich") ja seine Existenz aus seinem Denken abgeleitet. Um diesem Einwand zu begegnen, entwickelt Sartre eine für "Das Sein und das Nichts" sehr wichtige Unterscheidung von Bewußtseinsebenen: Zunächst stellt er fest, dass jedes Bewußtsein nicht nur Bewußtsein von etwas sondern auch Bewußtsein von sich selbst ist, also Bewußtsein von Bewußtsein. Doch Bewußtsein von Bewußtsein kann es auf zwei Weisen geben: Das Bewußtsein kann sich selbst zum Objekt nehmen, in diesem Falle spricht man von "Reflexion". Doch ich bin mir meines Bewußtseins nicht nur in dann bewußt, wenn ich darauf reflektiere, sondern immer. Auch wenn ich ganz in eine Wahrnehmung versunken bin, z. B. gebannt auf das schöne Mädchen starre, das plötzlich aus dem Fahrstuhl getreten ist, bin ich mir bewußt, dass ich wahrnehme, obwohl nur das wahrgenommene Ding Objekt meines Bewußtseins ist und nicht das Bewußtsein. Es gibt also reflexives und nicht-reflexives Bewußtsein von Bewußtsein. - Diese Unterscheidung ist von größter Bedeutung für Sartres Philosophie und kehrt in "Das Sein und das Nichts" an den unterschiedlichsten Orten wieder. Sartre nennt die nicht-reflexive Ebene Bewußtsein 1. Grades. Bewußtsein ist hier Bewußtsein eines Objektes und Bewußtsein von sich selbst, wobei dieses "sich selbst" nicht als weiteres Bewußtseinsobjekt verstanden werden darf. Die beiden "Bewußtseine von" gehören nicht derselben Kategorie an: Das Bewußtsein von Bewußtsein ist im vorreflexiven Bewußtseinszustand "nicht setzend" (der Ausdruck bezieht sich auf das "Setzen" von Objekten). - "Setzend" wird Bewußtsein von Bewußtsein erst dann, wenn ich das Bewußtsein selbst zum Objekt mache, was auf der reflexiven Ebene (Bewußtsein 2. Grades) geschieht. - Auf welcher Ebene haben wir nun die Intuition eines Ich? Mit Sicherheit auf der reflexiven Ebene, was Descartes gezeigt hat (denn sein Cogito-Experiment ist ein typischer Reflexionakt). Doch wie steht es in dieser Hinsicht um die vorreflexive Ebene? Sartre bestreitet, dass es dort gleichfalls ein Ich gibt, zunächst einmal aus einem prinzipiellen Grund, für dessen Klärung ein neuer Begriff eingeführt werden muss. Das Bewußtsein - so Sartre - zeichnet sich durch seine "Transluzidität" aus. - Dieser Sartresche Begriff ist leider nicht so deutlich, wie es der Wortklang suggeriert. Einerseits soll er besagen, dass ich mir aller Bewußtseinselemente vollständig bewußt bin, ihr Sein ist ihr Erscheinen. Andererseits wird sich besonders in "Das Sein und das Nichts" zeigen, dass ich mich über grundlegende Tatsachen meines Bewußtseins täuschen kann. Aus der Transluzidität folgt also nicht, dass ich ohne weiteres zu evidenten Aussagen über mein Bewußtsein gelangen kann (sondern nur, dass es prinzipiell immer möglich ist). Das Wort "transluzide" bedeutet lediglich "lichtdurchlässig" und nicht etwa "durchsichtig". Sartres Behauptung ist nun, dass ein Ich, gleichgültig wie formal es aufgefasst wird, grundsätzlich einen materialen Restbestand behält und damit "opak" ist ("Opazität" - Undurchsichtigkeit - ist der Gegensatz zur Transluzidität). Wie kommt er zu dieser These? - Vielleicht kann man sagen, dass das Ich, da es ja alle Bewußtseinsvorgänge begleiten soll, mit diesen nicht identisch sein kann und daher das Bewußtsein überschreiten muss. Das formale Ich im Bewußtsein zu lokalisieren bedeutet also, dass das Bewußtsein eine unbewußte Komponente hat, was undenkbar ist: "Wenn es existierte, würde es das Bewußtsein von sich selbst losreißen, es teilen, in jedes Bewußtsein gleiten wie eine opake Klinge." Doch wenn das Ich als Element des unmittelbaren, vorreflexiven Bewußtseins unmöglich ist, warum stoßen wir dann immer darauf, wenn wir auf dieses vorreflexive Bewußtsein reflektieren? Sartres Antwort lautet: Wenn ich auf eine einfache Wahrnehmung, die ich auf der vorreflexiven Ebene hatte, reflektiere, erscheint es mir so, als sei mein Ich nicht nur jetzt, während ich reflektiere, vorhanden, sondern wäre auch im Moment der Wahrnehmung dagewesen. - Die These ist hier, dass das Ich erst nachträglich, während der Reflexion hinzugefügt wurde und im Moment der Wahrnehmung noch nicht im Bewußtsein war. Das Ich ist das Ich des Bewußtseins, insofern dieses zum Objekt eines anderen Bewußtseins geworden ist. Doch wie kann die Ich-losigkeit des Bewußtseins 1. Grades durch Intuition nachgewiesen werden, wenn mir die Intuition, während ich auf das Bewußtsein 1. Grades reflektiere, doch gerade das Vorhandensein eines Ich zeigt? Denn wenn dieser Nachweis durch Intuition scheitert, scheitert offenbar Sartres Theorie: Das formale Ich muss Teil des Bewußtseins sein, wenn es mir in der Intuition so erscheint, da im Bewußtsein ja Sein und Schein identisch sind. - Es muss also noch einen anderen Zugang zum vorreflexiven Bewußtsein geben, der keine Reflexion ist, und der eine entgegengesetzte Intuition erlaubt. Sartre behauptet, dass es diesen Zugang in Gestalt der "nicht-reflektierten Erinnerung" gibt. Die Erinnerung belehrt uns darüber, dass wir in dem Moment, als wir nur Bewußtsein 1. Grades waren, kein Ich hatten. Wenn ich mich - so Sartres Beispiel - an einen Moment während der Lektüre eines Buches erinnere (ohne auf diese Erinnerung zu reflektieren), wird mir intuitiv klar, dass es in diesem Moment lediglich die Inhalte des Buches für mich gab und kein Ich. - (Man beachte hier Sartres Auffassung, dass das präreflexive Bewußtsein über die Gegenwart hinausreicht. In "Das Sein und das Nichts" wird aus diesem Ansatz eine ausgeführte Philosophie der Zeit.) Das Ich erscheint also erst während der Reflexion als ein Bezugspunkt für das Bewußtsein, auf das ich reflektiere (nicht für das Bewußtsein, das reflektiert - als solches befindet es sich auf der vorreflexiven Stufe und hat kein Ich). Doch dieses Ich, das während der Reflexion erscheint, ist nur ein Gegenstand und kein Teil des Bewußtseins - es ist "transzendent" ("überschreitet" das Bewußtsein). Ich erfasse es nicht mit Evidenz, sondern nur "als Abschattung". Der Begriff der Abschattung stammt aus der Philosophie Husserls, die Sartres Auffassung in der "Transzendenz des Ego" noch deutlich prägt. Husserl hatte festgestellt, dass wir Objekte niemals ganz, sondern immer nur in Aspekten wahrnehmen, also z. B. maximal drei Seiten eines Würfels gleichzeitig. Ein solcher Aspekt heisst "Abschattung". Da niemals gewiss ist, ob sich die Abschattungen des Objektes, die ich im Augenblick nicht wahrnehme, so präsentieren werden, wie ich es erwarte (der scheinbare Würfel könnte z. B. eine Pyramide sein), ist die Wahrnehmung eines Objektes über Abschattungen prinzipiell unsicher. Husserl benutzt hierfür den Begriff der "inadäquaten Evidenz". Die Wahrnehmung des Würfels über die Seiten, die ich gerade sehe, erfolgt also mit inadäquater Evidenz. - Dasselbe trifft auf das Ich zu, wenn es lediglich ein Gegenstand für das Bewußtsein ist. Das materiale Ich ist nicht im Bewußtsein Wie wir gehört haben, kann das materiale Ich schon aufgrund seiner Undurchsichtigkeit im eben erwähnten Sinn kein Bewußtseinsbestandteil sein. Opak sind lediglich die Objekte, die das Bewußtsein wahrnimmt, aber niemals das Bewußtsein selbst (das sich seiner selbst gerade in der Erfassung eines opaken Anderen bewußt wird). - Sartre beschäftigt sich hier mit einer Theorie der "französischen Moralisten" (bekannter Vertreter La Rochefoucauld, 17. Jh.), die behauptet, dass jeder Bewußtseinsakt (wenn ich begehre, wenn ich aktiv bin) aus Selbstliebe geschieht. Diese Theorie scheint eine Anwesenheit des materialen Ich im Bewußtsein zu implizieren, da nur das materiale Ich Begierden (wie die Selbstliebe) haben kann. Die Selbstliebe gibt sämtlichen Bewußtseinsvorgängen ihr Ziel: Ich begehre z. B. Objekte nur, um diese Selbstliebe (salopp meinen Egoismus oder Narzissmus) zu befriedigen. - Aber lehrt uns nicht die Erfahrung, dass wir Objekte zunächst keineswegs aus Selbstliebe begehren, sondern einfach weil sie uns begehrenswert erscheinen? Die Selbstliebe ist - so die Moralisten - in diesen Fällen zwar unbewußt, aber dennoch der eigentliche Antrieb des Begehrens. Das trifft selbst dann zu, wenn ich mich altruistisch verhalte: Ich helfe dem Hilfsbedürftigen nicht aus Uneigennützigkeit, sondern weil ich damit z. B. die unangenehmen Gefühle beseitige, die mir der Anblick seines hilfsbedürftigen Zustandes macht. Konsequenz diese Theorie ist, dass das Bewußtsein vom materialen Ich abhängig sein muss, da letzteres Träger der Selbstliebe ist. - Ihr Fehler ist nach Sartre, dass sie die reflexive Ebene als einzige Bewußtseinsebene anerkennt. Denn jemandem zu helfen, nicht, weil er hilfsbedürftig ist, sondern weil ich, indem ich ihm helfe, meine Laune verbessere, ist ein Gedanke, der erst in der Reflexion auftauchen kann. Da nun Reflexionen dieser Art in vielen Fällen durch Intuition nicht nachweisbar sind, ist der Moralist gezwungen, sie ins Unbewußte zu verlagern, was uns zu der Konsequenz führt, dass es eine unbewußte Reflexion gibt. Doch das Wesen von Reflexion besteht darin, dass Bewußtsein zum Gegenstand für das Bewußtsein wird - eine unbewußte Reflexion ist also undenkbar, und die Theorie der Moralisten daher widerlegt. Sartre erwähnt noch eine gängige Unterscheidung zwischen dem Ich, das handelt, und dem Ich, das die Einheit der psychischen Zustände und Qualitäten ist. Sartre hält sie für überflüssig: Beide sind lediglich Aspekte ein und desselben materialen Ich. - Dieses Ich befindet sich nicht im unreflektierten Bewußtsein und auch nicht (als Unbewußtes im Sinne der Moralisten) "hinter" ihm als eine Art versteckter Motor. - Welche Rolle spielt es wirklich? Zustände, Handlungen und Qualitäten Sartre unterstellt - wie wir gesehen haben - eine Einheit des Bewußtseins, die sich daraus ergibt, dass Bewußtseinselemente und Augenblicksbewußtseine aufeinander intendieren. Diese Einheit kommt zustande, ohne dass ein formales Ich bemüht werden muss. Sie ist zwar nicht Teil des Bewußtseins, befindet sich aber auf der Ebene des Bewußtseins (ist bewußtseinsimmanent). - Das materiale Ich hingegen ist gleichfalls eine Einheit des Bewußtseins, jedoch eine, die sich nicht auf der Ebene des Bewußtseins befindet, weder als Teil noch als immanente Einheit. Sie ist transzendent. - Wie stellt sich das konkret dar? Man kann Bewußtseinsvorgänge auf verschiedene Art material vereinigen. Eine Möglichkeit besteht darin, zu behaupten, dass sich das Bewußtsein in einem bestimmten Zustand befindet, wie z. B. im Zustand des Hasses. Eine andere besteht darin, verschiedene Bewußtseinsvorgänge unter dem Begriff einer Handlung zusammenzufassen. Und schließlich kann ich dem Bewußtsein eine bestimmte Qualität zusprechen, z. B. die Qualität "eifersüchtig", die gleichfalls als Einheit fungiert. - Das Ich ergibt sich aus der Einheit dieser unterschiedlichen Einheiten, es ist die Einheit der Zustände, Qualitäten und Handlungen eines Bewußtseins. - Zustände, Handlungen und Qualitäten erfasse ich in der Reflexion, ebenso daher das Ich als gesamtes. - Kann ich daraus ableiten, dass das Sein des Ich mit seinem Erscheinen identisch ist, d. h. dass ich aus der Reflexion evidente Erkenntnisse über das materiale Ich gewinnen kann? Sartre leugnet das: Reflexion ist nur solange evident, wie sie sich auf wirkliche Bewußtseinsvorgänge bezieht. Wenn ich ein bestimmtes Gefühl habe, z. B. ein Gefühl starker Abneigung gegen einen Menschen, kann ich mich darin nicht täuschen. Das Gefühl ist Teil des Bewußtseins und als solches transluzide. Wenn ich jedoch dieses Gefühl der Abneigung auf den Hass als Einheit höherer Stufe zurückführe, also z. B. sage "Ich habe jetzt dieses starke Gefühl der Abneigung, weil ich ihn hasse", beziehe ich mich damit auf Sachverhalte, die nicht Teil des Bewußtseins sind. Ich hasse jemanden auch dann, wenn ich gerade gar nicht an ihn denke, also gar kein Bezug des Hasses zu meinem Bewußtsein besteht. - Der Hass erschöpft sich nicht in dem Gefühl der Abneigung, das ich gerade jetzt habe, sondern stellt eine Disposition dar, auch in Zukunft und auf längere Sicht hin solche Gefühle zu haben, wenn ich dem Menschen begegne, der Gegenstand meines Hasses ist. Wir sehen hier, wie es möglich ist, dass die Reflexion uns täuscht. Die Täuschung entspringt einer Vermischung dessen, was ich wirklich durch Intuition erfahren kann, mit Annahmen, die den Geltungsbereich der Reflexion überschreiten. Dieses Phänomen wird in "Das Sein und das Nichts" als "unreine Reflexion" eine wichtige Rolle spielen. - Dass ich jemanden hasse, kann mir die reine Reflexion nicht sagen. Ich kann mein Gefühl der Abneigung gegen einen Menschen noch so genau untersuchen, es kann mich nicht darüber belehren, ob ich in zwei Wochen noch mit derselben Abneigung reagiere. Der Hass als Einheit meiner Abneigungen ist also transzendent und unterliegt denselben Unsicherheiten wie andere transzendente Objekte. - Er ist ein Gegenstand, den mir nicht vollständig vorliegt, ganz ähnlich dem Würfel, dessen Seiten ich wahrnehme. Das Gefühl der Abneigung, das ich momentan habe, ist nichts als eine Abschattung, die auf einen vollständigen Gegenstand verweist. Die Abschattungen - die Gefühle, die ich tatsächlich habe - sind also gegenüber dem Hass primär. Doch auch wenn ich den Hass aus seinen Äußerungen erschließen muss, kann ich nicht trotzdem sagen, dass der Hass (vorausgesetzt, ich habe richtig geschlossen) diese Äußerungen verursacht? So, wie die elektrische Aufladung die Funken verursacht, auch wenn ich deren Anwesenheit erst aus dem Auftreten der Funken gefolgert habe? - Diese Auffassung liegt nahe, wird aber von Sartre abgelehnt. Der Hass kann das Bewußtsein nicht kausal beeinflussen, weil das Bewußtsein überhaupt nicht kausal beeinflusst werden kann. Wir stoßen hier auf die wichtigste Kernthese Sartres, die in "Das Sein und das Nichts" zu überraschenden Konsequenzen führen wird (wie z. B. seiner totalen Ablehnung des psycho-physischen Parallelismus). Das Bewußtsein ist "spontan", d. h. alle Bewußtseinsvorgänge und -zustände sind vollständig unverursacht und alle Versuche, es einer Kausalität unterzuordnen sind für Sartre so irrational wie die Annahme einer Verbindung zwischen den Zeremonien des Regenmachers und dem darauf folgenden Regen. Aus der Spontaneität des Bewußtseins folgt, dass es keinen Hass als verursachende Kraft meiner Abneigung geben kann. Der Verursachungszusammenhang, den der gesunde Menschenverstand zwischen dem Hass und den Abneigungsgefühlen konstatiert, ist ein "magisches" Verhältnis. (Sartre benutzt den Begriff des Magischen häufig, um Fälle zu beschreiben, in denen das Vorurteil Ursache-Wirkung-Beziehungen unterstellt, die in Wahrheit irrational sind.) - Der Hass ist nicht nur keine Kraft, sondern völlig "passiv", weil er gänzlich von seinen Abschattungen abhängt. Der von Sartre gewählte Begriff "Zustand" für den Hass und andere Dispositionen soll diese Passivität ausdrücken. - Man kann allerdings sinnvoll sagen, dass der Hass körperliche Erscheinungen verursachen kann (wie z. B. ein hassverzerrtes Gesicht), insofern die vom Hass zusammengefassten Gefühle solche Erscheinungen verursachen können. Während Bewußtseinsphänomene für Sartre grundsätzlich nicht verursacht werden können, stellt Sartre im konkreten Fall nie in Frage, dass sie physische Phänomene bewirken können. (In "Das Sein und das Nichts" wird er diese Möglichkeit allerdings theoretisch leugnen und eingestehen, dass es Klärungsbedarf gibt.) Das Ich setzt sich nicht nur aus Zuständen zusammen, sondern auch aus Handlungen. Sartre äußert sich nicht weiter zu ihnen, betont jedoch ihre Transzendenz. Aus ihr folgt, was gleich noch von Bedeutung sein wird, die Transzendenz des methodischen Zweifels von Descartes, da dieser eine Handlung ist. - Den Begriff der "Qualitäten" kann man am besten mit "Charakterzüge" übersetzen. Qualitäten sind z. B. Talente, Geschmäcker, Instinkte, Tendenzen (wie z. B. "nachtragend sein"). Aus einem Grund, der mir nicht klar ist, hält Sartre die Zuschreibung von Qualitäten für willkürlich ("fakultativ") und in starkem Masse sozial bestimmt. Er glaubt ausserdem, dass das Ego als Vereinigung von Zuständen und Handlungen ausreicht, und keine weitere Vereinigung von Zuständen und Handlungen zu Qualitäten nötig ist. Das Wort "Ego" ist ein anderer Ausdruck für das materiale Ich, was man im Hinterkopf haben sollte, wenn man die folgenden Ausführungen verstehen will. - Sartre wehrt sich gegen ein naheliegendes Misverständnis, nach dem die Vereinigung von Bewußtseinsereignissen im Ego eine Gruppierung um ein Zentrum ist, wobei das eigentliche Ego dieses leere Zentrum sei. Die Elemente, die das Ego bilden, haben kein Zentrum, sondern bilden in dem Sinne eine Einheit wie eine Melodie eine Einheit aus Tönen bildet: Kein Ton ist für die Einheit "Melodie" wichtiger als ein anderer Ton, aber wenn sich nur ein Ton ändert, ändert sich die ganze Melodie. - Sartre bezeichnet eine solche Einheit als "synthetische Totalität". - Eine andere Einheit, die gleichfalls über eine solche Struktur verfügt, ist die Welt: Das Ego ist die synthetische Totalität der Bewußtseinszustände usw., während die Welt die synthetische Totalität der Objekte für das Bewußtsein ist. Was für Konsequenzen ergeben sich für das Ego aus einer solchen Struktur? - Da es sich aus Einheiten zusammensetzt, die selber transzendent sind, wie Zustände und Handlungen, teilt es deren Unsicherheit. Es kann z. B. bezweifelt werden, dass mein Ego den Hass auf eine bestimmte Person umfasst, da ja nicht sicher ist, ob meine Abneigungen so dauerhaft sind, dass man wirklich von Hass sprechen kann. Auch meine Erinnerungen, aus denen diese Dauerhaftigkeit hervorzugehen scheint, können falsch sein. - Die tatsächliche Zusammensetzung des Ego ist also hypothetisch. Dass ich überhaupt ein Ego habe, ist jedoch nicht hypothetisch, da das Ego lediglich die höchste Einheit meiner Bewußtseinszustände ist, egal, welche Zustände es umfasst. Es teilt also die Evidenz des Bewußtseins für sich selbst: Wenn ich bewußt bin, habe ich auch ein Ego als die transzendente Einheit dieses Bewußtseins (so wie ein Mensch eine Biographie hat, unabhängig davon, was oder wieviel er erlebt hat). Das Vorurteil nimmt nun an, dass das Ego seine Zustände erzeugt, so wie es glaubt, dass der Hass die Abneigungen erzeugt. Wenn ich auf einen Bewußtseinszustand reflektiere, interpretiere ich diesen Zustand gleichzeitig als von einem Ego hervorgebracht. Damit gehe ich natürlich über das hinaus, was mir die Reflexion als sicher garantiert: Ich leiste eine Interpretation, die von der bloßen Erfassung von Bewußtsein durch sich selbst nicht gedeckt wird. Dass diese Interpretation unzutreffend ist, zeigt sich daran, dass das Ego von dem überschritten werden kann, was es zu erzeugen scheint. Eine Handlung, die scheinbar aus meinem Ego hervorgeht, kann dieses Ego verändern. Wenn ich mich z. B. plötzlich als Exhibitionist betätige, aber bis zu diesem Moment ein "moralischer Mensch" gewesen bin, verändert diese Handlung mein Ego und kann in mir vielleicht später Entsetzen über dieses Ego, das ich so nicht kannte, hervorrufen. Während das Bewußtsein wirklich spontan ist, d. h. tatsächlich etwas hervorbringt (siehe oben), ist die Spontaneität des Ego nur scheinbar. - Die scheinbare Reihe Ego -> Zustände ->Bewußtsein verdeckt also die wirkliche Reihe Bewußtsein -> Zustände ->Ego Im Bewußtsein sind Sein und Sich-Erkennen identisch. Diese Transluzidität als solche kann von uns aber nicht wie ein Objekt wahrgenommen werden, da das Sein eines Objektes niemals mit seinem Erscheinen identisch ist: Ein Objekt ist immer mehr als die von ihm wahrgenommene Abschattung. (Das ist auch der Grund für die prinzipielle Unzugänglichkeit des Bewußtseins anderer Menschen.) - Sartre meint nun, dass der Ego-Begriff gerade den Versuch darstellt, die Transluzidität des Bewußtseins als Objekt zu setzen. Das Ego scheint Bewußtsein zu sein, ist aber in Wahrheit opak. Aufgrund dieses Objekt-Charakters kann das Ego nicht nur von seinem Träger, sondern auch von Anderen beurteilt werden. Andere sind für diese Beurteilung sogar geeigneter: Ich selbst habe zu wenig Abstand zu meinem Ich. Die richtige Illustration für diese Problematik der Selbsterkenntnis ist der Wald, den man - wenn man unmittelbar davor steht - vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Z. B. ist Anderen meine Reaktion auf eine bestimmte Person über einen längeren Zeitraum vielleicht deutlicher als mir selbst, so dass Andere mit mehr Recht als ich selbst feststellen könnten, dass ich diese Person hasse. Da die Totalität des Ego auch meine zukünftigen Bewußtseinszustände umfasst, ist es eine ideale und keine reale Totalität. Es hat das mit allen anderen Bewußtseinsobjekten gemeinsam. Die Annahme, dass eine Wahrnehmung Abschattung eines Objektes ist, verweist auf unendlich viele Abschattungen, die ich in der Zukunft wahrnehmen könnte. Objekte sind also immer ideale Einheiten. Sartre nimmt noch einen möglichen Einwand vorweg: Wenn wir im präreflexiven Bewußtseinsmodus z. B. eine Arbeit ausführen, kommt es vor, dass wir Sätze in der 1. Person äußern, wie z. B. "Ich tue gerade das-und-das." Folgt daraus nicht, dass das Ego schon auf der präreflexiven Ebene vorhanden sein muss? - Sartre leugnet das: Das "Ich" in solchen Sätzen entspricht keiner Bewußtseinsintuition des Sprechenden, es ist nur eine Leerstelle. Sartre kommt noch einmal auf das Ego in Descartes "Cogito ergo sum" zurück: Dass man während der Reflexion immer auf das Ich stößt, ist zwar eine Erfahrungstatsache, aber keine Notwendigkeit. Die Reflexion richtet sich ja lediglich auf das Bewußtsein selbst, während das Ich transzendentes Objekt ist. In Descartes’ Cogito stellt das Ego also eine Verunreinigung dar. Woher stammt es? - Sartre meint, dass es die Motivation des Reflektierenden ist, die das Ego in die Reflexion hineinträgt. Descartes Motivation z. B. war der methodische Zweifel. - Da nun eine Reflexion ohne dahinterstehende Motivation kaum möglich erscheint, ist das Erscheinen des Ich in der Reflexion eine praktische Notwendigkeit, obwohl eine Reflexion ohne Ego durchaus denkbar ist. Wir bemerken hier eine Schwierigkeit, die uns noch häufiger begegnen wird: Der methodische Grundsatz, dass sich evidente philosophische Erkenntnisse durch Intuition / Introspektion gewinnen lassen, lässt eigentlich nicht erwarten, dass es zu Uneinigkeiten über die Ergebnisse der Methode kommen kann. Dennoch zieht Descartes im vorliegenden Fall eine ganz andere Evidenz aus dem Cogito als Sartre. Nach Sartres Einschätzung läßt seine Theorie des Ego die Abgrenzung zwischen Phänomenologie und Psychologie klar hervortreten: Die Psychologie beschäftigt sich mit Objekten, die intersubjektiv zugänglich sind. Das Bewußtsein ist - im Unterschied zum Ego - kein solches Objekt, da es nur in der Reflexion des Einzelnen erfasst werden kann. Seine Beschreibung ist daher nicht Aufgabe der Psychologie, sondern der Philosophie in Gestalt der von Husserl geprägten Phänomenologie - die als traditionelle Bewußtseinsphilosophie, wie bereits erwähnt, auf die Introspektion als Verfahren angewiesen ist. Noch bleibt zu klären, wie es zu dem Vorurteil kommt, dass das Ich die Zustände und die Zustände die Bewußtseinsphänomene hervorbringen, wenn es doch in Wahrheit genau umgekehrt ist. Der Grund dafür liegt darin, dass die Spontaneität des Bewußtseins für das Bewußtsein selbst beunruhigend ist. Ich bin ihr in schicksalhafter Weise unterworfen. - Man beachte, dass Sartre hier die Spontaneität noch nicht mit der Freiheit gleichsetzt, wie er es später in "Das Sein und das Nichts" tun wird. - Sartre verweist auf psychiatrische Krankheitsbilder, die man heute mit dem Begriff "Zwangsgedanken" assoziieren würde: Menschen leiden unter der panischen Angst, sie könnten plötzlich etwas Absurdes oder Amoralisches tun (z. B. eine exhibitionistische Handlung ausführen), ohne dass es einen konkreten Anlass für diese Angst gibt. Sartres Erklärung für dieses Phänomen ist, dass diese Menschen sich darüber klar geworden sind, dass ihr Bewußtsein spontan ist: "Das Bewußtsein erschrickt vor seiner eigenen Spontaneität, weil es sie jenseits der Freiheit fühlt." Die Täuschung erklärt sich dann als eine Fluchtreaktion des Bewußtseins vor dieser unerträglichen Erkenntnis (die denjenigen, der sie hat, "in den Wahnsinn treiben" kann). Die beunruhigende Spontaneität des Bewußtseins wird in das Ego projiziert, das durch seinen Objektcharakter in größerer Distanz zu mir ist als das Bewußtsein, das ich bin. Das Ego kann ich für frei halten, während die Bewußtseinsspontaneität jenseits von frei oder unfrei ist (man sollte im Kopf behalten, dass Sartre in "Das Sein und das Nichts" anders darüber denkt!) und mir als unentrinnbare Determination meiner selbst erscheint. - Da das Bewußtsein sich jedoch in jeder Reflexion sofort als spontan und unabhängig vom Ich erkennt, kann diese Flucht niemals vollständig und dauerhaft glücken. - Die Beschreibung solcher Fluchtmanöver wird in "Das Sein und das Nichts" einen grossen Raum einnehmen. Zuletzt erklärt Sartre seine Theorie noch zur einzig möglichen Widerlegung des Solipsismus. - Der Solipsist, so Sartre, konnte im Sinne von Descartes mit der Unbezweifelbarkeit seines Ich argumentieren: Zwar existiert mein Ich mit Evidenz, an die Existenz anderer Dinge (und Ichs) muss ich deswegen aber noch lange nicht glauben. - Sartres Wiederlegung setzt bei seiner These an, dass das Ich transzendentes Objekt ist: Es steht auf derselben Stufe wie die anderen Objekte der Welt und kann daher nicht mehr oder weniger bezweifelt werden als diese. - Die Argumentation wirkt nicht überzeugend: Sartre hat selbst zuvor konstatiert, dass zwar die Zusammensetzung des Ego bezweifelbar ist, aber nicht das Ego selbst, da es als ideale Einheit des Bewußtseins an dessen Unbezweifelbarkeit teil hat. - Es scheint also so, als könne der Solipsist immer noch mit der Unbezweifelbarkeit seines Ich argumentieren, wenn er nur darauf verzichtet, bestimmte Eigenschaften dieses Ich zu behaupten. - Sartre selbst wird sich in "Das Sein und das Nichts" von dem hier geäußerten Argument distanzieren. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Einleitung: Auf der Suche nach dem Sein "Das Sein und das Nichts" erschien 1943 in Paris unter deutscher Besatzung. Konzipiert wurde es von Sartre u. a. während seiner Militärdienstzeit und später in deutscher Kriegsgefangenschaft. (Bei vielen der Beispiele "aus dem Leben", die Sartre zur Untermauerung seiner Thesen anführt, sollte man diesen Zeithorizont mitdenken.) Zweck der Einleitung des Werkes ist es, von der phänomenologisch / husserlschen Grundlage, auf der Sartre argumentiert, zur Lehre vom Sein überzuleiten, einem Konzept, dass Sartre von Husserls Schüler Heidegger als Erweiterung der Phänomenologie übernimmt. - Was ist Phänomenologie? Der Begriff bezieht sich auf ein von Husserl entwickeltes und von Husserls Nachfolgern variiertes Konzept, nach dem die Aufgabe der Philosophie - grob gesagt - die Beschreibung dessen ist, was ohne die Beteiligung von Erfahrung evident erfassbar ist. Auf dieser Basis soll dann die Grundlegung der Einzelwissenschaften erfolgen. Da der Begriff häufig für ganz verschiedene philosophische Theorien verwendet wird, die auf einer phänomenologischen Basis entwickelt wurden, ist er nicht besonders eindeutig. Die Lehre von den Abschattungen als Ergebnis der Husserlschen Phänomenologie haben wir bereits kennengelernt. Wer "Das Sein und das Nichts" liest, stößt auf zahlreiche Gedankengänge, die an Konzepte Heideggers aus "Sein und Zeit" erinnern. Ich möchte hier auf die Hauptdifferenz der beiden Ansätze hinweisen: Sartres Philosophie behält den Charakter einer Bewußtseinsphilosophie, und bleibt in dieser Hinsicht in der Nähe Husserls, während Heidegger das Bewußtsein aus seinen Untersuchungen völlig ausklammert. Der erste Satz von "Das Sein und das Nichts" konstatiert, dass "das moderne Denken" (Sartre meint damit nur die Phänomenologie Husserls - ich habe kein Indiz dafür gefunden, dass er z. B. den Wiener Kreis zur Kenntnis genommen hat) eine Reihe von Dualismen, die in der Philosophiegeschichte eine Rolle spielten, auf einen einzigen Dualismus reduzieren konnte und so scheinbar den Vorteil theoretischer Ökonomie hat. Um dieser Argumentation folgen zu können, muss man sich die Rolle der Erscheinung in der Husserlschen Lehre vor Augen führen: Wie bereits erwähnt, wird ein Ding über seine Abschattungen (= Erscheinungen) wahrgenommen. Die Abschattung (die sichtbaren Seiten des Würfels) ist das, was dem Bewußtsein wirklich vorliegt, dem Ding (dem Würfel), das von ihr angezeigt wird, kommt nur eine ideale Existenz zu. Was für eine Existenz ist das? - Das Ding steht einfach für die gesamte Reihe seiner möglichen Abschattungen (also für alle Aspekte, die ich von einem Würfel sehen könnte). - Nun weiss ich, wenn ich die Abschattung, die mir vorliegt, als Erscheinung eines bestimmten Dings identifiziere, mit welchen anderen Abschattungen ich zu rechnen habe, und welche ausgeschlossen sind. (Ich weiss, dass der wahrgenommene Würfel auf der Rückseite nicht halbkugelförmig ist, wenn ich ihn umdrehen sollte.) - Die Abschattungen eines bestimmten Dings folgen also einer bestimmten Regel. Von dieser Regel kann man sagen, dass sie das Wesen des Dings bildet. Nach einer weitverbreiteten Auffassung zeigen mir die Gegenstände lediglich eine Aussenseite, haben aber daneben noch eine Innenseite, die ich nur erschliessen kann. So nehme ich die Wirkungen des elektrischen Stromes wahr, z. B. Magnetismus, Lichterscheinungen usw. aber nicht diesen selbst: Der Strom selbst befindet sich "im Inneren" und die wahrnehmbaren Phänomene, die er hervorruft, spielen sich nur auf der Oberfläche ab. - Dieses Beispiel Sartres ist insofern irreführend, als es sich bei naturwissenschaftlichen "Gegenständen" wie dem elektrischen Strom, um Gegenstände handelt, die von vorneherein als nicht-wahrnehmbar, als "innerlich" konzipiert werden, um das Verhalten wahrnehmbarer Gegenstände zu erklären. Doch wie steht es um die Dinge, die ich wahrnehmen kann? Haben auch sie eine verborgene Innenseite? Hier denkt Sartre an die Kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich. Das Ding, dass mein Geist durch Anwendung der Denk- und Anschauungsformen auf das Datenmaterial der Sinne konstituiert hat, kann mit dem "eigentlichen Ding" nicht identisch sein, da ja alles, was ich über das Erscheinungs-Ding sagen kann, aus meinem eigenen Geist stammt. Hinter der Erscheinungswirklichkeit steht also eine andere Wirklichkeit, das "Ding-an-sich", das Innere des Seins im Unterschied zu der Aussenseite des Seins, die mir in der Erscheinung vorliegt. - Der Gegensatz "Äußeres / Inneres" umfasst also auch den Gegensatz "Erscheinung / Sein". "Potenz" kann man als Möglichkeit, "Akt" als verwirklichte Möglichkeit übersetzen. Der Begriff "Möglichkeit" ist aber doppeldeutig: Gemeint ist hier die Realmöglichkeit, nicht die bloß logische Möglichkeit. Eine Marmorstatue "in Potenz" ist die reale Möglichkeit eines Marmorblocks, aber keine reale Möglichkeit einer Badewanne voll Wasser, da ich eine Statue zwar aus Marmor herausmeisseln kann, aber aus Wasser mit den bisher bekannten Methoden nicht. (Natürlich ist aber eine Welt denkbar, in der es solche Methoden gibt, so dass in dieser Welt die Statue reale Möglichkeit des Wassers wäre.) - Wenn eine Statue tatsächlich aus irgendetwas herausgemeisselt wurde, ist sie nicht mehr "in Potenz", sondern "in actu". Dieser Dualismus wurde von Aristoteles eingeführt. Er hielt ihn für die notwendige Voraussetzung, um zu Begriffen wie Veränderung oder Werden zu gelangen. Problematisch daran ist, dass nicht ganz klar ist, in welchem Sinne das potenzielle Ding bereits existiert: Die Statue "in actu" existiert, nachdem ich sie aus dem Marmor gemeisselt habe. Doch die Statue "in Potenz", muss es sie nicht vorher auch schon irgendwie gegeben haben? (Hier ist die Statue ein schlechtes Beispiel, da sie ein "Ausschnitt" des Marmorblockes ist, der in einem ganz realen Sinne im Marmor schon enthalten war. Man denke stattdessen z. B. an eine Eichel, in der ein potentieller Baum steckt.) Das "Wesen" meint hier nur das, was ein Ding wirklich ist und nicht das Wesen im Husserlschen Sinne. - Der wichtige Punkt hier ist einfach, dass wir nach der traditionellen Auffassung nie vollständig wissen können, was ein Ding ist, da unsere Erkenntnis der Dinge begrenzt ist. Die Erscheinung der Dinge für uns steht also im Gegensatz zu ihrem Wesen, das uns grösstenteils verborgen ist, und bildet so mit ihm eine weitere Dualität. - In der Folge wird Sartre beschreiben, in welchem Sinne die Phänomenologie diese zahlreichen Dualitäten auf eine einzige Dualität zurückführt. Auflösung der Dualitäten in die Dualität Endlich / Unendlich Aussen und innen gibt es für die Phänomenologie nicht mehr, da die Erscheinungen nur noch auf andere Erscheinungen verweisen (die Aspekte, die ich wahrnehme, auf die Aspekte, die ich wahrnehmen könnte) und nicht mehr auf ein dahinterstehendes Ding-an-sich oder eine nicht-wahrnehmbare naturwissenschaftliche Entität. - Wie Sartre bezogen auf letzteres sagt: Der elektrische Strom ist nur die Gesamtheit seiner Wirkungen. Potenz und Akt verschwinden ebenfalls: Die im Marmorblock steckende Statuenpotenz ist einfach die Gesamtheit der Statuen, die sich aus ihm herstellen lassen. Sartre erwähnt als anderes Beispiel den jungen Marcel Proust, der nicht die Werke, die er mal schreiben wird, in Potenz enthält, sondern dessen Potenz sich ausschließlich in den Werken äußert, die er tatsächlich schreiben wird. - Ebenso löst sich der Gegensatz Wesen / Erscheinung auf: Das Wesen ist die Regel, der die Reihe der Abschattungen eines Dings folgt. (Wenn es zum Wesen dieses Dings gehört, dass es ein Würfel ist, äußert sich das darin, dass in der Reihe der Abschattungen des Dings keine Halbkugel vorkommen kann.) Doch beinhaltet die Theorie der Abschattungen nicht ebenfalls eine Dualität? Es gibt doch offenbar einen Gegensatz zwischen den Abschattungen, die mir tatsächlich vorliegen, und den Abschattungen, die mir der Gegenstand darbieten könnte. Sartre bezeichnet diese Dualität als die Dualität Endlich / Unendlich, weil er die Gesamtmenge der Abschattungen eines Dings für unendlich gross hält. - Das ergibt sich aus zwei Gründen: Zum einen ist es denknotwendig, dass eine bestimmte Abschattung, die schon einmal da war, erneut auftreten können muss (die Seiten des Würfels, die ich schon gesehen habe, muss ich beliebig oft sehen können). Zum anderen kann der Wahrnehmende selbst gegenüber einer bestimmten Abschattung unendlich viele Gesichtspunkte einnehmen, was aus einer einzigen Abschattung allein bereits eine Unendlichkeit macht. - Das zweite Argument habe ich nicht verstanden: Was ist ein Gesichtspunkt, den man gegenüber einer Abschattung einnehmen kann? Restauration der alten Dualismen aus diesem neuen Dualismus Jedes Ding entspricht also einer Unendlichkeit möglicher Erscheinungen. In diesem Gegensatz Erscheinung / Unendliche Reihe - und das heisst ideale, mir als endlichem Wesen nicht zugängliche - Reihe der Erscheinungen findet sich offensichtlich der alte Gegensatz Aussen / Innen wieder. Der Gegensatz Potenz / Akt ist gleichfalls noch unter den Lebenden, da eine Erscheinung offenbar die Potenz zu einer ganzen Erscheinungsreihe besitzt (eine mögliche Abschattung ist in Potenz, wenn sie sich realisiert, ist sie in Actu). Und schließlich steht das Wesen, als Regel der möglichen Reihe der Erscheinungen immer noch im Gegensatz zur einzelnen Erscheinung. Es ergibt sich also, dass die theoretische Ökonomie der Phänomenologie, die sich aus der Beseitigung der Dualismen ergibt, nur scheinbar ist. - Doch Sartre bleibt bei dieser negativen Feststellung nicht stehen: Er sieht in der phänomenologischen Erscheinungslehre einen anderen Fortschritt verwirklicht, der ihm viel wesentlicher erscheint: Während das Ding-an-sich Kants das eigentlich Existierende war, auf dem die Existenz der Erscheinung nur parasitär aufsetzte, wird jetzt in Sartres Ausdrucksweise "das Sein der Erscheinung von keinem anderen Sein mehr getragen." Und hier erleben wir den Übergang von der Phänomenologie zur Ontologie, der Lehre vom Sein. Exkurs: Sartres mehrdeutiger Seinsbegriff Dass das Sein der Erscheinung von keinem anderen Sein mehr getragen wird, scheint eine unproblematische Aussage zu sein. Es existieren primär Abschattungen, und die Dinge selbst, deren Erscheinungen sie sind, ergeben sich sekundär als Begriffe, die sich auf Mengen von Abschattungen beziehen: Der Begriff "Sein" kann hier mit "Existenz" gleichgesetzt werden. - Doch nun spricht Sartre plötzlich vom "Seinsphänomen". Es gibt ein Seinsphänomen, dass uns unmittelbar zugänglich werden kann (z. B. durch "Ekel" oder "Langeweile"). - Dinge, die existieren, können uns zugänglich werden, aber die Existenz von Dingen als solchen? Ich kann den Satz "Wenn es Dinge der Kategorie A gibt, folgt daraus, dass es auch Dinge der Kategorie B gibt" wie folgt ausdrücken: "Aus der Existenz von Dingen der Kategorie A folgt die Existenz von Dingen der Kategorie B." Der zweite Satz ist offenbar völlig bedeutungsgleich mit dem ersten und nichts berechtigt zu der Annahme, dass das Wort "Existenz" sich auf einen besonderen Gegenstand bezieht. Wenn dem so wäre, müsste der zweite Satz die bessere Formulierung sein, und der Satz "es gibt Dinge" geschickt verschleiern, dass er in Wahrheit nicht nur von Dingen, sondern auch noch von einem Gegenstand "Existenz" handelt (geschickt deshalb, weil der Satz völlig einfach zu sein scheint). - Das ist nicht sehr plausibel. Die alltägliche Verwendung des Wortes "Existenz" ist also kein Argument dafür, dass es einen Gegenstand "Existenz" gibt. - Doch vielleicht gelangt man auf andere Weise dahin. Stellen wir uns einen beliebigen Gegenstand vor, z. B. ein Blatt Papier auf meinem Tisch. Dieser Gegenstand hat Eigenschaften. Das Blatt Papier ist z. B. weiss, leicht, flach usw. - Denken wir uns nun diese Eigenschaften weg, das weiss-sein, das leicht-sein, das flach-sein, das auf-dem-Tisch-liegen usw. - ist das, was übrigbleibt, nicht die blosse Existenz des Blatts Papier, sein Sein ? Den Satz "Auf meinem Tisch liegt ein Blatt Papier" läßt sich relativ zwanglos umformen in den Satz "Es gibt ein Blatt Papier, dass auf meinem Tisch liegt." Noch etwas formaler kann man sich so ausdrücken: "Es gibt einen Gegenstand, für den gilt: Er ist flach, weiss, leicht usw. und liegt auf meinem Tisch." Widerhole ich nun das Experiment von eben, und ziehe sämtlich Eigenschaften des Blattes Papier ab, so gelange ich zu "Es gibt einen Gegenstand" - was offenbar gar nichts ist. Wenn "Es gibt ein X, für das gilt ..." sinnvoll ist, folgt daraus nämlich nicht dass auch der Satz "Es gibt ein X" sinnvoll ist. Der Begriff Gegenstand als Träger der Eigenschaften des Blattes Papier ist völlig leer (so dass man ihn durch ein X ersetzen kann). "Es gibt einen Gegenstand" ist also kein Satz, sondern lediglich das Fragment eines Satzes, dass erst durch Hinzufügung von einer oder mehreren "für den gilt ..."-Klauseln eine Aussage wird. Der Versuch, das Sein des Gegenstandes durch Abzug seiner Eigenschaften zu gewinnen, scheitert also: Es bleibt nicht das Sein des Gegenstandes übrig, sondern bestenfalls seine "X-heit". - Man könnte jetzt denken, dass der Fehler des Experimentes vielleicht darin lag, dass es zu weit ging. Vielleicht gehörte die Existenz des Blattes ja zu den von uns weggedachten Eigenschaften! - Diese Auffassung, die das Sein als Eigenschaft erklärt, liegt bekanntlich dem ontologischen Gottesbeweis zugrunde. Akzeptieren wir sie, scheint es kein größeres Problem mehr zu sein, zu einem Gegenstand "Sein" zu kommen. Ich kann von dem Sein des Papiers genauso sprechen, wie von seiner Farbe. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist etwas Universalienrealismus - das heisst, die Annahme, dass Eigenschaften auf existierende abstrakte Gegenstände verweisen, das Weiss des Papiers z. B. auf "die Weisse". Doch leider verhält es sich so, dass die Interpretation der Existenz eines Dings als einer Eigenschaft dieses Dings seit Kants Auseinandersetzung mit dem "ontologischen Gottesbeweis" zu den am einhelligsten abgelehnten philosophischen Auffassungen überhaupt gehört. - Ich möchte dazu nur folgendes anführen: Obwohl die Aussage "die Rose ist existent" so ähnlich aussieht wie die Aussage "die Rose ist rot" ist diese Ähnlichkeit nur scheinbar. "Die Rose ist existent" ist nämlich unformbar in ein Konstrukt von der Art "Es gibt einen Gegenstand, der die Eigenschaften einer Rose hat." Die Umformung zeigt, dass das "Es gibt" nicht selber eine der Eigenschaften analog zur Röte der Rose ist. Gäbe es übrigens einen Gegenstand "Sein", so würde die Schwierigkeit entstehen, dass man vom Sein dieses Gegenstandes reden könnte (worauf schon Husserls Lehrer Franz Brentano hingewiesen hatte). Es gäbe das Sein des Seins des Seins usw., das heisst also nicht nur einen Gegenstand "Sein" sondern eine unendliche Zahl von Seinsgegenständen. Dieser infinite Regress ist eine weitere Widerlegung der Auffassung, dass Sein ein Gegenstand ist. - Es ist also unmöglich, Existenz wie einen Gegenstand zu behandeln. Sartre scheint aber genau das zu tun, wenn er davon spricht, dass es ein "Seinsphänomen" und darüber hinaus ein transphänomenales Sein gibt. - Wovon spricht er also wirklich? Um vorzugreifen: Sartres Seinsbegriff schwankt zwischen zwei grundlegenden Bedeutungen. Wenn Sartre in "Das Sein und das Nichts" von "Sein" spricht, kann er damit meinen: 1. Die Existenz (im üblichen Sinne) 2. Eine Art Stoff der Existenz, an dem existierende Dinge teilhaben. Was die Sache noch komplizierter machen wird, ist seine Unterscheidung zweier Unterarten des Seins (das Sein-an-sich und das Sein-für-sich). - Ich werde den Begriff "Sein" in meiner Darstellung nach Möglichkeit vermeiden (er kommt trotzdem noch häufig genug vor) und in den nächsten Abschnitten anmerken, welche Bedeutung von "Sein" Sartre gerade im Sinne hat. - Die Mehrdeutigkeit des Begriffs stellt meines Erachtens eine zentrale Schwäche des Werkes dar. Trotzdem lassen sich Sartres Argumentationen recht klar herausarbeiten, wie sich hoffentlich zeigen wird. Sartre geht von der Feststellung, dass die Erscheinung eine eigene und nicht nur eine abgeleitete Existenz hat, zu der Frage nach dem Sein als Phänomen über. - Da die Erscheinung eines Tischs z. B. eine Menge von Abschattungen ist, die auf eine ideale unendliche Reihe von Abschattungen verweisen, die das Objekt "Tisch" bilden, müsste es beim Sein so ähnlich sein, wenn das Sein ein Phänomen ist - so sollte man meinen. Doch diese Integration in das Abschattungen-System Husserls scheitert daran, dass mir lediglich existierende Abschattungen von ebenfalls (hypothetisch) existierenden Objekten vorliegen, aber keine Existenz-Abschattungen, die auf ein Objekt Existenz verweisen. - Im Husserlschen System kann es offenbar kein Seinsphänomen geben. Trotzdem beharrt Sartre darauf, dass es dieses Phänomen gibt und begründet das mit der Tatsache, dass wir davon sprechen können, also ein Vorverständnis davon haben müssen. Wir sollten davon ausgehen - und es gibt einige Stellen im Werk, an denen explizit so argumentiert wird - dass Sartre hier Heidegger folgt und weniger an die Verwendung der Substantive "Sein" oder "Existenz" denkt, sondern eher an die Verwendung des Hilfsverbes "sein", also z. B. an "ist"-Sätze wie "Hans ist doof". Heidegger geht davon aus, dass die Verwendung solcher Sätze immer ein Vorverständnis des Seins als Gegenstand impliziert (und wurde deswegen heftig kritisiert, weil die tatsächliche Funktionsvielfalt des Wortes "ist" unter den Tisch fällt). Mit seiner Anspielung auf den "Ekel" deutet Sartre an, dass man der Erscheinung des Seins vielleicht nicht auf übliche Weise über die Sinnesorgane nahekommt, sondern durch eine Art Grundstimmung, die auftreten kann, wenn man mit ganz normalen Objekten seiner Umgebung konfrontiert ist. Dem Helden von Sartres gleichnamigen Roman wiederfährt das (Sartre hat die "existentielle Erfahrung", die er dort beschreibt, übrigens nicht selbst erlebt, wie aus seinen Kriegstagebüchern hervorgeht). - Er erläutert das aber an dieser Stelle nicht weiter (eine ausführliche Betrachtung des "Ekels" findet sich in Sartres Diskussion des Körpers). Kann das Sein mit diesem Seinsphänomen identisch sein? Offenbar nicht, da das Seinsphänomen selber Existenz hat, die wiederum nicht mit dem Seinsphänomen identisch sein kann. Sartre gelangt zu der Schlussfolgerung, dass das Sein selbst kein Phänomen ist (auch wenn es neben ihm noch ein Seinsphänomen gibt). Da alle Erkenntnis über Phänomene erfolgt, muss das Sein also über die Erkenntnis hinausgehen. - (Was natürlich die Frage an Sartre hervorruft, wie etwas, das nicht erkannt werden kann, Gegenstand einer eigenen Wissenschaft - der Ontologie - sein kann.) Aber zunächst beschäftigt sich Sartre mit der Möglichkeit, dass es gar kein Sein gibt, sondern nur Phänomene. Er identifiziert diese Auffassung mit der ur-idealistischen Theorie Berkeleys, dessen Schlagwort "esse est percipi" - also "Sein ist Wahrgenommenwerden" war. Das Sein ist nach dieser Theorie nichts als die Erkenntnis des Seins. Das läuft darauf hinaus, dass gar nichts existiert, was sich natürlich selbst ad absurdum führt: Wenn alle Existenz in Wahrheit Erkenntnis ist, ist auch die Erkenntnis in Wahrheit nur Erkenntnis von Erkenntnis, jedes Phänomen nur Phänomen eines Phänomens. Es gibt keinen fixen Punkt mehr, an dem man das System aufhängen kann: Wenn alles Illusion ist, so auch, dass alles Illusion ist. - Sartre kommt zu der Schlussfolgerung, dass man nicht vermeiden kann, die Existenz für "transphänomenal" zu halten, also für etwas, das jenseits des Erscheinens ist. Wir wissen also jetzt, dass es ein transphänomenales Sein geben muss, wissen aber noch nicht, wo wir das Sein finden. - Das Problem kann vielleicht so übersetzt werden (bis jetzt ist "Sein" immer noch als "Existenz" interpretierbar): Irgendetwas muss existieren. Findet sich dieses Existierende auf der Seite des Subjekts oder ausserhalb davon, in der Sphäre der Objekte? - Sartre diskutiert zuerst die subjektive Lösung, den Idealismus. - Aber wurde nicht soeben die Absurdität des Idealismus bewiesen? - Doch der fatale Einwand, der sich gegen dessen radikale Version, die sich in "esse est percipi" ausspricht, erheben läßt, trifft nicht alle Varianten des Idealismus. Die Position muss nur etwas eingeschränkt werden: Alles ist Phänomen, mit der Ausnahme des wahrnehmenden Subjektes, das wirklich existiert. Dass das Subjekt wirklich existiert, scheint eine starke Stütze im "ich denke, also bin ich" von Descartes zu haben. Descartes führte in seinem berühmten Gedankenexperiment sich selbst vor, dass er an allem zweifeln kann, nicht aber an sich selbst. - Wir erinnern uns, dass Sartre in der "Transzendenz des Ego" das "ich" in "ich denke, also bin ich" als das empirische Ich (das Ego) desjenigen, der das Experiment durchführt, enthüllt. Dieses Ich erscheint erst durch eine Art Kontamination, während ich reflektiere, und ist im unreflektierten Bewußtsein nicht vorhanden. Descartes liefert also keine Stütze dafür, dass wir im Subjekt die Existenz finden, wenn wir diese Existenz mit der Existenz des Ich gleichsetzen. An dieser Stelle nimmt Sartre die Unterscheidung der zwei Bewußtseinsebenen wieder auf. - Während das Bewußtsein auf der ersten Ebene (Bewußtsein 1. Grades, präreflexives Cogito) intentional "nach draussen" gerichtet ist, ist es gleichzeitig Bewußtsein von sich. Das, was das Bewußtsein in der Aussenwelt anvisiert, ist ein vom Bewußtsein unabhängiges Objekt. Diese Unabhängigkeit des Objektes vom Bewußtsein (seine "Transzendenz") hält Sartre für eine zwingende Annahme, weil das Objekt, wie erwähnt, die ideale unendliche Reihe der Abschattungen ist. Sartre konstatiert, dass das Bewußtsein sich anderenfalls "in einem unendlichen Prozess" verlieren würde. Was meint er damit? - Dass eine Unendlichkeit im Bewußtsein auch eine unendliche Zahl von Bewußtseinsvorgängen erfordern würde, so dass z. B. eine Wahrnehmung nicht mehr in endlicher Zeit ablaufen könnte. Das Bewußtsein von sich auf der präreflexiven Ebene kann aber keine Erkenntnis sein. Anderenfalls müsste auch diese Erkenntnis (da Erkenntnis ja bewußte Erkenntnis ist) wieder erkannt werden, usw., so dass sich auch hier eine Unendlichkeit von Bewußtseinsvollzügen ergeben würde. Der Bezug des Bewußtseins zu sich selbst ist, so Sartre, nicht kognitiv, sondern unmittelbar. Da Erkenntnis einen Gegenstand "setzt", ist das Bewußtsein von sich "nicht setzend". - Dass Bewußtsein trotzdem immer Bewußtsein von sich selbst ist, ergibt sich für Sartre schlicht aus der Transluzidität des Bewußtseins. Ein Empfindung (z. B. eine Empfindung von rot) ist Teil meines Bewußtseins, weil sie mir eben bewußt ist. Wenn sie mir nicht bewußt ist, ist sie kein Teil meines Bewußtseins und auch keine Empfindung - was darauf hinausläuft, dass es kein unbewußtes Bewußtsein geben kann. - Wie man sich denken kann, wird sich zeigen, dass Sartre kein Anhänger Sigmund Freuds ist. Die Existenz geht der Essenz voraus Man beachte, dass Sartre diejenigen Entitäten, die man normalerweise als Bewußtseinsphänomene bezeichnet (wie Empfindungen oder Absichten) nicht für Eigenschaften des Bewußtseins hält, die quasi nachträglich zu ihm hinzukommen, ohne sein Wesen zu betreffen (wie es z. B. für das ein-Körper-sein eines physikalischen Körpers belanglos ist, ob er 2 Kilogramm schwer ist). Sie bilden seiner Auffassung nach vielmehr das Wesen des Bewußtseins selbst. Was ist das Wesen eines Dings? Sein Was-Sein, dem man üblicherweise sein Dasein (seine Existenz) entgegenstellt. Es gehört z. B. zum Wesen eines (physikalischen) Körpers, dass er ausgedehnt ist, völlig gleichgültig, ob es wirklich einen Körper gibt. Es gehört zu seinem Wesen heisst, dass ein Körper genau so definiert ist. Es gehört zum Wesen einer grünen Giraffe, einen langen Hals zu haben (es ergibt sich aus dem Begriff "Giraffe"), auch wenn es nirgendwo auf der Welt eine grüne Giraffe gibt. - In der Husserlschen Philosophie der Abschattungen liess sich das Wesen, wie wir gesehen haben, mit der Regel identifizieren, der die möglichen Abschattungen eines Dings folgen müssen. Nach Sartres Auffassung gehören also, wenn ich gerade Kopfschmerzen habe, diese Schmerzen zum Wesen meines Bewußtseins. Das scheint nicht sehr plausibel zu sein. Ich kann doch offenbar von einem Bewußtsein reden, ohne zu wissen, ob dieses Bewußtsein gerade im Zustand des Schmerzes ist oder nicht. Es wäre denkbar, dass es zum Wesen des Bewußtseins gehört, im Zustand des Schmerzes sein zu können, aber wie sollen diese Schmerzen gerade jetzt zu seinem Wesen gehören? Und folgt daraus nicht, dass jedes Individual-Bewußtsein sein eigenes Wesen hat (dass sich noch zudem dauernd ändert), so dass ein Allgemeinbegriff "Bewußtsein" sinnlos ist? Sartre drückt sich so aus: "Das Was-sein (essentia) dieses Seienden [des Bewußtseins] muss, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden." Womit er sagen will, dass das Bewußtsein zuerst existiert, und dann erst sein Wesen erhält (genauer gesagt, selbst erzeugt). - "Zuerst" und "dann" verweisen hier nicht auf eine zeitliche, sondern eine logische Ordnung. Wenn man Sartres Argumentation verstehen will, sollte man an die Intentionalität des Bewußtseins denken. Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas, d. h. hat immer einen Inhalt. Ein leeres Bewußtsein kann es nicht geben, ist gar nicht denkbar. Gleichzeitig ist Bewußtsein für Sartre aber auch völlig spontan, d. h. was die Inhalte des Bewußtseins sind, ist nirgendwo festgelegt. Es gibt also nicht zuerst ein leeres Bewußtsein als definierbares Ding, das sich dann mit Inhalten füllt (wie z. B. ein Fernsehbildschirm bereits vor den Bildern existiert, die erscheinen, sobald man das Gerät erstmalig einschaltet), sondern das Bewußtsein taucht mit seinem ersten Inhalt zusammen auf und hat vorher nicht existiert. Dieser Inhalt ist aber aufgrund der Spontaneität sozusagen beliebig und kann daher auch nicht zu einer Definition benutzt werden, die der Existenz vorausginge (wie es z. B. möglich sein würde, wenn Bewußtsein notwendig Bewußtsein von Schmerzen wäre). - Insofern gibt es also tatsächlich nur Individualbewußtseine! Ein weiterer Aspekt von Sartres Schlagwort wird deutlich, wenn wir einen Vorausblick auf den vierten Teil des Werkes werfen. Dort äußert Sartre über die Freiheit, dass sie kein Wesen haben kann, weil sie "nicht konstituiert" ist. - Was bedeutet "Konstitution"? Der Begriff meint die Erzeugung von Objektivität durch das Bewußtsein, indem z. B. aus gegenwärtigen Abschattungen und den Abschattungen, mit denen ich noch rechne, das Objekt Würfel entsteht. Und warum kann etwas, das nicht konstituiert wurde, kein Wesen haben? Denken wir an Husserls Wesensdefinition: Das Wesen eines Objekts ist die Regel seiner Abschattungen. Da uns das Bewußtsein aber nicht als Abschattungen vorliegt, die auf ein Objekt verweisen, sondern unmittelbar, kann Husserls Definition hier nicht angewandt werden! Nun ist Sartres Werk aber Bewußtseinsphilosophie und handelt nicht nur von Sartres Bewußtsein im Moment des Schreibens, sondern erhebt den Anspruch, Thesen zu formulieren, die für alle Bewußtseine gültig sind. Es muss in ihm also einen allgemeinen Bewußtseinsbegriff geben (zu dem beispielsweise die Intentionalität und die Spontaneität des Bewußtseins gehört). - Gibt es also doch ein Wesen des Bewußtseins, das seiner Existenz vorausgeht? Die Einschränkung des Begriffs "Wesen" auf Husserls Defintion ist offenbar zu eng. Im Zusammenhang mit seiner Freiheitsphilosophie erhält das Schlagwort noch einen anderen, atheistischen Akzent, den Sartre in der Vorlesung "Ist der Existentialismus ein Humanismus?" ausspricht: Während einem Werkzeug (dem berühmten Papiermesser), das von einem Schöpfer angefertigt wurde, sein Wesen insofern vorausgeht, als es zuerst geplant und dann hergestellt wurde (als das Papiermesser erfunden wurde, existierte das Wassein eines solchen Messers bereits im Kopf des Erfinders, bevor er seine Idee umsetzte), ist der Mensch nicht Produkt eines Schöpfers, der vorgegeben hat, wie er sich verhalten wird, sondern erschafft sich in seinen freien Handlungen selbst - so wie sich das Bewußtsein in seinen spontanen Erzeugungen selbst erschafft. Man könnte gegen Sartre der Ansicht sein, dass das Wesen des Bewußtseins in den Gesetzen des Bewußtseins besteht. Sartres Antwort ist, dass es Gesetze des Bewußtseins nicht geben kann. Warum? Da wir uns solcher Gesetze nicht bewußt sind, können Sie nicht im Bewußtsein liegen, da das Bewußtsein sonst aus einem unbewußten Teil (den Gesetzen) und einem bewußten Teil (das, was diesen Gesetzen folgt) bestehen müsste. Und - wie gesagt - es kann im Bewußtsein nichts Unbewußtes (nichts Opakes) geben, weil Bewußtsein eben bewußt ist! Jetzt könnte man argumentieren, dass Gesetze des Bewußtseins ja nicht im Bewußtsein liegen müssten, es wäre ja ausreichend, wenn das Bewußtsein sich ihnen gemäß verhält. Doch das würde bedeuten, dass Bewußtseinsinhalte verursacht wären. Da das Bewußtsein sich aber einer solchen Verursachung nicht bewußt ist, kann es sie gleichfalls nicht geben. Eine unbewußte Verursachung würde wieder darauf hinauslaufen, dass es im Bewußtsein etwas Unbewußtes gäbe, nämlich das Verursachtsein. - Auf das Bewußtsein kann nichts einwirken, wie Sartre sagt. (Diese Argumentation ist von größter Wichtigkeit, da sie der Behauptung Sartres, dass der Mensch völlig frei ist, zugrundeliegt.) - In seinen eigenen Worten: "Und es wäre müßig, angebliche Gesetze des Bewußtseins vorzuschieben, [...]: ein Gesetz ist ein transzendentes Erkenntnisobjekt; es kann Bewußtsein von Gesetz geben, aber nicht Gesetz des Bewußtseins. Aus denselben Gründen ist es unmöglich, einem Bewußtsein eine andere Motivation zuzuschreiben als es selbst. Sonst müßte man annehmen, daß das Bewußtsein, insofern es eine Wirkung ist, sich nicht bewußt (von) sich ist. Es müßte in irgendeiner Weise sein, ohne daß es Bewußtsein, (zu sein), wäre." Die Spontaneität des Bewußtseins Die Spontaneität des Bewußtseins ergibt sich, wie wir aus dem eben Gesagten entnehmen können, für Sartre notwendig aus seiner Transluzidität. Sie entspricht der völligen Unverursachtheit aller Bewußtseinsvorgänge und -erscheinungen und ist letztlich auch Sartres Begründung für die totale Freiheit, die er den menschlichen Entscheidungen unterstellt. - Man muss hier übrigens berücksichtigen, dass zu Sartres Zeit nicht nur die heute geläufigere Vorstellung einer Verursachung von Bewußtseinsvorgängen durch physikalische Vorgänge verbreitet war, sondern auch die ganz andere Vorstellung, dass sich Bewußtseinsvorgänge einer Regel folgend gegenseitig verursachen. Die Assoziationspychologie ermittelte Gesetze, nach denen Bewußtseinsvorgänge einander folgen (so z. B. dass auf die Wahrnehmung eines bestimmten Dings häufig die Erinnerung an Ähnliches folgt). Für die Klärung von Sartres Argumentation reicht es jedoch aus, sich auf die physikalische Verursachung zu beziehen. Heute ist fast jeder damit einverstanden, dass ein Schlag auf den Daumen elektro-chemische Veränderungen in den Nerven des Daumens hervorruft, die wiederum zu anderen (ebenfalls physikalischen) Veränderungen im Gehirn führen, die schließlich das Bewußtseinsphänomen Schmerz verursachen. Doch Sartre würde diese Erklärung für absurd halten: Der Schmerz wäre nach dieser Erklärung erzwungen und dieses Zwangs müssten wir uns bewußt sein. Aber ist der Schmerz denn nicht wirklich erzwungen? Nämlich mittelbar durch den Schlag auf den Daumen (unmittelbar durch den Zustand meiner Hirnneuronen), und ist mir das nicht bewußt? - Hier liegt ein Missverständnis vor. Der Zusammenhang zwischen dem Schmerz und dem äußeren Ereignis wird von uns erlernt (abgesehen davon, dass ich Schmerzen im Finger auch spontan bekommen kann), das Bewußtsein des Erzwungenseins des Schmerzes ist also nicht unmittelbar, sondern beruht auf Erkenntnis, ist ein Wissen. Doch hier geht es um das Bewußtsein auf der präreflexiven Stufe, um das unmittelbare Bewußtsein von Schmerz, das vom Schmerz selbst nicht getrennt gedacht werden kann, wie Sartre meint. Und dieses unmittelbare Bewußtsein ist kein Bewußtsein von Erzwungensein, sondern ist einfach nur Bewußtsein von Schmerz. Die scheinbare Verursachung durch den Schlag auf den Daumen findet also keine Stütze in der Intuition (des präreflexiven Cogito). Doch die Intuition ist für Sartre das Entscheidende: Bewußtsein schließt seinem Begriff nach alles Unbewußte aus, so dass alles, was zum Bewußtsein gehört, mir auch bewußt sein bzw. intuitiv klar sein muss. Ein Verursachtsein des Schmerzes ist mir nicht bewußt, folglich gibt es keine Ursache des Schmerzes. (Es gehört zweifellos zu den unplausibelsten Konsequenzen von Sartres Ansatz, dass Schmerzen Resultat der Bewußtseinsspontaneität sind.) Sartre drückt diese Tatsache dadurch aus, dass er sagt: Das Bewußtsein existiert durch sich. Das ist nicht als Verursachtsein des Bewußtseins durch sich selbst gemeint: Eine Verursachung setzt eine Trennung von Ursache und Wirkung voraus, aber mein Schmerzbewußtsein ist nur eines und teilt sich nicht in ein Ursachebewußtsein und ein Wirkungsbewußtsein auf (abgesehen davon, dass man so wieder zum Unbewußten im Bewußtsein gelangen würde). Sartre sagt auch: Das Bewußtsein ist Ursache seiner eigenen Seinsweise. (Der Schmerz ist eine der Seinsweisen des Bewußtseins, die Lust eine andere.) "Ursache seiner eigenen Seinsweise" soll hier lediglich die Unverursachtheit der Seinsweisen bedeuten, die zusammen das Bewußtsein bilden. Zur weiteren Abgrenzung leugnet Sartre, dass die Hervorbringung der Bewußtseinsphänomene eine Handlung des Bewußtseins sei. Wäre es so, müsste uns z. B. der Schmerz als Handlung bewußt sein, was nicht der Fall ist. - Handlungen sind zwar frei, weil sie auf der Bewußtseinsspontaneität basieren, doch der Begriff der Handlung entsteht erst auf einer späteren Stufe. Sartre wendet sich nun gegen den Vorwurf, dass eine Existenz durch sich absurd sei und konstatiert, dass es im Gegenteil absurd sei, dass es nicht nur Existenzen durch sich gibt (also dass es nicht nur Unverursachtes gibt).- Diese Behauptung ist mir nicht ganz klar. Vielleicht kann man sie wie folgt interpretieren: Eine Verursachung des Bewußtseins z. B. durch das Gehirn wäre die Verursachung durch etwas Existierendes, das selbst wiederum von einem anderen Existierenden abgeleitet werden müsste, usw. - Die Kette dieser Ableitungen führt schließlich zu einem "ersten Beweger", also zu etwas Unverursachtem. Dass es Unverursachtes gibt, ist also notwendig, wenn es überhaupt etwas geben soll. Dass es Verursachtes gibt, erscheint dagegen quasi als überflüssige Tatsache (und "absurd" meint bei Sartre u. a. soviel wie "überflüssig"). Das Bewußtsein ist also unverursacht und existiert als solches absolut. Und da es Grundlage aller Erkenntnis ist, überschreitet es diese. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Seinsquelle alleine ausreicht, um auch die Existenz von etwas ausserhalb des Bewußtseins zu begründen. Gelingt das nicht, ist man auf eine idealistische Lösung beschränkt. - Sartres Auffassung ist demgegenüber, dass es Existenz ausserhalb des Bewußtseins geben muss, die wie die Existenz des Bewußtseins selbst über die Erkenntnis hinausreicht. Er begründet das zunächst negativ mit der Feststellung, dass die Existenz von Dingen sich nicht in ihrem Wahrgenommenwerden erschöpfen kann. Zu diesem Zweck greift er rätselhafterweise auf das Begriffspaar Aktivität / Passivität zurück: Wäre die Existenz eines Dings mit seinem Wahrgenommenwerden identisch, so wäre diese Existenz eine passive Existenz. Doch Passivität ist ein Begriff, der lediglich in Bezug auf bereits existierende Dinge sinnvoll ist. Der Begriff wird auf ein Ding angewandt, um auszudrücken, dass es in einer bestimmten Beziehung zu einem anderen Ding steht (nämlich Veränderungen erleidet, die von diesem anderen Ding bewirkt werden). Von der Passivität der Existenz eines Dings gegenüber dem Bewußtsein zu sprechen, kann also nur ein verunglückter Versuch sein, auszudrücken, dass das Ding noch Teil des Bewußtseins ist und gar keine eigene Existenz hat. Sartre verweist ausserdem darauf, dass die Passivität von etwas gegenüber dem Bewußtsein natürlich auf Seiten des Bewußtseins Aktivität impliziert. Ist das Bewußtsein aber aktiv, so muss es gleichzeitig auch passiv sein. - Warum? Sartre nimmt an, dass das aus einem allgemeingültiges Prinzip folgt, nämlich dem Prinzip von Aktion und Reaktion. - Letzteres wurde vom Physiker Newton aufgestellt und besagt, dass eine Kraftwirkung immer die Existenz einer gegenwirkenden Kraft impliziert. Wenn Ding A auf Ding B Kraft ausübt, übt Ding B auf Ding A eine entgegengesetzte Kraft aus. Wenn der Hammer auf den Amboss schlägt, schlägt auch der Amboss auf den Hammer. Man könnte nun fragen, ob Sartre dazu berechtigt ist, ein Prinzip aus der Mechanik auf das Bewußtsein anzuwenden, oder ob Sartre das Newtonsche Prinzip allgemeiner interpretiert. - Doch zum Glück ist der Hauptpunkt der Argumentation nicht dieser Grund, sondern ein anderer, positiver: Die Existenz von Dingen ergibt sich schlicht aus dem Begriff des Bewußtseins. Sartre nennt das den "ontologischen Beweis", vermutlich weil wie beim ontologischen Gottesbeweis aus dem Begriff von etwas die Existenz von etwas abgeleitet wird (auch wenn hier die beiden "Etwasse" nicht zusammenfallen). Man erinnere sich daran, dass Sartre schon die Unverursachtheit der Bewußtseinsphänomene aus dem Begriff des Bewußtseins abgeleitet hat (alles Unbewußte im Bewußtsein ist kontradiktorisch, so wie alles Runde in einem Quadrat). Hier ergibt sich nun die Existenz von etwas, das nicht Bewußtsein ist, daraus, dass Bewußtsein intentional, also Bewußtsein von etwas ist. Folglich muss es ein solches Etwas, also eine "Aussenwelt", geben wenn es Bewußtsein gibt (und die Existenz des Bewußtseins haben wir ja gesichert). - Mit Sartres Worten: "Wenn es nämlich Bewußtsein von etwas gibt, muss dieses "etwas" ursprünglich ein reales, d. h. dem Bewußtsein nicht relatives Sein haben." Sartre wendet sich gegen den Einwand, dass das Etwas sich ja auch als Abwesenheit im Bewußtsein definieren könnte: Das Ding als die ideale Reihe der Abschattungen eines Objektes ist zwar nicht im Bewußtsein, aber das Bewußtsein verweist darauf nicht als auf etwas Reales, sondern nur als auf eine Leerstelle (durch eine "Leerintention"), so dass es kein Ding ausserhalb des Bewußtseins geben muss. - Sartres Antwort lautet: Ein Nicht-Sein kann nicht die Grundlage eines Seins sein. Wenn man den Abwesenheits-Einwand akzeptiert, kann man nicht mehr zur Aussenwelt, zum Transzendenten, durchdringen und muss im Idealismus bleiben. Aber Sartre will doch gerade beweisen, dass es ein Sein gibt! Wie kann er da ein Argument gegen sein Beweis dadurch bekämpfen wollen, dass er darauf hinweist, dass die Richtigkeit des Arguments den Beweis unmöglich machen würde? - Läuft das nicht auf das Eingeständnis hinaus, dass der Einwand berechtigt und der Beweis falsch ist? - (Die Passage ist ein Beispiel für die Fälle, in denen ich nicht weiss, ob ich Sartre falsch verstanden habe, oder seine Argumentation eine grobe Schwäche aufweist.) Sartre fasst seinen ontologischen Beweis in dem Satz zusammen, dass die Transzendenz konstitutive Struktur des Bewußtseins sei. Und hier bringt er eine Einschränkung, die Probleme aufwirft: Man befinde sich mit dem ontologischen Beweis nicht auf der Ebene der Erkenntnis, sondern auf der des Seins (das die Erkenntnis ja übersteigt). Woraus folgt, dass man aus dem ontologischen Beweis nicht ableiten kann, dass eine bestimmte Erkenntnis über die Existenz eines Objektes in der Aussenwelt richtig ist, sondern lediglich, dass es überhaupt Existenz ausserhalb des Bewußtseins gibt. Die Existenz des Bewußtseins impliziert die Existenz von Nicht-Bewußtsein, das ist aber nicht mit der Aussage identisch, dass aus einer bestimmten Intention eines Würfels die Existenz dieses Würfels folgt. Doch ist es dann nicht auch möglich, dass alle Wahrnehmungen falsch sind, d. h. das keine konkrete Intention auf etwas real Existierendes verweist? Und doch soll die Existenz von Intentionen die Existenz von Dingen überhaupt sicherstellen? - Diese Schwierigkeit wird sich klären (bzw. durch andere Schwierigkeiten ersetzt werden), wenn Sartre den Begriff des Seins-an-sich einführt, was zum Ende seiner Einleitung in "Das Sein und das Nichts" geschieht. Während bis jetzt der Begriff "Sein" im Gebrauch Sartres sich relativ zwanglos als "Existenz" übersetzen liess, sind wir jetzt an dem Punkt angekommen, wo sich diese Deutung nicht mehr halten läßt. Der ontologische Beweis hat für Sartre bewiesen, dass es Sein gibt, aber offensichtlich nicht, dass es irgendwelche Dinge gibt (was der Fall sein müsste, wenn mit "Sein" einfach nur Existenz gemeint wäre). Die Kennzeichen dieses Seins, die Sartre in seiner Charakteristik des Seins-an-sich anführt, sind keine Kennzeichen der Existenz (was immer solche Kennzeichen sein sollten). Das Sein-an-sich ist ausserdem nicht das einzige Sein. Es gibt ausserdem das "Sein-für-sich". Letzteres ist das Sein des Bewußtseins, und darf mit dem nicht-bewußten Sein-an-sich nicht verwechselt werden. Während das Sein-an-sich ist, was es ist, ist das Sein-für-sich nicht, was es ist. - Das Sein-an-sich ist also, wie es sich gehört, mit sich selbst identisch, das Sein-für-sich nicht! - Soll das heissen, dass sich das Sein des Bewußtseins nur mit einer Kontradiktion beschreiben läßt? Genau das will Sartre damit sagen. - Wir kommen bald darauf zurück. Sartre stellt zunächst fest, dass sich das Sein der existierenden Dinge dem Bewußtsein nicht leibhaftig zeigt, sondern nur als Sinn des Seins. - Was kann er damit meinen? Der Begriff "Sinn" taucht bei Sartre noch in einem anderen Bereich auf, wo er klarer ist: Das Objekt in der Aussenwelt ist nicht in der Abschattung, die mir vorliegt (da es die unendliche ideale Reihe der Abschattungen darstellt), aber es ist der Sinn dieser Abschattung. Der Sinn der drei Seiten, die mir der Würfel zeigt, ist also der Würfel selbst. - In diesem Sinne bin ich (auf höherer Ebene) zwar mit existierenden Gegenständen konfrontiert, deren Sein nehme ich jedoch nicht mit diesen Gegenständen wahr, sondern er ist der Sinn der Existenz dieser Gegenstände. Ein einzelner existierender Gegenstand entspricht also einer "Abschattung des Seins", dem ich mich über viele Gegenstände lediglich nähern kann, das mir aber genausowenig ganz gegeben sein wird, wie das Objekt als Reihe der Abschattungen. (So jedenfalls meine Interpretation.) Der Sinn des Seins wird von Sartre mit dem Seinsphänomen gleichgesetzt. Wenn Sartre jetzt von "Sein-an-sich" redet, ist also das Seinsphänomen gemeint und damit der Sinn der Existenz der realen Dinge (in der gerade gezeigten Bedeutung von "Sinn"). Dieses Sein ist offenbar nicht die Existenz, sondern eine Art Stoff der Existenz - soviel als erste Annäherung. Alles, was existiert - und das meint für Sartre, alles was mit Sätzen beschrieben werden kann, in denen "ist" vorkommt - hat teil am Sein-an-sich (das Bewußtsein ist hier ausgenommen!). Über dieses Sein kann ich - völlig unabhängig von existierenden Dingen - sprechen. Da die Zuschreibung von Eigenschaften selber auf das Sein verweist (denn ich sage "Die Rose ist rot" und behaupte damit das Sein einer Verknüpfung von Ding und Eigenschaft), kann das Sein selbst keine Eigenschaften im üblichen Sinne haben. Unterschiede aller Art verweisen auf Eigenschaften, also hat es keinen Sinn, davon zu reden, dass das Sein sich von etwas unterscheidet oder etwas nicht ist. Sartre bezeichnet das Sein-an-sich deshalb als "volle Positivität". - Das einzige, was sich unter diesen Umständen wirklich über das Sein-an-sich sagen läßt, ist, dass es ist, was es ist - also, dass es mit sich identisch ist. Interessanterweise diskutiert Sartre die Frage, ob das Sein erschaffen worden ist. Die naheliegendste Antwort scheint zu sein, dass der Gedanke einer Erschaffung von vorneherein sinnlos ist, da er darauf hinausläuft, dass ich ein Nichtsein des Seins - die Nichtexistenz der Existenz - für möglich halte und mich so endgültig ins logische Nirvana begebe. - Doch Sartre argumentiert ganz anders: Das Sein kann nicht erschaffen worden sein, da eine Schöpfung aus dem Nichts unmöglich ist. Warum? Wenn das Geschaffene wirklich unabhängig vom Schöpfer existiert, ist unerklärbar, wie es sich nach der Schöpfung im Sein erhält, wenn es das nicht durch eine Kraft tut, die vom Schöpfer unabhängig ist - der Schöpfer ist also nur scheinbar der Schöpfer (oder der Schöpfer nur für einen unendlich kleinen Moment). Wenn das Geschaffene aber in der totalen Abhängigkeit vom Schöpfer bleibt, kann man überhaupt nicht von einer Schöpfung sprechen, das scheinbar Erschaffene ist in Wahrheit lediglich ein Gedanke des Schöpfers, der dessen Bewußtsein nicht verläßt. Jedenfalls zeigt Sartre hier, dass er den Gedanken einer Erschaffung des Seins nicht für sinnlos hält. - Man sieht hier deutlich den Übergang zu einer stofflichen Auffassung des Seins, die von der des Seins als blosser Existenz abgerückt ist: Das Sein-an-sich wird zu einer Art Grundstoff des Existierenden, der als solcher erschaffen worden sein könnte, wie ein existierendes Ding selbst (denn eine göttliche Schöpfung ist die Erschaffung von Dingen!). Das einzige Merkmal des Seins-an-sich ist also, dass es mit sich identisch ist. - Doch kann der Begriff "Merkmal" hier überhaupt gebraucht werden? Schließlich ist Identität mit sich selbst doch offenbar nur eine Art logische Hohlform, in die alles fällt, von dem ich überhaupt sprechen kann! - Sartre ist anderer Meinung. Dass das Sein-an-sich mit sich identisch ist (ist, was es ist) ist keine analytische, also (nur) logisch wahre Aussage, sondern eine synthetische! "Synthetisch" war der Ausdruck Kants für Urteile, die mehr aussprechen, als in den im Urteil verwendeten Begriffen bereits enthalten ist, und die daher erkenntniserweiternd sind. "Hans ist ein Junggeselle" ist ein synthetischer Satz, weil der Ausdruck "Hans" das Junggeselle-sein nicht bereits enthält, wohingegen der Satz "Junggesellen sind unverheiratet" analytisch ist, weil er lediglich ausspricht, was im Begriff "Junggeselle" bereits enthalten ist. Wir können aus dem Satz also nichts lernen (es sei denn, er wird als Erklärung des Wortes "Junggeselle" verwendet), und genau das scheint doch auf den Satz "Das Sein ist, was es ist" auch zuzutreffen! Wenn der Satz "Das Sein-an-sich ist mit sich selbst identisch" nicht analytisch ist, folgt daraus, dass es - entgegen dem Vorurteil - nicht selbstverständlich sein kann, mit sich selbst identisch zu sein, da analytische Sätze das Selbstverständliche aussprechen. Und genau das ist Sartres These. Seiner Ansicht nach ist nämlich das Bewußtsein - als der zweite Bereich des Seins neben dem Sein-an-sich - nicht mit sich identisch! - Was Sartre damit meint, wird er später, wenn es um das Sein-für-sich geht, nachreichen. (Ich nehme verständnisvoll an, dass spätestens an diesem Punkt viele Leser die Lektüre von "Das Sein und das Nichts" abgebrochen haben. Und in der Tat verliert Sartres Ontologie jede Relevanz, wenn man Kontradiktionen als Indiz für die Falschheit einer Lösung und nicht als die Lösung betrachtet. - Aber Sartres Philosophie enthält mehr als nur seine zentrale Ontologie.) An dieser Stelle legt er zunächst die Konsequenzen dar, die sich aus der Synthetizität des Identitäts-Satzes ergeben: Wenn es möglich ist, nicht mit sich identisch zu sein, drückt die Selbstidentität eine Beziehung zu sich selbst aus, die mehr ist, als eine nur logische Beziehung. Um das zu klären, müssen wir uns zunächst dem entgegengesetzten Fall zuwenden. Etwas, das nicht ist, was es ist, steht offenbar in einer Beziehung zu sich selbst, die problematisch ist. Zwischen dem Etwas und sich selbst besteht eine Art Abstand. Für den Fall der Identität mit sich selbst kann das nur heissen, dass dieser Abstand gleichfalls bestehen muss (sonst wäre die Feststellung der Identität nicht synthetisch), aber unendlich klein geworden ist! - Versuchen wir eine etwas weniger metaphorische Annäherung: Wenn ein analytischer Satz lediglich ausspricht, was in den Begriffen schon enthalten ist, spricht der synthetische Satz mehr aus. Die Identität eines Gegenstandes mit sich selbst ist eine Relation zwischen dem Gegenstand und sich selbst. Analytisch ist die Relation, wenn es tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem Gegenstand und sich selbst gibt. In diesem Falle ist die Identität selbstverständlich. Wenn ich den Satz für nicht-selbstverständlich halte, muss ich also einen Unterschied annehmen! - Aber läuft das nicht darauf hinaus, dass eben keine Identität besteht? - Ja, in gewisser Weise, würde Sartre darauf antworten. Der Gegenstand ist von sich selbst unterschieden, der Unterschied ist aber unendlich klein (vergleichbar dem Unterschied zwischen 0,9Periode und 1)! Die Identität mit sich selbst drückt eine unendlich kleine Differenz zwischen dem Gegenstand und sich selbst aus, während die Nicht-Identität ausdrückt, dass diese Differenz mehr als nur unendlich klein ist. Die Identität mit sich selbst wird also zum Grenzfall der Nicht-Identität mit sich selbst: "Das An-sich hat kein Geheimnis: es ist massiv. In gewissem Sinn kann man es als eine Synthese bezeichnen. Aber es ist die unauflöslichste von allen: die Synthese von sich mit sich." Sartre fügt noch einige Sekundärmerkmale des Seins-an-sich hinzu, die aus dem eigentlichen Merkmal, der Selbstidentität, folgen sollen: Das Sein-an-sich kann nicht zu etwas anderem werden, weil das Sein auch das Sein des Werdens ist (wenn etwas wird, kann ich das leicht verkrampft mit einem "ist"-Satz aussagen: Werden ist). - Dann sagt Sartre etwas Merkwürdiges über das Sein: "Es ist, und wenn es sich auflöst, kann man nicht einmal sagen, es sei nicht mehr." Er fügt hinzu: "Die volle Seinspositivität hat sich über seiner Auflösung wiederhergestellt. Es war, und jetzt sind andere Seiende: das ist alles." Wenn wir hier das Seins als eine Art Grundstoff deuten, könnten wir versucht sein, den Satz so zu interpretieren: Die Menge des Seins bleibt gleich, auch wenn einzelne Dinge verschwinden und ihr Sein verlieren, denn deren Sein ging auf andere (neu existierende) Dinge über. - Das Ganze wird etwas klarer, wenn man auf eine Auffassung Sartres vorgreift, die in der Einführung noch nicht erläutert wird, in dieser Passage aber vorausgesetzt wird: Nur für ein Bewußtsein kann etwas verschwinden, da das Sein selbst ja ohne Unterschiede ist und sich nicht in Dinge aufgliedert. - Dinge gibt es nach dieser Auffassung erst für das Bewußtsein. Und schließlich betont Sartre die Kontingenz des Seins-an-sich. Kontingenz steht im Gegensatz zur Notwendigkeit, was kontingent ist, könnte auch nicht existieren (das Sein als Stoff!). Sartre stützt diese Behauptung mit der Feststellung, dass nur Aussagenverknüpfungen notwendig sein können. Der Satz "Wenn alle Griechen sterblich sind und Sokrates ein Grieche ist, ist Sokrates sterblich" ist notwendig wahr, aber dass es Sokrates gibt, ist eine kontingente Tatsache. "Das Sein ist" muss also gleichfalls eine kontingente Tatsache ausdrücken: "Ungeschaffen, ohne Seinsgrund, ohne irgendeinen Bezug zu einem anderen Sein, ist das An-sich-sein zu viel für alle Ewigkeit." Die Problematik der zwei Seinsbereiche In der Einführung hat uns Sartre darüber belehrt, dass es zweierlei Sein gibt, das Sein des Bewußtseins und das Sein der Dinge, das Sein-an-sich. Es stellen sich jetzt zwei Fragen, die Sartre im Rest des Buches zu beantworten verspricht: Was rechtfertigt es, beide Bereiche unter einen Begriff - den des Seins - zu stellen? Wie ist eine Verbindung zwischen beiden Bereichen möglich? Die zweite Frage lässt zunächst einmal nur die Antwort zu, dass gar keine Verbindung möglich ist. Zum einen macht die Spontaneität des Bewußtseins es unmöglich, dass etwas auf sie einwirken kann. Das Sein der Dinge kann also keine Bewußtseinsphänome verursachen, so dass zumindest eine kausale Verbindung in dieser Richtung ausgeschlossen werden kann. Andererseits kann auch das Bewußtsein nicht auf das Sein-an-sich einwirken, da Bewußtseinsphänomene nichts Unbewußtes enthalten, also auch keine Kraft, die nach aussen wirkt. Das Bewußtsein bildet einen abgeschlossenen Bereich, auch in dieser Richtung ist also keine Kausalverbindung möglich! - Natürlich will Sartre an diesem aussichtslosen Punkt, von dem aus ja Erkenntnis und Handeln gleichermassen unmöglich sind, nicht stehenbleiben. Sartre macht den Schuldigen für die aussichtslose Lage aus, in die er uns hineinmanövriert hat: Es handelt sich um die Abstraktion. Die beiden Seinsbereiche, deren Verbindung gesucht wird, wurden - so Sartre - durch Abstraktion gewonnen. Abstrahiert wurde von der konkreten Situation des Menschen als wahrnehmend, erkennend usw. - Die Verbindung zwischen Sein-an-sich und Bewußtsein, die uns im konkreten Leben nicht weiter fraglich zu sein scheint, muss also während der Abstraktion verlorengegangen sein. Wiederfinden werden wir sie folglich, wenn wir uns direkt ans das Konkrete halten. Hier tun sich für mich einige Probleme auf, was Gegenstand der folgenden zwei Absätze sein soll: Zunächst einmal kann man fragen, warum man die Verbindung der Seinsbereiche nicht ebenfalls auf der abstrakten Ebene beschreiben kann. Ausserdem ist es ja nicht so, dass die abstrahierende Untersuchung Sartre nur zwei getrennte Bereiche, aber nicht deren Verbindung geliefert hat, sondern sie hat ausserdem zur Feststellung der Unmöglichkeit einer solchen Verbindung geführt. Zu erwarten, dass sich eine solche Verbindung bei der Untersuchung des konkreten menschlichen Verhaltens finden läßt, scheint also zu implizieren, dass die Ergebnisse der abstrakten Untersuchung falsch waren. Und davon abgesehen muss die Beschreibung konkreten Verhaltens doch selbst zu Abstraktionen führen, wenn sie philosophisch fruchtbar sein soll? Ein zweites Problem scheint sich mir aus seiner Definition des Abstrakten zu ergeben: Abstrakt ist, was nicht alleine existieren kann (die rote Rose kann allein existieren, das Rot der Rose aber nicht). Woraus folgt - wie Sartre ausdrücklich sagt - dass auch das Sein-an-sich und das Bewußtsein nicht allein existieren können! Doch wiederspricht das nicht wenigstens all dem, was gerade über das Sein-an-sich ermittelt wurde? Das Frageverhalten als Ausgangspunkt im Konkreten Doch wenden wir uns dem weiteren Verlauf von Sartres Argumentation zu. Als konkreten Ausgangspunkt wählt er ein bestimmtes menschliches Verhalten, nämlich das Frageverhalten (obwohl er konstatiert, dass ein beliebiges Verhalten Ausgangspunkt werden könnte, da jedes menschliche Verhalten das Verhältnis von Mensch und Welt exemplifiziert). Ich möchte hier darauf hinweisen, dass Sartre kein Sprachphilosoph ist. Menschliches Verhalten umfasst bei ihm immer sprachliches und anderes Verhalten, ohne dass zwischen beiden deutlich getrennt wird. Frageverhalten im Sinne Sartres beinhaltet sowohl das Äußern einer Frage gegenüber einem anderen Menschen als auch z. B. die nonverbale Untersuchung eines Automotors im Hinblick auf einen möglichen Defekt (ich "befrage" den Motor, wenn ich ihn untersuche). Der wesentliche Aspekt, auf den Sartre bei der Untersuchung des Frageverhaltens stößt, ist die Negation. Jede Frage läßt eine negative Antwort zu ("Nein!" oder "Nichts!"), und bei der Untersuchung des Motors kann ich feststellen, dass es keinen Defekt gibt. Das Frageverhalten impliziert also negative Sachverhalte: Das Nichtwissen im Fragenden, die (mögliche) negative Antwort und, wenn die Antwort eine Feststellung ist, die Negation, die sich aus der Bestimmtheit ergibt ("es ist so und nicht anders"). - Es stellt sich nun für Sartre die Frage, wie sich solche Sachverhalte erklären lassen. Nun scheint auf den ersten Blick nichts selbstverständlicher zu sein, als dass es negative Sachverhalte gibt. Was macht sie für Sartre zum Problem? Die Antwort liegt in den Merkmalen des Seins-an-sich. Das Sein-an-sich ist, wie beschrieben wurde, lediglich mit sich selbst identisch, es beinhaltet keine Unterschiede und keine Negativität. Aus der Natur des Seins-an-sich können die negativen Sachverhalte also nicht erklärt werden! - Sind die negativen Sachverhalte also nur subjektiv? Sartres Antwort darauf ist nicht ganz leicht zu verstehen: Einerseits ortet Sartre die Quelle der Negativität tatsächlich im Subjekt, im Bewußtsein, andererseits besteht er aber auch auf der Objektivität negativer Sachverhalte. Erklärung der Negation aus den negativen Aussagen Sartre beschäftigt sich zunächst mit einer Auffasung, die Negationen auf die Sprache zurückführt und so eine scheinbare Lösung des Problems liefert. Nach dieser Auffassung kann es zwar negative Aussagen (Urteile) aber keine negativen Sachverhalte geben. Wer ein negatives Urteil formuliert, drückt in Wahrheit einen positiven Sachverhalt aus: Wer sagt, dass die Erde nicht nass ist, sagt in Wahrheit, dass sie etwas anderes als nass ist, wobei dieses andere lediglich unbestimmt ist. Ursprung der Negation ist also einfach das Negationszeichen in der Aussage, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht. - Diese Theorie wurde von Bergson vertreten. Sartre könnte diese Theorie eigentlich durch Hinweis auf die Negation durch Bestimmtheit sofort erledigen (wer sagt, dass die Erde etwas anderes als nass ist, hat dieses andere implizit als "alles, aber nicht nass" definiert, die Negation wird durch die Formulierung also lediglich verschleiert). Jede positive Aussage impliziert negative Aussagen, wenn die Rose rot ist, impliziert das, dass sie nicht blau ist, usw., weswegen es nicht möglich ist, negative Urteile in rein positive Urteile umzuformulieren. Wir werden auf dieses Thema noch eingehen. - Doch Sartre zieht ein anderes Argument vor: Das Frageverhalten selbst muss nicht mit Urteilen verbunden sein, die Untersuchung eines Motors im Hinblick auf einen Defekt beinhaltet z. B. keine Aussage und setzt trotzdem Negativität voraus. Die Theorie Bergsons könnte, wenn sie wahr wäre, lediglich Fälle erklären, in denen wirklich Urteile gefällt werden. Es gibt aber - so Sartre - abgesehen vom Frageverhalten noch viele andere Fälle menschlichen Verhaltens, die Negation ohne Urteil implizieren: Die Erfassung von Dingen als zerstörbar ist ein solches Verhalten. In diesem Zusammenhang behauptet Sartre, dass es in der unbeobachteten Natur gar keine Zerstörung gibt: Schließlich gibt es in der Natur nur Sein-an-sich, so dass es z. B. nach einem Erdbeben nicht anderes geben kann als davor. (Diese Behauptung Sartres läuft übrigens darauf hinaus, dass es in der Natur auch keine Pflanzen oder Steine gibt, solange ein Mensch sie nicht sieht, da ja jede Aussage über die Natur, die über "das Sein-an-sich ist, was es ist", hinausgeht, Bestimmtheit beinhaltet, und somit Negation.) - Trotz dieser Gebundenheit an den Beobachter besteht Sartre darauf, dass Zerstörung ein objektives Faktum sein kann. Sartre bringt ein weiteres Argument gegen die Auffassung Bergsons: Wenn die Negation nur sprachlich ist, kann es keine Intuition von Negativität geben. Eine solche Intuition lässt sich aber - so Sartre - nachweisen: Wenn ich mich z. B. mit jemandem in einem Café verabredet habe, das Café betrete und den Betreffenden nicht finde, fälle ich kein Urteil, sondern nehme die Nicht-Anwesenheit des Betreffenden unmittelbar wahr, als die Nichtvorhandenheit eines Vordergrundes (der Gesuchte), der sich als fehlend herausstellt, nachdem ich zuvor das gesamte Café mit allen Anwesenden zum Hintergrund degradiert habe. Erst nach dieser unmittelbaren Wahrnehmung des negativen Sachverhaltes formuliere ich das negative Urteil ("er ist nicht da"). Das Urteil ist also nicht die Quelle der Negativität, sondern basiert seinerseits auf dem negativen Sachverhalt. Doch wer die Objektivität der negativen Sachverhalte leugnet, muss sich dafür nicht auf die Sprache berufen. Man kann auch - wie es Kant tut - die Negativität als eine Kategorie des Geistes auffassen, die als Form einen Stoff strukturiert und demnach ihre Quelle nicht im Stoff selbst haben kann. Die unmittelbare Intuition im Café, die dem Urteil vorangeht, läßt sich dann so erklären, dass die Kategorie bereits im Prozess der Wahrnehmung zum Einsatz gekommen ist. Die Intuition kann in diesem Falle nicht als Stütze für die Objektivität der negativen Sachverhalte dienen. Sartre argumentiert wie folgt dagegen: Eine Kategorie ist eine existierende Form, die über einen ebenfalls existierenden Stoff gestülpt wird. An dem Prozess der Kategorisierung sind also nur existierende Gegenstände beteiligt, so dass nicht plausibel ist, wie man dadurch zur Nicht-Existenz gelangen kann. - Könnte man darauf nicht erwidern, dass der Anhänger der Kategorientheorie objektive Nicht-Existenz ja gerade leugnet, so dass er für seine Zwecke mit existierenden Gegenständen völlig auskommt? Ich habe Sartres Begriff "das Nichts" bis jetzt unterschlagen, und lediglich von "negativen Sachverhalten" gesprochen. Doch in Wahrheit hatte Sartre nicht nach negativen Sachverhalten gefragt, sondern nach der Quelle des Nichts: "Steht die Negation als Struktur des Urteilssatzes am Ursprung des Nichts - oder ist im Gegenteil das Nichts als Struktur des Realen Ursprung und Grundlage der Negation?" Es handelt sich bei dem Begriff offenbar wieder um eine problematische Vergegenständlichung. Man könnte in diesem Sinne annehmen, dass "das Nichts" einfach der Anti-Gegenstand zu "das Sein" ist, also sozusagen die personifizierte Nicht-Existenz im Unterschied zur personifizierten Existenz. Vorausgesetzt, dass es objektive Negativität gibt, könnte man dann folgern - wenn man an den Stoff-Charakter denkt, den das Sein für Sartre in einer Bedeutung hat -, dass Sartre die Realität aus der Mischung zweier Grundstoffe, des Seins und des Nichts erklären will. - Es wird sich jedoch glücklicherweise zeigen, dass Sartre die Vergegenständlichung der Negation nicht bis zu diesem Punkt treibt. - In der Folge wird sich Sartre mit dem auseinandersetzen, was Hegel und Heidegger über das Nichts gesagt haben. Spinoza hatte festgestellt, dass jede Bestimmung Negation ist. Es ist naheliegend, das sprachlich logisch zu interpretieren: Jede positive Aussage erlaubt die Umformung in eine negative. Das ist unproblematisch, solange man eine Aussage, die eine doppelte Verneinung enthält, als ordentliche Aussage betrachtet. "Die Rose ist rot" kann dann in "Die Rose ist nicht nicht rot" umformuliert werden. Aber handelt es sich dabei nicht um einen Trick, d. h. ist die Aussage "Die Rose ist nicht nicht rot" nicht einfach mit dem positiven Satz "Die Rose ist rot" identisch und die doppelte Negation eine überflüssige Zutat? - Wer die Negation der Negation in diesem Sinne für nicht koscher hält, kann eine andere Umformulierung versuchen: "Die Rose ist rot" wird dann zu "Die Rose ist nicht blau und nicht grün und nicht schwarz und nicht weiss usw." - Offenbar stoßen wir hier auf das Problem, dass eine solche Umformulierung nicht nur ziemlich lang wird, sondern es auch schwierig ist, den genauen Bedeutungsgehalt von "ist rot" durch eine solche Verkettung wiederzugeben (wieviele und welche Farben müssten denn negiert werden?). Doch solchen Schwierigkeiten kann man aus dem Wege gehen, indem man Spinozas Satz abschwächt: Jede positive Aussage impliziert mindestens eine negative Aussage. Wer behauptet, dass die Rose rot ist, behauptet damit gleichzeitig, dass sie nicht blau ist. In dieser Form scheint Spinozas Satz unangreifbar. Doch zurück zu Sartre. - Sartre setzt sich mit Hegel auseinander, der seiner Ansicht nach Sein und Nichts fälschlicherweise auf dieselbe Ebene stellt. Er setzt Hegel die Umkehrung von Spinozas Satz entgegen: Jede Negation ist Bestimmung. Gemäß dem eben Gesagten müsste das heissen, dass jede negative Aussage in eine positive umformuliert werden kann. Hier stoßen wir wieder auf das eben erwähnte Problem: Welche positive Aussage entspricht der Aussage "Die Rose ist nicht rot"? ("Die Rose ist blau oder grün oder weiss usw.") Oder, wenn wir auch hier eine abgeschwächte Version verwenden: Welche positive Aussage wird von "die Rose ist nicht rot" impliziert? Hier kann man zum Glück innehalten, denn Sartre meint seine Umkehrung des Spinoza-Satzes in einem anderen Sinne. Sie bedeutet für Sartre nur, dass sich das "nicht" in einem Negationssatz auf irgendetwas Bestimmtes beziehen muss und nicht allein stehen kann. Weil das so ist, so Sartre, können Sein und Nichts nicht auf derselben Ebene stehen. Das Nichts ist das Nichts von etwas, es ist relativ zu einem Sein und kann nichts Absolutes sein. - Was meint er damit? Wenn ein Junge seiner Freundin die Briefmarkensammlung zeigt und "Aber bitte fass nichts an!" sagt, so bezieht sich das "nichts" auf die Briefmarkensammlung, aus der keine Marke berührt werden soll. Und ein Metaphysiker, der behauptet, dass die Welt aus dem Nichts entstand, kann dieses Nichts nur bezogen auf die Welt meinen, von der er spricht und nicht als absolutes Nichts. Können wir daraus schließen, dass Sartre den Satz "Vor der Welt gab es das Nichts" einfach im Sinne von "Vor der Welt gab es keine Welt" interpretiert und so die Vergegenständlichung des Nichts völlig ablehnt? - Leider verhält es sich nicht so. Sartres fragt weiterhin nach dem Nichts als Quelle der Negationen und das ist nicht metaphorisch gemeint. Sartre unterstellt Heidegger, dass dieser das Nichts vor der Welt im absoluten Sinne interpretiert, als weltjenseitigen Bereich in dem die Welt "auftaucht" und von dem sie "umschlossen" bleibt. Sartre kritisiert an diesem Konzept vor allem, dass es die Ableitung der Negation aus dem Nichts unmöglich macht. Jede Negation müsste in irgendeiner Weise auf dieses weltjenseitige Nichts referieren. Das - so Sartre - könnte man noch verstehen, wenn es um Aussagen wie "Es gibt keine Zentauren" geht. Das weltjenseitige Nichts wäre dann der Bereich, in dem sich die nicht vorhandenen Zentauren aufhalten und die Aussage würde sich auf diesen Bereich beziehen. Doch Sartre weist auf andere Aussagen hin, für die sich ein solcher Bezug nicht herstellen läßt, z. B. die Aussage, dass zwischen zwei Punkten A und B ein bestimmter Abstand besteht. (Diese Aussage impliziert, dass sich die beiden Punkte nicht auf der Strecke, die den Abstand definiert, befinden.) - Sartre gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Quelle der Negation sich nicht ausserhalb der Realität befinden kann, sondern in ihr zu finden sein muss. Ich verzichte darauf, zu fragen, ob es nicht andere gute Gründe gegen den Versuch gibt, das Nichts für den Ort der nicht-existierenden Dinge zu halten oder ob, wenn diese Auffassung wahr wäre, das Nichts nicht auch der Ort der nicht-existierenden Sachverhalte sein müsste (so dass schließlich doch jede Aussage, die Negationen impliziert, auf das weltjenseitige Nichts bezogen werden könnte). - Doch ich möchte folgendes anmerken: Spinozas Satz (dem Sartre sich in seiner ursprünglichen Form implizit anschließt, wenn er in seiner Heidegger-Kritik darauf hinweist, dass auch die völlig positiven Realitäten die Negation "als Bedingung der Deutlichkeit ihrer Konturen" enthalten) behauptet keineswegs, dass es objektives Nichts gibt. Er betrifft in Wahrheit lediglich das logische Grundgerüst der Sprache. Und dieses Gerüst verlangt, dass jede sinnvolle positive Aussage andere Aussagen impliziert, die Negationen enthalten: Wer behauptet, dass etwas der Fall ist, behauptet damit, dass etwas anderes nicht der Fall ist. Aussagen, auf die Spinozas Satz nicht zutrifft, sind nicht deshalb unmöglich, weil es allerorts objektives Nichts gibt, sondern weil sie gar keine Aussagen sind. "Die Rose ist rot, aber damit meine ich nicht, dass sie nicht blau ist" ist nicht falsch, weil die Realität von Nichts durchzogen ist (und wäre wahr, wenn es anders wäre), sondern ist schlicht sinnlos. Ich will damit nicht sagen, dass die Negation eine Art Form ist, die von der Sprachlogik über eine negationslose Realität gestülpt wird, sondern dass ich jemanden, der einen Satz wie "Die Rose ist rot, aber damit meine ich nicht, dass sie nicht blau ist" nicht verstehen würde. Es ist unmöglich, die Realität negativer Sachverhalte zu bestreiten - insofern hat Sartre recht - aber nur darum, weil kein Mensch auf der Welt eine Aussage machen kann, wenn er nicht einen negativen Sachverhalt mitbehauptet. "Es gibt keine negativen Sachverhalte" läuft auf "Aussagen sind unmöglich" hinaus (und das kollidiert mit dem Umstand, dass ich mich in einer philosophischen Debatte befinde und daher Aussagen formuliere). Wo befindet sich nun das Nichts, dessen Objektivität Sartre für sichergestellt hält, und das Grundlage für negative Aussagen ist? Es befindet sich - wie in der Heideggerkritik herausgestellt - nicht ausserhalb des Seins. Es kann sich aber auch nicht im Sein-an-sich befinden, da dieses frei von Negativität ist (man beachte übrigens, dass Sartres Charakterisierung des Seins-an-sich dem Satz Spinozas widerspricht). - Erinnern wir uns daran, dass Sartre neben dem Sein-an-sich noch eine andere Seinsgattung kennt, das Sein des Bewußtseins und dass dieses Sein, im Unterschied zum Sein-an-sich, nicht mit sich identisch ist (was bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht richtig erklärt wurde). (Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass der Gegensatz bei Sartre nie als "Identität mit sich selbst / Nicht-Identität mit sich selbst" ausgedrückt wird, sondern immer als "ein Sein, das ist, was es ist / ein Sein, das nicht ist, was es ist (ist, was es nicht ist)".) Und Nicht-Identität mit sich selbst, was kann das anderes heissen, als dass dieses Sein Nichts enthält? Sartre drückt das so aus, dass ein Sein, das nicht mit sich identisch ist, das Nichts als "ontologisches Merkmal" besitzt. - Das Nichts kommt also durch das Bewußtsein zur Welt. Aber läuft das nicht auf die von Sartre zurückgewiesene Theorie hinaus, nach der das Bewußtsein die Kategorie der Negation über das Sein-an-sich stülpt, also darauf, dass es doch kein objektives Nichts gibt (ausser im Bewußtsein selbst)? Dass die Rose nicht rot ist, ist offenbar kein Bewußtseinsfaktum. Wenn das Nichts, das am Ursprung der negativen Tatsache steht, aber aus dem Bewußtsein stammt und nicht aus dem bewußtseinsunabhängigen Sein, wie können wir die Konsequenz vermeiden, dass es eben "eigentlich" keine negativen Tatsachen gibt? - Sartres Antwort auf diesen Einwand besteht anscheinend in dem Hinweis, dass das Nichts im Bewußtsein keine Illusion ist - das Nichts ist sein ontologisches Merkmal. Und wenn die Quelle der Negation objektiv ist, ist es auch das transzendente negative Faktum, das sich aus ihr speist (während bei der Kategorie ja seiner Argumentation nach nur eine positive Form auf einen positiven Stoff gestülpt würde, was natürlich im Sinne Sartres nicht für eine Objektivität der negativen Tatsache sorgen könnte, da es in dem ganzen Vorgang ja nirgends ein wirkliches Nichts gibt). Doch wie stellt sich diese "Einspeisung des Nichts" in einem konkreten Fall dar? Sartre beschreibt die Situation, dass ich in das Zimmer eines Freundes eintrete und seine Abwesenheit erfasse, d. h. die Intuition einer negativen Tatsache habe. Sartre konstatiert, dass die Gegenstände im Zimmer als solche keinen Verweis auf den Freund enthalten: Das Buch auf dem Tisch ist nur ein Buch, der Tisch nur ein Tisch usw. Die Wahrnehmung dieser Dinge kann also die Intuition von Abwesenheit nicht erzeugen. Aber könnte man die Intuition nicht dadurch erklären, dass diese Gegenstände in mir ein Vorstellungsbild ihres Besitzers erzeugen? Nein, da das Vorstellungsbild impliziert, dass es nicht der Freund selbst ist (d. h. die Intuition der negativen Tatsache bereits voraussetzt). Die Intuition der Abwesenheit kann also nicht von den Gegenständen über deren Wahrnehmung verursacht werden. Woraus folgt - so Sartre - dass wir es hier mit einem Bruch der Kausalität zu tun haben, der sich im wahrnehmenden Subjekt abspielen muss: "Indem ich den, der nicht mehr im Zimmer ist, von meinen Wahrnehmungen des von ihm bewohnten Zimmers aus erfasse, werde ich notwendig zu einem Denkakt gezwungen, den kein vorheriger Zustand bestimmen oder motivieren kann, kurz, zu einem Bruch mit dem Sein in mir selbst." Sartre besteht darauf, dass ein kausal determinierter Vorgang niemals zu einem Nichts führen kann, sondern nur zu Sein. Hier erhebt sich sofort die Frage, ob denn nicht auch negative Sachverhalte kausal determiniert sein können: Der Zustand der Hülle einer Seifenblase im Zusammenhang mit den Molekularbewegungen der enthaltenen Luft usw. kann doch ihr Platzen (also ihre Nicht-Existenz) zu einem bestimmten Zeitpunkt bewirken? Doch das ist ein Misverständnis. Das Platzen der Seifenblase ist für Sartre lediglich ein kausaler Übergang von einem positiven Zustand zu einem anderen positiven Zustand. Dass der spätere Zustand ein negatives Moment enthält (dass etwas fehlt, nämlich die Seifenblase) kann daraus nicht abgeleitet werden. Das Fehlen der Seifenblase ergibt sich erst für einen Betrachter! Aber ging es im Falle der Intuition von Abwesenheit nicht um etwas ganz anderes, nämlich um die Verursachung einer Intuition von Nichts, und nicht um die Verursachung von Nichts? Steht die Intuition von Nichts nicht auf einer logisch anderen Ebene als das Nichts, von dem sie Intuition ist? Ich denke, Sartre meint, wenn es "eigentlich" nur Sein-an-sich gibt, das kein negatives Moment enthält, ist die Intuition eines negativen Sachverhaltes identisch mit der Erzeugung dieses negativen Sachverhaltes. Sartre gelangt zu der Konsequenz, dass jede Art negativer Sachverhalte durch eine Ablösung des Bewußtseins von allen positiven Gegebenheiten zu erklären ist. Diese Ablösung erfolgt unverursacht und daher frei: "Und insofern ich fortwährend Negatitäten [negative Sachverhalte] benutze, um die Existierenden zu isolieren oder zu bestimmen, das heißt, um sie zu denken, ist die Sukzession meiner ‚Bewußtseine' ein ununterbrochenes Ablösen der Wirkung von der Ursache, da jeder nichtende Prozeß verlangt, seinen Ursprung nur von sich selbst herzuleiten." - Da es sich dabei um eine Leistung des Bewußtseins handelt, und im Bewußtsein alles bewußt ist, müssen wir uns dieses "nichtende Vermögens" bewußt sein und diese Bewußtheit muss aufweisbar sein. - Sartre identifiziert sie mit der Angst. Irgendwann in seiner Schulkarriere wird jeder deutsche Gymnasiast einmal darauf hingewiesen, dass Furcht und Angst nicht dasselbe seien: Furcht bezieht sich auf einen bestimmten, nicht allzu großen Gegenstand, während Angst entweder gar keinen oder einen irgendwie unfassbar großen und nicht recht bestimmbaren Gegenstand hat. Man fürchtet sich vor einem Hund oder davor, sich mit AIDS zu infizieren, aber man ängstigt sich vor Godzilla, dem Krieg oder dem Tod. - Bei Sartre finden wir die beiden Begriffe gleichfalls unterschieden, jedoch in einem anderen Sinne: Furcht habe ich vor äußeren Umständen, die der Kausalität unterstehen, sich aber unter Umständen für mich fatal auswirken können. Wenn ich (so Sartres berühmtes Beispiel) an einem Abgrund stehe, fürchte ich mich z. B. davor, auf einem Stein auszurutschen und hinabzustürzen. - Angst hingegen habe ich vor mir selbst, nämlich davor, freiwillig und spontan in den Abgrund hineinzuspringen. Nach Sartre äußert sich diese Angst in der Beispielsituation als das charakteristische Gefühl des Schwindels und beunruhigt uns tiefer als die bloße Furcht vor dem Ausrutschen. Doch was hat das alles mit der Negation zu tun? Nun, die Erklärung der negativen Sachverhalte hat uns auf die menschliche Freiheit verwiesen. Das Bewußtsein läßt uns z. B. in einem leeren Raum die Abwesenheit seines Bewohners erfassen, ohne dass dieses Erfassen eines negativen Sachverhaltes durch die Wahrnehmung der im Raum vorhandenen Dinge verursacht worden wäre. Aber ist es gerechtfertigt, auch wenn wir Sartres Standpunkt übernehmen, dieses Vermögen, Negativität in die Welt zu tragen, mit der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu identifizieren? Negativität erzeugen wir ja bereits dann, wenn wir eine Welt aus Dingen wahrnehmen, da eine Aufteilung in Dinge (das ist eine Rose und kein Schmetterling) über die Konstatierung negativer Sachverhalte erfolgen muss. Erinnern wir uns daran, dass das Sein ausserhalb des Bewußtseins ja ohne das Bewußtsein frei von jeder Negativität und daher Aufteilung ist! - Das läuft darauf hinaus, und Sartre ist wirklich dieser Auffassung, dass die Erfassung der Welt durch uns Resultat unserer Freiheit ist. Sartre hat hier möglicherweise Phänomene wie die sog. Vexierbilder vor Augen (diese Interpretation übernehme ich von Paul Vincent Spade). Ein berühmtes Bild dieser Gattung ist so aufgebaut, dass es sowohl möglich ist, es als menschlichen Kopfumriss oder als zwei Vasen zu sehen. Ob ich das Bild in der einen oder der anderen Weise sehe, ist offenbar nicht durch das Bild selbst bedingt: Es ist hier also durchaus gerechtfertigt, das Sehen der Gegenstände auf das Bewußtsein zurückzuführen. Ich kann mich tatsächlich frei entscheiden, das Bild als menschlichen Kopf oder als zwei Vasen zu sehen. Doch das Vexierbild zeigt uns auch, dass unsere Freiheit bei der Wahrnehmung offenbar beschränkt ist. Ich kann das Vexierbild als zwei Vasen oder als einen Kopf sehen, mit etwas Übung vielleicht auch noch als Ansammlung von Linien und Flächen, aber damit erschöpfen sich meine Möglichkeiten. Es wird mir nicht gelingen, es als Pferd oder als Atomkraftwerk zu sehen. Und diese Beschränkung stellt selbst einen negativen Sachverhalt dar, der nicht auf mein Bewußtsein rückführbar ist. Und wie gelangen wir von unserer "nichtenden Freiheit" zur Entscheidungsfreiheit? Für Sartre handelt es sich hier prinzipiell um dasselbe. Wenn ich die Abwesenheit eines Menschen in einem Raum erfasse, besteht ein kausaler Bruch zwischen der zuerst erfolgten Erfassung der Gegenstände im Raum und der nachfolgenden Erfassung der Abwesenheit. Die Aufeinanderfolge der Bewußtseinszustände ist also unverursacht. Genauso unverursacht wäre meine spontane Entscheidung, in den Abgrund zu springen, den ich vor mir sehe. Auch hier handelt es sich um einen Bewußtseinszustand, der nicht kausal aus einem vorhergehenden Zustand erklärt werden kann. Meine Angst beruht auf meinem Bewußtsein, dass ich eine solche spontane Entscheidung tatsächlich treffen könnte und dass der Zustand meines Bewußtseins jetzt (jetzt bin ich mir vielleicht bewußt, dass ich keinesfalls in den Abgrund springen möchte), da er kommende Zustände nicht kausal determinieren kann, mir keine Sicherheit gibt. Sartres Beispiel des Schwindelns vor dem Abgrund ist glücklich gewählt. Es ist wahr (zumindest nach meiner persönlichen Erfahrung), dass in solchen Situationen Angst vor der eigenen Unkalkulierbarkeit auftreten kann. Doch da für Sartre ja nicht nur die menschlichen Entscheidungen, sondern die gesamte Erfassung der Welt undeterminiert und damit frei ist, warum haben wir nicht neben unserer Entscheidungsangst manchmal eine Art Wahrnehmungsangst (und ich wüsste nicht, was das sein sollte)? Sartre nimmt zu einem anderen Einwand Stellung. Wenn wir in unseren Entscheidungen frei sind, also hinsichtlich jeder unserer Entscheidungen, warum empfinden wir nicht bei jeder Entscheidung Angst? Wenn die Angst das Bewußtsein unserer Freiheit ist, sollte sie permanent spürbar sein, wenn wir permanent frei sind. - Sartres Antwort besteht in der Behauptung, dass Angst ein Phänomen der reflexiven Bewußtseinsebene sei, während uns auf der unreflektierten Ebene lediglich Forderungen begegnen, die die Welt an uns richtet, und die wir unmittelbar zu erfüllen versuchen. Doch diese Forderungen (z. B. der Befehl des Weckers, aufzustehen) sind in Wahrheit selbstgesetzte Werte, die auf letzte Zwecke, einen grundlegenden Entwurf unserer selbst, verweisen. Reflektiere ich auf die Forderungen der Welt, so werden mir diese letzten Zwecke bewußt und erst dann empfinde ich Angst. Wie stellt sich in diesem Licht das Schwindeln vor dem Abgrund dar? Diese Situation zeigt uns nicht nur eine beliebige Möglichkeit, spontan zu handeln, sondern die Möglichkeit, unser ganzes Leben spontan zu beenden. Und eine Entscheidung dieser Tragweite verweist uns natürlich sofort auf unseren grundlegenden Entwurf. Sartre beschreibt eine weitere typische Angstsituation: Ein süchtiger Spieler stellt beim Anblick eines Spieltisches fest, dass sein vergangener Entschluss, nie mehr zu spielen, unwirksam ist. Dass vergangene Bewußtseinszustände die gegenwärtigen nicht determinieren können, gilt auch für vergangene Entschlüsse, gleichgültig, mit welchem Nachdruck sie getroffen wurden: "Was der Spieler in diesem Augenblick erfaßt, ist wieder der permanente Bruch des Determinismus, das Nichts, das ihn von sich selbst trennt: [...] Ich bin allein und nackt vor der Versuchung, wie am Tag vorher, [...] nachdem ich mich in den magischen Kreis eines Entschlusses eingeschlossen habe, merke ich mit Angst, das nichts mich hindert zu spielen." Kann die unbezweifelbare Realität des Angstphänomens als Beweis für unsere Freiheit dienen? Sartre gesteht, dass es nicht so ist. Wenn mein Handeln von Triebkräften determiniert wäre, könnte das Angstphänomen sich dem Umstand verdanken, dass mir diese Triebkräfte nicht bekannt sind. Die Angst vor dem Abgrund wäre dann nicht mehr die Angst vor meiner Freiheit, zu springen, sondern die Angst vor einem selbstdestruktiven Trieb, der plötzlich in mir hervorbrechen und einen selbstmörderischen Entschluss bewirken könnte. Doch dann - so Sartre - wäre die Angst eben keine Angst mehr, sondern nur noch Furcht, so dass sich das Problem auch so ausdrücken läßt: Gibt es Angst überhaupt oder gibt es nur eine besondere Art von Furcht? - Da Sartre die Freiheit aus anderen Gründen für bewiesen hält, lautet seine Antwort natürlich: Ja, es gibt sie und sie ist das Bewußtsein unserer Freiheit. Wenn ich Angst vor etwas habe, geht das Bewußtsein von diesem Etwas der Angst nicht voraus? Es leuchtet nicht ganz ein, dass die Angst das Bewußtsein unserer Freiheit selbst und nicht lediglich eine aversive Reaktion darauf ist. - Wichtig für Sartres weitere Argumentation ist jedenfalls, dass Angst ein Moment der Unlust beinhaltet. Denn nach dem bisher Gesagten sollte die Angst immer dann auftauchen, wenn ich auf meine grundlegenden Entscheidungen reflektiere. Das tut sie jedoch häufig nicht - warum? Wir erinnern uns daran, dass die Transluzidität des Bewußtseins nicht meint, dass uns alle Bewußtseinstatsachen in totaler Klarheit vor Augen stehen. Das gilt auch für die Angst als das Bewußtsein der Freiheit: Wir können uns unserer Freiheit auch auf eine unklare, verzerrte Weise bewußt sein. Eine Form des unklaren Bewußtseins unserer Freiheit ist - so Sartre - die Flucht vor der Angst. Die Flucht vor der Angst muss ein Bewußtsein der Angst implizieren (denn offenbar kann ich nur vor etwas fliehen, das mir bewußt ist) und sie ist eher die Regel als die Ausnahme: "Alles geschieht ja so, als wenn unser wesentliches, unmittelbares Verhalten gegenüber der Angst die Flucht wäre." Die Sartres Theorie widersprechende Theorie des Bewußtseins ist der psychologische Determinismus, d. h. die Auffassung, dass die Spontaneität des Bewußtseins nur scheinbar ist und alle Bewußtseinsvorgänge in Wahrheit einer lückenlosen Kausalität folgen. Sartre argumentiert an dieser Stelle nicht gegen diese Theorie, sondern erklärt sie zur theoretischen Ausformulierung einer Flucht vor der Angst: Wer sich von seiner Freiheit ablenken will, kann versuchen, sich davon zu überzeugen, dass die Intuition dieser Freiheit lediglich eine Illusion ist. Von was genau will sich der Determinist, und jeder, der vor der Angst flieht, ablenken? Von den Handlungsmöglichkeiten, die er nicht ergriffen hat. Diese Möglichkeiten beunruhigen den Menschen, solange er sich bewußt ist, dass er völlig frei ist, sie anstelle der tatsächlich realisierten Möglichkeiten zu ergreifen. - Die Taktik der Flucht vor dieser Beunruhigung besteht darin, die nicht ergriffenen Möglichkeiten zu entwerten. Das kann über den Determinismus geschehen (der alle Möglichkeiten mit Ausnahme der tatsächlich realisierten zur Illusion erklärt) oder in schwächerer Form dadurch, dass ich ihre Bedeutung verkleinere, indem ich sie so betrachte, als wären es nicht meine eigenen Möglichkeiten, sondern die Möglichkeiten eines anderen Menschen, der in derselben Situation ist wie ich. (Sartres Beispiel für dieses Verfahren ist die Äußerung "Ich werde dieses Buch schreiben, aber man könnte es auch nicht schreiben".) Sartre beschreibt noch ein anderes Fluchtverfahren, das uns zum Begriff des Ich zurückbringt. In der "Transzendenz des Ego" hatte Sartre herausgestellt, dass das Ich nicht Teil des Bewußtseins ist, sondern als ideales Gesamtobjekt meiner Zustände und Handlungen transzendent, wobei es nur fälschlicherweise als deren Ursprung gilt. - Diese falsche Auffassung vom Ich erweist sich jetzt als eine weitere Form der Flucht vor der Angst: Wer das Ich für den freien Urheber seiner Handlungen hält, verlegt seine Freiheit damit in ein transzendentes Objekt. Er macht sie dadurch zur Freiheit eines Anderen und lenkt sich so davon ab, dass der ihr Sitz in Wahrheit das aktuelle Bewußtsein ist. Die Unaufrichtigkeit / Der schlechte Glaube Die wörtliche Übersetzung "schlechter Glaube" entspricht Sartres Intention viel besser als der in der in der Übersetzung gewählte Ausdruck "Unaufrichtigkeit". Obwohl sich die Gründe dafür erst später zeigen, werde ich in der Folge nur noch von Schlechtem Glauben sprechen. Sartre hat darauf hingewiesen, dass wir uns unserer Freiheit häufig nur dadurch bewußt sind, dass wir sie vor uns selbst verschleiern, bzw. uns von ihr ablenken (siehe den vorangegangenen Abschnitt). Wir stoßen hier offenbar auf ein allgemein bekanntes Phänomen, das üblicherweise als "Selbstbetrug" bezeichnet wird. Sartres Diskussion des Schlechten Glaubens setzt sich mit diesem Phänomen auseinander, mit der Zielsetzung, zu zeigen, dass eine Erklärung auf die Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst in der Gegenwart zurückgreifen und damit in das Zentrum des Seins-für-sich, des Seins des Bewußtseins führen muss. Was ist so eigentümlich an den Verfahren zur Flucht vor der Angst? Wer vor etwas flieht, weiss, dass er vor etwas flieht. Wer sich von seiner Angst ablenkt, muss sich dieser Angst also bewußt sein (deshalb kann Sartre sagen, dass die Flucht vor der Angst eine Form der Angst ist). Aber Flucht ist in diesem Falle ja nur eine Metapher für "nicht wissen wollen". Wer vor der Angst flieht, versucht, sie zu leugnen, obwohl er sie schon allein, weil er sie leugnen möchte, bereits als Realität akzeptiert haben muss. - Derselbe Widerspruch zeigt sich in dem Ausdruck "Selbstbetrug": Wer lügt, ist über die fragliche Wahrheit im Bilde, wer belogen wird, nicht. Wenn Lügner und Belogener identisch sind, ist die Lüge (der Betrug) also logisch ausgeschlossen, da sie implizieren würde, dass jemand etwas gleichzeitig und in derselben Hinsicht weiss und nicht weiss! Trotzdem lassen sich Phänomene dieser Art nicht leugnen. - Sartre schlägt zunächst vor, auf den Begriff "Selbstbetrug" zu verzichten. Der Begriff suggeriert eine bestimmte Lösung des Problems - nämlich die Auffassung, dass unser Bewußtsein in Wahrheit nicht einheitlich, sondern in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt ist, die dann als Lügner und Belogener fungieren können. - Und eine solche Theorie gibt es tatsächlich, nämlich die Psychoanalyse Freuds. Der Lügner in der Freudschen Theorie ist das Unbewußte. Das Unbewußte verschleiert die Triebe, die es befriedigen will, durch symbolischen Ausdruck vor dem bewußten Teil der Persönlichkeit, dem Ich. - Ein Beispiel für diese Art des Betrugs kann aus Arno Schmidts psychoanalytisch beeinflusster Karl-May-Interpretation entnommen werden ("Sitara und der Weg dorthin"). Karl May - so Arno Schmidts Unterstellung - habe während seines Gefängsnisaufenthaltes homosexuelle Antriebe entwickelt, die sich in seinen Landschaftsbeschreibungen symbolisch ausdrücken: Die Landschaften in Karl Mays Büchern seien übermäßig oft von Schluchten oder Hohlwegen bevölkert, deren eigentliche Bedeutung der männliche Anus sei. Der von Schmidt angedeutete psychische Vorgang kann ungefähr so beschrieben werden: Im Es Karl Mays (im unbewußten Bezirk der Triebe in der Psyche nach Freud) wohnt ein Verlangen nach homosexuellen Kontakten. Da ein solches Verlangen mit dem narzistisch grandiosen Selbstbild Karl Mays unverträglich ist, sorgt die Zensurinstanz in seinem psychischen System dafür, dass es unbewußt bleibt. Das Es verschafft sich jedoch unter der Maske harmloser Landschaftsschilderungen eine symbolische Befriedigung des unterdrückten Triebs, die von Karl Mays Ich (dem bewußten Teil seiner Psyche) nicht als solche erkannt werden kann. Das psychoanalytische Verfahren ähnelt dann der Entlarvung eines Lügners: Während das Es sozusagen behauptet, sich an der Beschreibung von Schluchten zu erfreuen, trägt der Analytiker Indizien zusammen und überführt es damit: "Von wegen! Ich weiss, woran du dich in Wahrheit erfreust, usw." Freud kann den schlechten Glauben nicht erklären Nichts liegt näher, als die hier zugrundegelegte Theorie der Psyche auch für die Erklärung des Schlechten Glaubens zu benutzen: Es stellt kein Problem dar, sich selbst zu belügen, wenn Lügner und Belogener nur scheinbar dieselbe Person sind. Der Ausdruck "Selbstbetrug" wäre also angemessen. - Doch Sartre hält Freuds Auffassung für inkohärent: Freud kennt nicht nur das Es und das Ich, sondern auch noch das Über-Ich (eine Zensurinstanz, die verhindert, dass gewisse Triebe des Es bewußt werden). Im Falle Karl Mays sorgt das Über-Ich dafür, dass Karl Mays restliches Ich nichts von seiner Homosexualität ahnt. Der wesentliche Punkt hier besteht darin, dass das Über-Ich selbst jedoch von Karl Mays Homosexualität wissen muss, wenn es verhindern will, dass sie bewußt wird! Und heisst das nicht, dass das Über-Ich weiss, was es gleichzeitig verleugnet, dass es also im Zustande des Schlechten Glaubens ist? - Freuds Problemlösung ist also in Wahrheit lediglich eine Problemverlagerung. Die Fähigkeit des Bewußtseins zum Schlechten Glauben wird in eines der Segmente verlagert, die nach Freud die Psyche zusammensetzen. Man könnte jetzt einwenden, dass das Über-Ich ja für Freud kein Bewußtsein ist, sondern eine Art Mechanik innerhalb der Psyche. Doch Sartre verweist hier auf die sog. "Widerstände", die ein Patient den Bemühungen des Psychoanalytikers zur Aufdeckung seiner Triebe entgegensetzt. Diese Widerstände sind kein Randphänomen, sondern spielen in der psychoanalytischen Praxis eine wichtige Rolle: Sie liefern nämlich die Indizien dafür, dass der Analytiker seine Arbeit gut macht. So wie ein Verbrecher im altem Kriminalroman, dem der Detektiv die Indizien für seine Täterschaft aufzählt, vielleicht versuchen wird, die Szene unter einem Vorwand zu verlassen, sobald er davon überzeugt ist, dass der Detektiv zwingende Indizien hat, verhält sich der Analysierte, wenn der Analytiker der Aufklärung dessen, was der Patient verdrängt, nahekommt: Er leistet gegen die weitere Analyse Widerstand, u. U. dadurch, dass er die Therapie abbricht und liefert dem Analytiker damit die letzte Bestätigung seiner Interpretation. Doch wenn Widerstand geleistet wird, fragt es sich, welches psychische Segment den Widerstand leistet. Im Sinne Freuds muss es sich um das Über-Ich handeln (das Es strebt eine Bewußtwerdung seiner Triebe gerade an und das Ich will dasselbe zum Zwecke seiner Heilung). Das Über-Ich erbringt also folgende Leistungen, die für Sartre nur als Bewußtseinsakte denkbar sind: - Es kennt alle Triebe des Es. - Es sortiert diese Triebe in die Kategorien "zulässig" und "unzulässig". - Es handelt planvoll, indem es durch Widerstand die Aufdeckung der unzulässigen Triebe verhindert. Sartre ergänzt, dass sich ähnlich auch im Hinblick auf das Es argumentieren lässt. Auch hier wird ein Katalog von Leistungen erbracht, die auf ein Bewußtsein hindeuten (Wissen des Es über die Unterdrückung seiner Triebe, Symbolisierung dieser Triebe als planvoller Widerstand gegen die Unterdrückung). - Sartre weist ausserdem darauf hin, dass die symbolischen Ersatzbefriedigungen zu bewußter Lust führen können (Karl May hatte eben mehr Freude am Schildern dunkler Schluchten als am Schildern anderer Landschaftstypen). Es handelt sich dabei um die Lust beim Erreichen eines Ziels, gleichzeitig soll dieses Ziel aber ganz unbewußt sein! Sartre gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Psychoanalyse nicht nur den Schlechten Glauben nicht erklären kann, sondern ihre Grundannahme unbewußter Teile der Psyche, die mit den bewußten interagieren, aufgegeben werden muss. Er beruft sich dabei auf einen Gegner Freuds, den Wiener Psychiater Stekel, der aus seinen Erfahrungen mit der Psychoanalyse folgerte, dass die aufgedeckten Komplexe in Wahrheit immer bewußte Komplexe sind (woraus folgt, dass sich die Patienten vor der Analyse einfach in Schlechtem Glauben befunden haben). Ich halte den Kernpunkt von Sartres Argumentation gegen Freud für anfechtbar: Wenn man annimmt, dass Bewußtseinsvorgänge kausal von ausserhalb des Bewußtseins bestimmt werden können (wir wissen, dass Sartre das leugnet), besteht kein Grund, warum nicht Symbolisierungen, Widerstände usw. auf eine Art Mechanik hinter den Kulissen (oder im Gehirn) zurückgeführt werden können, deren Leistungen Bewußtsein lediglich vortäuschen (wie ein Computer bewußtes Verhalten vortäuschen kann). Über-Ich und Es wären Blackbox-Instanzen, die wir postulieren müssen, weil sie uns erlauben, bestimmte menschliche Verhaltensweisen zu prognostizieren (z. B. die bevorzugte Beschreibung von Schluchten durch Ex-Sträflinge). - Ich denke aber, dass man nach besseren Argumenten gegen die Freudschen Thesen (und gegen Schmidts Karl-May-Buch) nicht lange suchen muss. Schlechter Glaube in der Praxis Sartre gibt einige Beispiele für Menschen, die sich im Zustande des Schlechten Glaubens befinden. Ich verzichte darauf, sie hier auszubreiten, und komme gleich zum wesentlichen Punkt: Der Schlechte Glaube stützt sich wesentlich auf gewisse Zweideutigkeien des Menschen. Wir hatten mit einer dieser Zweideutigkeiten bereits zu tun: Es handelt sich um die Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst. - Wir hatten gesehen, dass für Sartre das Wesen des Bewußtseins von den tatsächlichen Inhalten / Akten des Bewußtseins im Laufe der Zeit bestimmt wird. Da diese Inhalte weder von ausserhalb des Bewußtseins kausal bestimmt werden, noch durch eine bewußtseinsimmanente Kausalität, ist diese Wesensbestimmung niemals abgeschlossen. Was immer ich (als Bewußtsein) bin, bin ich schon gewesen, wie Sartre meint (er zitiert dabei ein nicht nachweisbares Hegelzitat, "Wesen ist immer gewesen sein."). - Was soll das bedeuten? Nichtidentität des Bewußtseins mit sich selbst im schwächeren Sinne Nun, es bedeutet einfach: Wenn ich über das Bewußtsein sage, dass es so-und-so ist, kann eine solche Behauptung ihre Stütze immer nur in der Vergangenheit des Bewußtseins finden. Über diese Vergangenheit ist das Bewußtsein aber in seiner aktuellen Gegenwart bereits hinaus. - Der Satz "Ich bin friedfertig" ist spekulativ (bezieht sich auf eine ideale Ich-Einheit), wenn ich ihn auch auf die Zukunft des Bewußtseins beziehe. Was ich in Wahrheit sagen kann, ist z. B., dass ich bis jetzt nie mit destruktivem Zorn auf Provokationen reagiert habe. Da die bisherigen Bewußtseinsakte aber zukünftige Bewußtseinsakte (und damit vergangene menschliche Handlungsweisen zukünftige) nicht bestimmen können, ist es denkbar, dass ich unmittelbar nach der Behauptung "Ich bin friedfertig" einen Anfall von Aggressivität erleide (im Sinne Sartres: erzeuge), der die Wahrheit der Behauptung zerstört. Ich bin also nie, was ich bin - zumindest, solange ich lebe. Sartre nimmt in diesem Zusammenhang zu einem möglichen Gegenargument Stellung, nach dem ich, wenn ich z. B. traurig bin, doch sein muss, was ich bin, nämlich traurig. Das Argument macht nur dann Sinn, wenn man annimmt, dass die Traurigkeit als Gefühlszustand etwas ist, dem das Bewußtsein passiv ausgeliefert ist. - Wie wir uns denken können, bestreitet Sartre das: Er behauptet, dass ich für meine Gefühle verantwortlich bin, sie selbst hervorbringe und im Dasein erhalte. - Es muss darauf hingewiesen werden, dass Sartre in "Das Sein und das Nichts" keine Theorie der Gefühle liefert. Er hat sie nämlich schon vorher geliefert, nämlich in seinem frühen Aufsatz "Skizze einer Theorie der Emotionen". Eine Zusammenfassung dieses Werkes werde ich später einfügen. Die angebliche Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst scheint bis jetzt nicht sonderlich spektakulär zu sein, da der Gegensatz Vergangenheit - Zukunft einen Unterschied der Hinsichten andeutet: In der einen Hinsicht ist das Bewußtsein fixiert, in der anderen offen. Die kontradiktorische Wendung scheint also durch eine andere Beschreibung vermieden werden zu können (die Sartre aufgrund seiner individualisierten Auffassung vom Wesen des Bewußtseins nicht möglich ist). Sartre steht übrigens auf dem Standpunkt, dass das nicht der Fall ist, wie sich in seiner Diskussion der Zeit zeigen wird. - Doch wir werden gleich sehen, dass es für Sartre eine zweite, viel wichtigere Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst gibt, die hier und jetzt besteht und weniger leicht eliminierbar ist. Ausbeutung dieser Nichtidentität durch den Schlechten Glauben Der Schlechte Glaube in der Praxis benutzt die schwächere Form der Nicht-Identität gewissermassen als Werkzeug, während er seine Möglichkeit der stärkeren Nicht-Identität verdankt. - Letzteres wird Sartre uns im Anschluss erklären. Sartre konstatiert, dass Menschen gerne ihre Doppelnatur als Faktizität und Transzendenz dazu benutzen, um je nach Bedarf eine dieser Seiten zu verabsolutieren und die andere zu leugnen. Was sind Faktizität und Transzendenz des Menschen? Die Begriffe beziehen sich auf die eben erwähnte Form der Nicht-Identität mit sich selbst: Faktizität meint die Vergangenheit des Bewußtseins, oder - wenn wir vom Menschen sprechen - die bisherige Lebensgeschichte. Transzendenz meint hingegen die ständige Möglichkeit des Menschen, seine Faktizität frei zu überschreiten (indem der Mensch / das Bewußtsein durch neue Entscheidungen sein Wesen ändert). Sartres Kennzeichnung der entsprechenden Verhaltensweisen als Schlechter Glaube impliziert, dass er davon ausgeht, dass eine Reduktion des Menschen auf einen der beiden Aspekte Transzendenz oder Faktizität falsch ist. Der Mensch ist beides. - Wer seine Vergangenheit, weil man ihm z. B. deswegen Vorwürfe macht, verleugnet mit dem Hinweis, dass er ja völlig frei sei, sich sozusagen neu zu erfinden, flüchtet sich aus dem Aspekt Faktizität in den Aspekt Transzendenz. Wer umgekehrt wie Popeye sagt "Ich bin, was ich bin" und damit meint, dass er sich nie ändern wird, flieht vor seiner Freiheit (also vor seiner Transzendenz) in die Faktizität. Dieses Verfahren benutzt auch der Kellner in Sartres bekanntestem Beispiel für Schlechten Glauben. Der Kellner ist Kellner aufgrund seiner Faktizität (seine Lebensumstände und seine vergangenen Entscheidungen haben ihn in diese soziale Rolle gebracht), aber als transzendentes Wesen ist er kein Kellner, da seine prinzipielle Freiheit im Hinblick auf sein Kellnersein (die permanente Möglichkeit, die Stelle zu kündigen, oder sich konträr zu den damit verbundenen Erwartungen von Kunden und Vorgesetzten zu verhalten) es unmöglich macht, ihn auf diese Faktizität zu reduzieren. Trotzdem genießt es der Kellner, seine soziale Rolle mit den Gesten eines Roboters auszufüllen und sich so einzureden, dass er eben Kellner und nur Kellner sei. Warum tut er das? Weil ihn die Vorstellung, dass sein Kellner-Sein frei gewählt ist, in Angst versetzen würde. Der Mensch für Andere und für sich Während jedes Bewußtsein sich seiner prinzipiellen Offenheit / Uneindeutigkeit bewußt ist, können uns andere Menschen als durchaus fixiert erscheinen - als das, was sie sind. Sartre wird diesem Phänomen, das er als "Sein für Andere" bezeichnet, später viel Raum widmen. Hier sei nur Folgendes vorweggenommen: Andere sind für mich das, was sie sind, wenn meine Rolle ihnen gegenüber die eines Beobachters oder eines Instrumentalisierers ist. Aus dieser Position heraus erscheinen mir Andere als Dinge mit bestimmten Eigenschaften, deren Verhalten ich prognostizieren und vielleicht ausnutzen kann. Doch diese Position kann nicht in allen Fällen eingenommen werden. Es kann z. B. geschehen, dass Andere mich beobachten und instrumentalisieren. In diesem Falle bin ich der Objektivierte, während mir die Freiheit des Anderen - auf eine unangenehme Art - evident wird. Ein weiterer Ausgangspunkt für den Schlechten Glauben ist, dass ich auch mir selbst gegenüber den Standpunkt des Anderen einnehmen kann: Ich kann so tun, als sähe ich mich mit den Augen des Anderen. Da eine solche Selbstobjektivierung meiner Freiheit widerspricht, führt sie unmittelbar in den Schlechten Glauben. Ich übernehme die Meinung der Anderen über mich als Selbstbild, um so der Angst auszuweichen. - Die Dualität Sein-für-mich / Sein-für-Andere ist also eine weitere Zweideutigkeit des Menschen, die für den Schlechten Glauben ausgenutzt werden kann. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst Da der Schlechte Glaube eine Art Unehrlichkeit gegenüber sich selbst impliziert, könnte man jetzt meinen, dass es darauf ankäme, sich selbst gegenüber ehrlich zu werden. Doch Sartre hält Ehrlichkeit sich selbst gegenüber für unmöglich! Was umso überraschender ist, wenn man gehört hat, dass Sartre ein "Philosoph der Authentizität" sei. - Warum ist Sartre dieser Auffassung? Sartre definiert Ehrlichkeit gegenüber sich selbst zunächst als Ideal, zu sein, was man ist (und weist darauf hin, dass dieses Ideal impliziert, dass man häufig nicht ist, was man ist). - Das wirkt merkwürdig: Geht es dabei nicht eher darum, zu akzeptieren, was man ist? Doch für Sartres Argumentation ist das nicht von Belang. Wenn ich akzeptieren soll, was ich bin, muss ich zunächst etwas Bestimmtes sein. Und hier liegt für Sartre der kritische Punkt: Ehrlichkeit gegenüber sich selbst müsste voraussetzen, dass man ist, was man ist. Doch genau das ist man ja nicht! - Die Nichtidentität des Bewußtseins mit sich selbst heisst, dass es nicht ist, was es ist, woraus folgt, dass es unmöglich akzeptieren kann, was es ist. Die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist also ein unerfüllbares Ideal. Als Beispiel für das Scheitern dieses Ideals führt Sartre einen Menschen an, der "Ich bin böse!" sagt, was auf den ersten Blick sehr ehrlich wirkt (vorausgesetzt, dass der Satz nicht von Mutter Theresa geäußert wird - denn dann wäre er vielleicht eine Lüge). Doch was ist wirklich geschehen, als sich der Mensch als böse definierte? Sartre sagt: Er hat sich selbst verobjektiviert und gegenüber diesem Objekt einen Standpunkt eingenommen. Und in dieser Position ist er frei, auch seinem Böse-sein gegenüber! Wer so spricht wie dieser Mensch möchte damit gerade nicht die Fixiertheit seiner Eigenschaften betonen, sondern im Gegenteil seine Souveränität gegenüber dem, was er von sich aussagt. - Ich denke, dass Sartre hier eine alltagspsychologische Wahrheit ausspricht. Die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist also lediglich eine weitere Variante des Schlechten Glaubens. Der Glaube des Schlechten Glaubens Ich beginne diesen Abschnitt ausnahmsweise mit einem Zitat: "Die Möglichkeitsbedingung der Unaufrichtigkeit ist, dass die menschliche-Realität in ihrem unmittelbarsten Sein, in der Innenstruktur des präreflexiven Cogito das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist." - Sartre verspricht uns hier, für die Erklärung des Schlechten Glaubens auf die stärkere Form der Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst zurückzugreifen und diese damit - endlich - näher zu erklären. Das Problem, das eine Auflösung fordert, besteht darin, dass der Schlechte Glaube widersprüchlich ist: Ein Mensch in diesem Zustand ist sich bewußt, dass nicht zutrifft, was er glaubt. Sartre denkt, dass sich diese Konstruktion in der Form eines permanenten Hin- und Herpendelns zwischen dem naiven Glauben an das, was man sich einreden will, und dem zynischen Wissen um die Falschheit dieses Glaubens realisiert. Sie bildet mit seinen Worten ein "metastabiles System". - Warum führt Sartre diese Dynamizität ein? Weil sie den Widerspruch zunächst einmal beseitigt. Das Bewußtsein befindet sich, wenn es in diesem Sinne metastabil ist, nämlich nie zum selben Zeitpunkt im Zustand des naiven Glaubens und im Zustande des Zynismus. Der Widerspruch drängt sich als Beschreibung nur dann auf, wenn wir das Bewußtsein über einen längeren Zeitraum betrachten. (Ich denke hier an den Zeichentrickfilm "Yellow Submarine". Durch einen Farbwechsel von Bild zu Bild hat der Zeichner einen Würfel in den Film integriert, der sowohl rot als auch grün ist. Der Betrachter ist geneigt, diese Formulierung zu wählen, obwohl ihm der permanente Wechsel von rot und grün als Ursache des Effektes klar ist.) - Ich erwähne das hier, um zu zeigen, dass Sartre gewöhnlich durchaus bestrebt ist, Widersprüche aus seiner Philosophie zu entfernen. Doch dieses Bestreben endet, wie wir gleich sehen werden, wenn es um das präreflexive Bewußtsein geht. Was erklärt werden muss, ist also das "metastabile System". Wie ist es möglich, dass das System nicht zur Ruhe kommen kann? Sartre hält es für nötig, hier das Phänomen des Glaubens näher ins Auge zu fassen, denn schließlich glaubt ein Mensch in Schlechtem Glauben an das, was er sich eingeredet hat. Sartre unterscheidet hier den naiven Glauben vom bewußten Glauben. Der naive Glaube ist sich nicht bewußt, dass er glaubt, er beinhaltet sozusagen eine direkte und einfache Relation zum geglaubten Sachverhalt. Doch der naive Glaube ist im Bewußtsein und damit bewußt! Wer glaubt, muss sich also bewußt sein, dass er glaubt. Doch wer sich bewußt ist, dass er glaubt - so Sartre - ist sich auch bewußt, dass er "nur" glaubt, d. h. dass er den geglaubten Sachverhalt willkürlich und unbewiesen annimmt. Die einfache und direkte Verbindung zum Gegenstand des Glaubens ist damit zerstört und damit der Glaube selbst! - Glaube ist also eine widersprüchliche Angelegenheit, da sich der Glaube durch sein Bewußtwerden selbst zerstört. Und diese Zerstörung tritt nicht nachträglich auf (ich glaube eine Zeitlang naiv, werde mir dann bewußt, dass ich glaube und glaube somit nicht mehr) sondern unmittelbar, da ein Glaube ohne Bewußtheit unmöglich ist. Und schon sind mir mitten im präreflexiven Bewußtsein gelandet, denn für den Glauben gilt lediglich, was für jedes Bewußtseinsphänomen gilt: Er ist bewußt. Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem Sartre den Widerspruch für unaufhebbar hält. Worin besteht er? - Wir erinnern uns, dass auf der präreflexiven Ebene Bewußtseinstatsachen nicht begriffen werden (das geschieht erst in der Reflexion), aber vorbegrifflich bewußt sind. Nehmen wir den Glauben als Bewußtseinsphänomen, heisst das: Wer glaubt, ist sich bewußt, dass er glaubt. Nun ist der Satz "ich glaube an etwas" mit dem Satz "ich bin mir bewußt, dass ich an etwas glaube" nicht identisch. Beide Sätze haben eine unterschiedliche Bedeutung! Glaube ist nicht identisch mit Bewußtsein von Glaube. Wenn mit der Wahrheit des einen Satzes dennoch die Wahrheit des anderen Satzes gegeben sein muss, wie es für Sartre aus der Natur des Bewußtseins folgt, liegt ein Widerspruch vor: Glaube ist nicht Bewußtsein von Glaube und ist Bewußtsein von Glaube: "Das ontologische Urteil 'Der Glaube ist Bewußtsein (von) Glaube' kann daher keinesfalls als ein Identitätsurteil genommen werden: Subjekt und Attribut sind radikal voneinander verschieden, jedoch in der unauflösbaren Einheit eines selben Seins." (Die Einklammerung des "von" symbolisiert die Untrennbarkeit.) Wie bekannt, zieht Sartre daraus nicht etwa den Schluss, dass seine Analyse falsch sein muss, weil sie paradoxe Konsequenzen hat, sondern den ganz anderen, dass die Widersprüchlichkeit ontologisches Kennzeichen des Bewußtseins ist. - Wie gelangen wir von dieser Widersprüchlichkeit zur Metastabilität? Dieses dynamische Phänomen tritt erst auf der reflexiven Ebene ein. Wenn ich auf das Bewußtseinsphänomen Glaube reflektiere, gelange ich von der Beschreibung "Ich glaube" automatisch auf die Beschreibung "Ich bin mir bewußt, dass ich glaube" und von dieser Beschreibung wieder zurück auf die erste. Die Widersprüchlichkeit auf der nicht-reflexiven Ebene kann sozusagen nicht verarbeitet werden, was zu einem permanenten Übergang führt. - Die metastabilen Systeme Sartres erinnern an die Hölle in Thomas Manns Roman "Dr. Faustus", in der die Verdammten permanent vor unerträglicher Hitze in unerträgliche Kälte und aus dieser zurück in die Hitze fliehen. Die Uneindeutigkeit aller Bewußtseinsphänomene hat, wie wir gesehen haben, für den Glauben eine besondere Konsequenz, nämlich die, dass jeder Glaube unmöglicher Glaube ist. Und hier setzt die Unaufrichtigkeit ein: Wenn Glaube immer falsch ist, kann ich an alles glauben, was ich glauben will. Es spielt keine Rolle, dass der nur meinen Wünschen (z. B. nach Befreiung von Angst) folgende Glaube sich selbst zerstört, denn das würde ja jeder andere Glaube gleichfalls tun. Der Schlechte Glaube ist - so Sartre - unvermeidlich: Was immer ich über mich selbst glaube, ist schlechter Glaube und wenn ich versuche, ehrlich gegenüber mir selbst zu sein, ist das lediglich eine weitere Art von Schlechtem Glauben (da ich dafür glauben muss, dass ich bin, was ich bin). Wenn Authentizität nur Ehrlichkeit gegenüber mir selbst ist, heisst das, dass sie ein unmögliches Ideal ist. - In einer Fussnote am Schluss des Kapitels bestreitet Sartre das und grenzt den Authentizitätsbegriff damit ab, ohne allerdings nähere Erklärungen zu liefern: "Wenn es gleichgültig ist, ob man aufrichtig oder unaufrichtig ist [...], so soll das nicht heißen, dass man der Unaufrichtigkeit nicht radikal entgehen könnte. Aber das setzt eine Übernahme des verdorbenen Seins durch sich selbst voraus, die wir Authentizität nennen werden und deren Beschreibung nicht hierhergehört." Man kann zu Sartres Theorie des Schlechten Glaubens - denke ich - eine Menge kritischer Fragen stellen, z. B.: Entspricht Sartres Beschreibung des Glaubens wirklich dem, was wir normalerweise als "Glauben" bezeichnen? Und wenn nicht, haben wir es hier möglicherweise mit einem Übersetzungsproblem zu tun? Und kann man tatsächlich glauben, was man will? Kann ich mich z. B. dafür entscheiden, daran zu glauben, dass ich Geld habe, wenn ich keines habe? Wenn das nämlich nicht so ist, stellt sich die Frage, warum ich mich in bestimmten Fällen für einen Glauben entscheiden kann, und in anderen nicht (was wiederum darauf hindeuten würde, dass Sartres Erklärung des Glaubens nicht ausreichend ist). - Doch da Sartres Argumentation als solche klar genug ist, würde das zu weit führen. Nachdem Sartre im Zusammenhang mit dem Schlechten Glauben die wesentliche Nicht-Identität des Bewußtseins (= Sein-für-sich) mit sich selbst aufgedeckt hat, kann er nun zu einer erschöpfenden Beschreibung ausholen. - Dabei wird er uns mit einer Reihe metaphorischer Begrifflichkeiten eindecken, deren Notwendigkeit sich offenbar ergibt, wenn man versucht, über ein in sich widersprüchliches Ding zu sprechen. Insofern alles, was im Bewußtsein vor sich geht, bewußt ist, das Bewußtsein aber auch nicht mehr ist, als das, was in ihm vorgeht, kann man sagen, dass es für einen Zeugen existiert, der es selbst ist. Zeuge und Bezeugtes befinden sich in einer seltsamen Art von Einheit, die gleichzeitig Dualität ist. - Anstatt von "Zeuge" und "Bezeugtes" kann man auch von Spiegelung und Gespiegeltem sprechen (Sartre zieht dieses Bild vor). Das Bewußtsein ist eine Dualität, die Einheit ist, eine Spiegelung, die das Gespiegelte ist. - Versuchen wir (auf der Ebene des reflexiven Bewußtseins) eine der beiden Komponenten der Dualität zu fokussieren, werden wir sofort auf die jeweils andere Komponente und damit auf ihre Einheit verwiesen. Versuchen wir dagegen, die Einheit beider als solche ins Auge zu fassen, finden wir nur die beiden Komponenten. Es ist also unmöglich, durch Reflexion das Bewußtsein als etwas zu erfassen, das mit sich identisch ist. Sartre würde vermutlich darauf bestehen, dass der Zugang durch Introspektion der einzige mögliche Zugang zum Bewußtsein ist, so dass das Ergebnis dieser Introspektion (die Nicht-Identität mit sich selbst) evident ist. - Gesetzt den Fall, dass Sartre hier Recht hat, stehen wir vor dem Problem zweier Evidenzen, die zueinander im Widerspruch stehen: Die Evidenz der Reflexion (die uns sagt, dass das Bewußtsein nicht ist, was es ist) und die Evidenz der Logik, die uns versichert, dass ein Ding sein muss, was es ist. Sartre erwähnt die logische Evidenz übrigens mit keinem Wort. Ohne darüber zu diskutieren, hat er sich für die Evidenz der Reflexion entschieden: Wenn die Introspektion uns verrät, dass es logisch widersprüchliche Sachverhalte gibt, um so schlimmer für die Logik. - Natürlich hätte er auch ganz anders vorgehen können: Er hätte von der logischen Widersprüchlichkeit ihres Ergebnisses auf die Untauglichkeit der Introspektion als Instrument zur Wahrheitsfindung schliessen können (oder darauf, dass sie irgendwie falsch durchgeführt wurde). - (Ich denke, dass diese Entscheidung Sartres seine Ontologie hinfällig macht, vermute aber, dass sich andere Teile seiner Philosophie- insbesondere seine Philosophie der Freiheit - ohne Schaden davon abkoppeln lassen.) Das Bewußtsein ist Bewußtsein von sich und dieses "sich" rechtfertigt es, es als Sein-für-sich zu bezeichnen. Da das An-sich keine Dualität aufweist (es sei denn als unendlich dichte Vereinigung), ist das "sich" in "Sein-an-sich" irreführend. - Sartre bezeichnet die Dualität des Bewußtseins als Anwesenheit bei sich. Da es sich dabei nicht um eine echte Dualität handelt (sonst bestünde kein Widerspruch mit sich selbst) beschreibt Sartre die Anwesenheit bei sich als "instabiles Gleichgewicht zwischen Dualität und Identität". Wir sollten uns an dieser Stelle klarmachen, dass der Begriff einer Nicht-Identität mit sich selbst Identität impliziert: Was nicht mit sich selbst identisch ist, muss gleichzeitig mit sich identisch sein, da sonst der Ausdruck "sich selbst" seinen Sinn verliert. - Wenn etwas nicht mit sich identisch ist, heisst das: Es ist mit sich identisch und ist nicht mit sich identisch (oder mit einer Wendung Sartres: Es ist mit sich identisch, aber "im Modus der Nicht-Identität"). - (Aus dieser Anmerkung soll man nicht folgern, dass ich den Ehrgeiz habe, Cheflogiker der Hölle zu werden. Der Hinweis wird seine Wichtigkeit offenbaren, wenn es um die Diskussion der Zeit geht.) Die Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich selbst hat Sartre dazu geführt, das Nichts als Quelle jeder Negation in ihm zu verorten. Sartre fragt nun, in welcher Form das Nichts im Bewußtsein ist und kommt zu der Schlussfolgerung, dass es nicht in Form eines Abstandes vorliegen kann. Ein Abstand trennt zwei Dinge dadurch, dass ein Etwas zwischen sie geschoben wurde. Ein Etwas ist aber positiv und daher nicht das Nichts. Da das Nichts also kein Etwas sein kann, ist es unmöglich, es durch Introspektion aufzuweisen (in dem Sinne, dass ich auf mein Bewußtsein reflektiere, und dann sage: "Aha, da ist es ja, das Nichts!"). Das Nichts ist zwar das, was Glaube und Bewußtsein von Glaube voneinander trennt, ein "Riss" im Bewußtsein, wie Sartre sagt, dieser Riss ist aber unendlich klein. - Man sieht, auf was diese Betrachtungen Sartres hinauslaufen: Auf eine unglückliche Verbildlichung der logischen Nicht-Identität. Warum merkt er an dieser Stelle nicht, dass die Vergegenständlichung des Nichts keine gute Idee war? Sartre präsentiert seine Ontologie des Für-sich in diesem Zusammenhang übrigens als Lösung für ein von Spinoza aufgeworfenes Problem, das man in diesem Kontext so beschreiben kann: Wenn ich mir bewußt bin, dass ich glaube, bin ich mir auch bewußt, dass ich mir bewußt bin, dass ich glaube usw. Wir stoßen also auf einen Regress, der zu der unhaltbaren Konsequenz führt, dass ich mir unendlich vieler Sachverhalte bewußt sein muss, mein Bewußtsein also über eine Art unendlicher Kapazität verfügen muss. - In Sartres Theorie tritt das Problem nicht auf, da das Bewußtsein von Glaube ja mit dem Glauben zusammenfällt (und damit das Bewußtsein des Bewußtseins von Glaube mit dem Bewußtsein von Glaube usw.) und sich eine Unendlichkeit lediglich in der Form der unendlichen Hin- und Herbewegung bei dem Versuch, den Glauben reflexiv begrifflich zu erfassen, ergeben kann: "Bewußtsein (von) Glaube und Glaube sind also ein und dasselbe Sein, dessen Charakteristikum die absolute Immanenz ist. Sobald man aber dieses Sein erfassen will, entgleitet es zwischen den Fingern, [...]." Ich möchte hier kurz eine andere Möglichkeit ansprechen, das Problem zu lösen, die von Wittgenstein angedeutet wurde: Dass ich mir bewußt bin, dass ich glaube, drückt kein Bewußtseinsfaktum aus, sondern eine Disposition: Wenn man mich fragt, ob ich mir bewußt bin, dass ich glaube, kann ich darauf z. B. mit Ja antworten. "Bewußtsein von Glaube" besagt nicht mehr als nur das Bestehen dieser Disposition. Eine Unendlichkeit von Dispositionen wirft nun kein besonderes Problem auf: Sie besagt lediglich, dass ich auf unendlich viele Fragen (z. B. die Frage, ob ich mir bewußt bin, dass ich mir bewußt bin, zu glauben) mit Ja antworten könnte. (Sie besagt eben nicht, dass diese Unendlichkeit schon irgendwo existiert.) - Die scheinbare Widersprüchlichkeit des Bewußtseins bei Sartre ergibt sich, wie viele Probleme im Zusammenhang mit dem Bewußtsein, daraus, dass man bewußtseinsunabhängige Sachverhalte, die man nicht genau verorten kann, unrechtmäßig in das Bewußtsein hineinprojiziert. Wer sagt "Es gibt ein Ding, das nicht mit sich identisch ist" benutzt darin die Wendung "Es gibt". Er spricht also über etwas, das existiert, selbst wenn es "in seinem Sein von Nichts durchzogen" ist und "nicht ist, was es ist und ist, was es nicht ist" (oder umgekehrt). Als existierendes Etwas ist es, trotz seiner inneren Uneindeutigkeit, bestimmbar: Z. B. kann ich über einen Menschen (ein Bewußtsein) sagen, dass er im 21. Jahrhundert in Deutschland lebt und in ärmliche Verhältnisse hineingeboren wurde. Selbst wenn das Bewußtsein völlig frei ist, befindet es sich in einem bestimmten zeitlichen Kontext, den es nicht gewählt hat. (Seinen räumlichen Kontext kann es meistens verändern, aber nur ausgehend von einem bestimmten räumlichen Ausgangspunkt, der wiederum nicht frei gewählt wurde.) Daraus ergibt sich nur scheinbar eine Beschränkung der Freiheit des Bewußtseins: Sartre wird später darlegen, dass die Freiheit der Wahl zur Voraussetzung hat, dass es Wahlmöglichkeiten gibt, die ihrerseits nicht Gegenstand einer Wahl sind. (Die Menschen, die zu der Entscheidung gezwungen waren, entweder bei lebendigem Leib zu verbrennen oder sich aus den oberen Stockwerken des World Trade Centers zu Tode zu stürzen, waren völlig frei - auch wenn ihr Entscheidungsspielraum schmal war.) Diese bestimmbare Seite des Für-sich bezeichnet Sartre als seine Faktizität. An ihr kann man zwei Aspekte unterscheiden: Zu meiner Faktizität gehören die Umstände, unter denen ich existiere, und auch, dass ich überhaupt existiere. Mit diesem Aspekt befasst sich Sartre zuerst. Leider ist es hier notwendig, wieder auf das vergegenständlichte Nichts zurückzugehen. Das Nichts existiert im Kern des Für-sich als die Lücke, die die beiden Komponenten der Totalität des Für-sich voneinander trennt. Erinnern wir uns, dass Sartre den parasitären Charakter des Nichts betont hatte: Ein Nichts ist immer relativ auf ein Sein. Aus dieser Feststellung (die sich bei nüchterner Betrachtung auf die Feststellung reduzieren lässt, dass jede Negation etwas voraussetzt, das negiert wird) leitet Sartre seltsamerweise ab, dass das Nichts vom Sein erzeugt worden sein muss. Diesen metaphysischen Mythos bezeichnet er als das "absolute Ereignis". Er beginnt (wie alle Mythen, ausserhalb der Zeit) mit dem Versuch des Seins-an-sich, sich selbst zu begründen. - Um das zu verstehen, müssen wir den Begriff "Grund" ins Auge fassen. Schopenhauer hatte als erster beschrieben, dass das Wort "Grund" in unterschiedlichen Bedeutungen benutzt wird: Er unterscheidet die Bedeutungen Motiv, Erkenntnisgrund, Ursache und Seinsgrund. Ein Erkenntnisgrund ist eine Aussage, aus deren Wahrheit die Wahrheit einer anderen Aussage abgeleitet werden kann. Seinsgrund und Ursache lassen sich nicht allzu deutlich auseinanderhalten: Der Seinsgrund eines Dings ist etwas, ohne dass dieses Ding nicht existieren würde, was natürlich auch auf eine Ursache bezogen werden kann (aber auch z. B. auf den Zweck eines Werkzeugs - ohne den im Kopf des Handwerkers gesetzten Zweck, zu schneiden, würde es das Papiermesser nicht geben). Wenn ich eine Ursache oder einen Seinsgrund für ein Ding oder einen Sachverhalt finde, finde ich damit gleichzeitig einen Erkenntnisgrund: Die Aussage, dass der Seinsgrund oder die Ursache gegeben sind (plus der Aussage, dass solche Ursachen / Seinsgründe immer zu solchen Wirkungen führen), impliziert die Aussage, dass das Begründete existiert und ist daher ihr Erkenntnisgrund. Wenn Sartre hier von Grund oder Begründen spricht, ist primär von Seinsgründen die Rede. - Weil das Sein-an-sich keinen Seinsgrund haben kann, da es nicht entstehen kann, ist es kontingent (nicht notwendig). Sartres Mythos behauptet nun, dass das grundlose Sein-an-sich das Bestreben entwickelt, sich einen Grund zu verschaffen. Damit ein Ding einen Seinsgrund haben kann, müssen das Ding und der Seinsgrund verschiedene Dinge sein. Das Vorhaben des Seins-an-sich beginnt also mit einer Aufspaltung seiner selbst. Diese Aufspaltung ist die einzige Möglichkeit des Seins-an-sich, da es kein Sein erzeugen kann, wohl aber Nichts (bitte, ich kann nichts dafür)! Die Aufspaltung geschieht in der Hoffnung, dass, da das Sein jetzt in Distanz zu sich selbst existiert, auch eine Selbstbegründung möglich ist. Doch der Plan scheitert: Das Sein hat nicht etwa sich selbst begründet, sondern nur sein Nichts (der Grund des Nichts ist das Sein, aus dem es hervorging)! Die Dualität ist ja nicht vollständig realisiert, das alte Sein-an-sich, aus dem sie hervorging, existiert noch als die Totalität seiner Komponenten, als Totalität des Systems Spiegelung / Spiegelndes (also als Aspekt der Faktizität) und als solches ist es nach wie vor kontingent, unbegründet: "Doch dieses An-sich, versunken und genichtet in dem absoluten Ereignis, das das Erscheinen des Grundes oder das Auftauchen des Für-sich ist, bleibt innerhalb des Bewußtseins als dessen ursprüngliche Kontingenz." - Das menschliche Leben ist für Sartre, wie wir sehen werden, nichts als die tragische Fortsetzung dieser Geschichte eines Scheiterns. Ich werde das nicht kritisch kommentieren, möchte aber erwähnen, dass mich die von Sartre erzählte Geschichte an eine andere Geschichte erinnert, die Schopenhauer erzählt: Nach ihm entwickelt der Weltwille aus irgendeinem rätselhaften Grund plötzlich das Bestreben, sich in Lebewesen zu individualisieren - ein Bestreben, dass zwar glückt, aber negative Konsequenzen hat, insofern das Leben der Individuen wesentlich von Leid geprägt ist, so dass Schopenhauer den Abbruch des Versuches empfiehlt (nicht durch Selbstmord, sondern durch sexuelle Enthaltsamkeit). Die Kontingenz und Gott als notwendiges Wesen Das Bewußtsein ist kontingent, insofern es als Totalität an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit existiert. Sartre hatte einmal gesagt, dass das Nichts im Sein ist wie der Wurm im Apfel. Beziehen wir dieses Bild auf das Sein-für-sich als die Region des Seins, in der sich das Nichts aufhält, so können wir den Apfel, wie er sich von aussen präsentiert (man kann nicht sehen, dass ihn im Inneren ein Wurm ausgehölt hat) mit unserer faktischen Existenz identifizieren: Wir existieren faktisch, so wie ein Tisch existiert. Dass unser Seinsstoff im Unterschied zum Seinsstoff des Tischs das Nichts enthält, sieht man uns nicht an, denn was man sieht, ist die Hülle von Sein-an-sich, die das ausgehöhlte Sein noch umgibt wie die Schale des Apfels sein marodes Inneres. (Ich bin überzeugt, dass Bilder dieser Art Sartres Denken stark bestimmt haben.) Da sich der Wurm jedoch aus dem Apfel entwickelt hat, teilt er dessen Kontingenz nicht. Das Nichts in uns ist nicht kontingent, sondern hat einen Seinsgrund, nämlich das Sein-an-sich, aus dem es im absoluten Ereignis hervorging. Das Für-sich hat sich (sein Nichts) insofern es An-sich ist, begründet, aber dadurch noch nicht sein An-sich. - Aufgrund der Ambivalenz des Bewußtseins, das sowohl sein Sein als auch sein Nichts ist, kann man natürlich dieses Begründetsein des Nichts als ein Selbstbegründetsein des Bewußtseins beschreiben: Das Bewußtsein ist in der Hinsicht, in der es nichts ist, begründet. Doch merkwürdigerweise identifiziert Sartre diese Notwendigkeit mit der Notwendigkeit des "Ich denke, also bin ich" und bemüht dafür Husserls Ausdruck "Notwendigkeit eines Faktums". - Doch was hat Husserl mit diesem Ausdruck gemeint? In seiner "Phänomenologischen Fundamentalbetrachtung" spricht er davon, dass das aktuelle Erlebnis (der aktuelle Bewußtseinsinhalt) notwendig existiert, weil ich darauf reflektiere, während es aber an sich ein kontingentes Faktum darstellt (die Existenz ist kein Wesensmerkmal des aktuellen Erlebnisses). Die "Notwendigkeit eines Faktums" ist also eine Notwendigkeit auf der Erkenntnisebene und besagt nichts über einen Seinsgrund des aktuellen Erlebnisses. - (Wer es besser weiss, soll mir eine Mail schicken!) Nach Sartre ist uns unsere Kontingenz (also die Grundlosigkeit unserer Existenz) bewusst. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Descartes, der dieses Bewußtsein bereits in seinem Cogito-Experiment erfasst, aber missverstanden habe. Die Rede ist von Descartes Gottesbeweis (oder eigentlich: von einem seiner Gottesbeweise). - Wie hatte Descartes argumentiert? Descartes Beweis ging von der Feststellung aus, dass wir uns unserer Unvollkommenheit bewußt sind, aber gleichzeitig den Begriff von Vollkommenheit besitzen. Hätten wir uns nun selbst erzeugt (wären wir unser eigener Seinsgrund), so hätten wir uns natürlich als vollkommene Wesen erzeugt und nicht als unvollkommene. Für Sartre liegt der Fehler Descartes darin, dass er nicht an diesem Punkt stehenbleibt, sondern weiter argumentiert: Aus dem Begriff der Vollkommenheit, den wir in uns vorfinden, müsse man schliessen, dass es ein vollkommenes Wesen gibt (da ein Konzept von Vollkommenheit in einem unvollkommenen Wesen nicht aus diesem selbst stammen könne). Descartes gelangt zu der Schlussfolgerung, dass dieses vollkommene Wesen der Grund für unsere Existenz als unvollkommene Wesen sein muss. Dieser Beweis alleine konnte für Descartes nicht alles sein: Dass der Mensch seinen Seinsgrund in einem höheren Wesen haben muss, ist lediglich ein befriedigendes Zwischenergebnis, da man ja immer noch nach dem Seinsgrund dieses vollkommenen Wesens fragen kann. - Die Antwort darauf liefert Descartes mit seiner Übernahme des ontologischen Gottesbeweises, die darauf hinausläuft, dass ein vollkommenes Wesen zwingend existieren muss, da Nichtexistenz eine Form der Unvollkommenheit ist. Descartes Bewußtsein seiner Kontingenz hat ihn also gleich dazu geführt, die Kontingenz durch Rückgriff auf Gott abzuschwächen: Zwar sind wir kontingent, aber immerhin ist unser Seinsgrund nicht kontingent. - Sartre lehnt diese Relativierung der Kontingenz strikt ab und leugnet, dass es nicht kontingente Wesen geben kann. Sein Standpunkt ist: Wir sind kontingent und wir wurden nicht erschaffen - und damit müssen wir leben! Ein Wesen, dass existieren muss, da die Existenz zu seinem Begriff gehört, wird auch als notwendig existierendes Wesen bezeichnet und bildet den Gegenpol zu einem nur kontingent existierenden Wesen. - Sartre geht in seiner Kritik an diesem Beweis nicht den üblichen Weg, der darin besteht, zu zeigen, dass Existenz generell kein Prädikat sein kann und damit auch nicht das Prädikat eines vollkommenen Wesens. Sondern er betont zunächst - wie eben bereits erwähnt - die Notwendigkeit einer Dualität, die für jede Selbstbegründung besteht: Wenn Gott sein eigener Seinsgrund ist, hat er vorher bereits existiert, und zwar unbegründet, kontingent. - Doch trifft das den ontologischen Beweis wirklich? Behauptet der Beweis, wenn er behauptet, dass Gottes Existenz aus seinem Begriff folgt, dass Gott der Grund seiner Existenz ist? Behauptet der Beweis nicht eher, dass Gott gar keinen Seinsgrund benötigt, da seine Existenz aus logischen Gründen notwendig ist? Sartre bringt dann eine zweites Argument gegen den ontologischen Beweis anhand seiner Leibnizschen Variante. Leibniz definiert das Notwendige als ein Sein, dessen Möglichkeit die Existenz impliziert. - Er meint damit folgendes: Wenn ich den Begriff eines Wesens besitze, dessen Prädikate sich nicht widersprechen, ist dieses Wesen möglich (ein viereckiger Kreis ist nicht möglich, ein grüner Schwan jedoch schon). Wenn dieser Begriff nun Existenz als Prädikat umfasst (wie der Begriff des vollkommensten Wesens) heisst das, dass aus der Möglichkeit eines solchen Wesens seine Existenz folgt: Das Wesen ist in diesem Falle notwendig. (Die Variante unterscheidet sich nicht wesentlich von der älteren Version des Beweises.) - Leibniz meint mit Möglichkeit die logische Möglichkeit, und nicht die Realmöglichkeit (die Unterscheidung ist uns schon begegnet), für Sartres Argumentation ist das jedoch gleichgültig. Wenn etwas nur möglich ist, ist es nicht wirklich. Möglichkeit impliziert also Negation, woraus folgt, dass das Sein-an-sich, so wie Sartre es charakterisiert hat, keine Möglichkeiten haben kann: Möglichkeiten werden, wie alle negativen Sachverhalte, vom Bewußtsein erzeugt. - Sartre illustriert das anhand einer Billiardkugel, deren Bahn durch eine Falte im Filz beeinflusst werden könnte. Diese Möglichkeit besteht - so Sartre - nicht für die Billiardkugel selbst, sonst ausschließlich für den Billiardspieler als Zeuge der Situation. Nun ist die Existenz der Billiardkugel als von anderen Dingen unterschiedenes Ding im Sinne Sartres ebenfalls nur für das Bewußtsein. Das Sein-an-sich ist ja frei von Negativität und daher nicht in Dinge unterteilt. (Die Dinge existieren zwar objektiv, aber lediglich deshalb, weil die auf das Sein-an-sich übertragene Negativität des Bewußtseins selbst objektiv ist - nämlich als Nichts im Für-sich.) - Wir sehen hier, wie an vielen anderen Stellen, dass Sartre das bereits zur Welt gewordene Sein-an-sich immer noch als Sein-an-sich anspricht: Wir sollten uns hier an die Grundstoff-Interpretation von Sartres Grundbegriff erinnern. Die Kugel wurde zwar vom Bewußtsein aus dem Sein-an-sich quasi herausgeschnitten, behält davon abgesehen jedoch die Charakteristiken des Seins-an-sich, das ihr Stoff ist. Sartres Argument besagt dann, dass eine Möglichkeit, die dem Sein äußerlich ist (wie die Möglichkeiten der Billiardkugel der Billiardkugel - insofern sie Sein-an-sich ist - äußerlich sind) nicht in der Lage sein kann, ein Sein zu begründen. Aus einer Möglichkeit kann also keinesfalls die notwendige Existenz eines Dings abgeleitet werden. - Doch Sartre erwähnt hier noch eine zweite Art von Möglichkeiten, die seiner Ansicht nach diesem Verbot nicht unterworfen sind, nämlich die Möglichkeiten des Für-sich (die sich aus der Spontaneität des Bewußtseins ergeben). Diese Möglichkeiten sind dem Sein, das sie betreffen, nicht äußerlich, sondern sein ontologisches Merkmal. Stellen wir uns nun vor, dass Gott ein Sein-für-sich ist und nehmen wir weiterhin an, dass aus einer Möglichkeit dieses Seins-für-sich seine Existenz folgen würde. Doch das Sein-für-sich ist - wie uns erklärt wurde - ein Sein-an-sich, das sich selbst in einem absoluten Ereignis mit Nichts infiziert hat. Wenn Gott also als Sein-für-sich notwendiges Wesen wäre, müsste er doch zuvor bereits als Sein-an-sich existiert haben, und dieses An-sich wäre, wie alles Sein-an-sich, kontingent. - Wie immer man es also anstellt, um zu einem notwendigen Wesen zu gelangen: Am Ende gelangt man doch immer zu einem kontingenten, unbegründeten, "zufällig" existierenden Wesen. Aber ist es nicht einfach denknotwendig, dass alles, was kontingent existiert, seinen Seinsgrund in einem notwendig Existierenden haben muss? Auf diesen möglichen Einwand kontert Sartre mit zwei Argumenten. - Zum einen verweist er darauf, dass selbst die Wahrheit dieses Satzes den ontologischen Beweis nicht stützen könnte: Der Satz versichert uns zwar, dass das Kontingente aus einem Notwendigen hervorging, zeigt uns aber weder das Notwendige, noch wie man für ein bestimmtes Kontingentes beweisen kann, dass es daraus hervorging. - Der Satz könnte also auch dann wahr sein, wenn ein solcher Beweis unmöglich wäre (wobei im Falle seiner Wahrheit aber zumindest bewiesen wäre, dass es für jedes Kontingente irgendein Notwendiges gibt, aus dem es hervorging). Das zweite Argument bestreitet den Satz, dass alles, was kontingent existiert, seinen Seinsgrund in einem notwendig Existierenden haben muss. - Hier sei der Wunsch Vater des Gedankens: Es ist für uns unbefriedigend, in unseren Begründungen keinen definitiven Abschluss zu finden, also postulieren wir, dass es einen solchen Abschluss geben muss. Der Satz drückt ein Vernunftideal aus, aus dem nicht folgt, dass das Ideal verwirklicht werden kann (vergleichbar der Weltformel der Physiker). Was für Sartre letztlich von Descartes Gottesbeweis von Dauer ist, ist die darin ausgesprochene Gewissheit, dass wir kontingent sind. - Doch Sartre kennt bereits eine andere Form des Bewußtseins unserer Kontingenz, nämlich die Angst. In der Angst wird uns nicht nur unsere Freiheit bewußt, sondern auch unsere Faktizität - genauer gesagt, für Sartre fällt beides zusammen, da Freiheit und Faktizität korrespondieren (siehe voriger Abschnitt). Faktizität: Umstände der Existenz Sartre verwendet die Begriffe "Faktizität" und "Situation" häufig in gleichen Kontexten. Die beiden Begriffe sind für Sartre aber nicht bedeutungsgleich und lassen sich wie folgt auseinanderhalten (wie erst im 4. Teil seines Werkes richtig deutlich wird): Die Faktizität ist das, was an einem Individuum von aussen erfassbar ist - die objektiven Fakten, die die Stellung des Individuums ausmachen, so wie sie von Anderen beschrieben werden können. Die Situation wiederum ist die Faktizität, so wie sie vom Bewußtsein erfasst wird, also von der subjektiven Seite aus betrachtet. Die Situation ist das Verhältnis, in dem das Bewußtsein zu seiner Faktizität steht. Unsere Faktizität beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass wir ohne Seinsgrund existieren, sondern umfasst auch die Umstände dieser Existenz. Weil das Für-sich als Totalität von Spiegelung / Spiegelndes existiert, existiert es auch zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Doch die Faktizität umfasst noch mehr: Auch die sozialen Rahmenfaktoren des Lebens gehören dazu. - Nun könnte man denken, dass sich die Faktizität doch im Laufe des Lebens reduzieren müsste: Zwar habe ich den Ort meiner Geburt nicht gewählt, befinde mich aber als Erwachsener - zumindest als durchschnittlicher Mitteleuropäer der Jetztzeit - meist an Orten und unter Umständen, wohin ich wenigstens teilweise durch freie Entscheidungen gelangt bin, also durch die Spontaneität meines Bewußtseins. Sartre wird uns später erklären, dass das keineswegs ein Schrumpfen der Faktizität bedeutet: Die Umstände, unter denen ich mich befinde, gehören immer zu meiner Faktizität, auch wenn ich für sie verantwortlich bin. Das Für-sich, das ich war, als ich mich in Deutschland dafür entschied, nach Australien auszuwandern, bin ich jetzt in Australien nicht mehr. Dass ich mich damals so und so verhielt, ist für mein gegenwärtiges Bewußtsein Aspekt seiner Faktizität, ebenso wie der Platz der Geburt. In diesem Zusammenhang wird noch einmal der berühmte Kellner mit seinem Schlechten Glauben erwähnt. - Sartre hatte aus der Tatsache, dass der Kellner nie Kellner sein kann, da er als Für-sich immer mehr ist als die soziale Rolle, die er innehat, die Schlussfolgerung gezogen, dass er sein Kellnersein als eine Kommödie vor sich selbst aufführt, um sich so von seiner Freiheit abzulenken. Doch was ist der Unterschied zwischen einem Kellner, der so tut, als wäre er Diplomat und einem Kellner, der so tut, als wäre er Kellner? Denn beide spielen doch eine Kommödie, tun so, als wären sie, was sie nicht sind. Die Differenz besteht darin, dass das Kellnersein zur Faktizität des Kellners gehört, das Diplomatsein nicht. Insofern der Kellner ist, was er ist (nämlich als faktisch existierende Totalität des Bewußtseins), kann man sagen, dass er Kellner ist (während man nicht sagen kann, dass er Diplomat ist). Doch insofern der Kellner nicht ist, was er ist, als Bewußtsein in seiner Freiheit, kann er kein Kellner sein. Doch da er mit seiner Kommödie ja versucht, es zu sein (oder sich einzureden, er wäre es) nennt Sartre diese Kommödie "realisierende Kommödie". Sartre beginnt den Abschnitt "Das Für-sich und das Sein des Wertes" mit einer Erwähnung von Descartes’ Gedankenexperiment. - Das "Cogito ergo sum" als durch Introspektion erlangte einzige Gewissheit, an der sich nicht zweifeln läßt, wirft nämlich das Problem auf, wie man ausgehend von dieser Gewissheit zu weiteren Erkenntnissen gelangen kann. Descartes und Sartre als sein methodischer Nachfolger, dessen philosophisches System gleichfalls von introspektiv erfassten Gewissheiten ausgeht, und der sich häufig und ausdrücklich auf Descartes beruft, wollen sich keineswegs mit dem begnügen, was das Cogito zunächst enthüllt hat, sondern benötigen es als sicheres Fundament für den Bau ihrer philosophischen Gebäude. Die Frage ist also, ob das Cogito etwas ist, auf dem man bauen kann, oder ob man dazu verdammt ist, bei ihm als dem letzten Rest der Wissenschaft stehenzubleiben, da alles andere dem methodischen Zweifel zum Opfer gefallen ist. - Sartre formuliert diese Frage an anderer Stelle so: Wie ist es möglich, aus dem Cogito hinauszugelangen? (Denken wir übrigens daran, dass Sartre zwei Cogitos kennt: Das präreflexive und das reflexive. Das eine meint die Introspektion, die nicht mit Reflexion verbunden ist, und die der natürliche und notwendige Zustand des Bewußtseins ist, da ja alles im Bewußtsein bewußt ist, und das zweite meint das Fokussieren eines Bewußtseinsfaktums durch Introspektion, was zu einer begrifflichen Erfassung dieses Faktums führt.) Diese Frage steht in Beziehung zu der Frage, mit der die "Einleitung" geendet hatte: Wie lassen sich die beiden getrennten Seinsbereiche Sein-an-sich und Sein-für-sich in Verbindung bringen? - Die Antwort Sartres war der "ontologische Beweis" (nicht zu verwechseln mit dem ontologischen Gottesbeweis!), der aus dem Begriff des Bewußtseins (Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas) das bewußtseinsunabhängige Sein erschließt. - Da die Intentionalität des Bewußtseins für Sartre eine Struktur ist, die sich im Cogito enthüllt, haben wir an dieser Stelle bereits erlebt, wie man, ohne das Cogito als Basis aufzugeben, aus ihm hinausgelangen kann. Sartre hat seine Bewußtseinsorientierung von Husserl geerbt, der seinerseits versucht hatte, durch Anwendung von Descartes Methode eine Grundlegung der Wissenschaften zu leisten. Husserl - zumindest interpretiert ihn Sartre so - hatte den Weg aus dem Cogito heraus nie gefunden (oder später wieder verloren), und so war seine spätere Philosophie zu einer Variante des Idealismus geworden. - Idealismus heisst hier, dass das transphänomenale Sein ins Bewußtsein verlegt wird, was darauf hinausläuft, dass es nur noch den einen Seinsbereich gibt. Einen idealistischen Ansatz will Sartre unbedingt vermeiden! Doch Husserl hatte bekanntlich noch einen weiteren berühmten Nachfolger, nämlich Heidegger. Heidegger - so Sartre - lehnte die vom späten Husserl praktizierte Beschränkung auf den Bereich des Bewußtsein ebenfalls ab, und fand zu dem Ausweg, in seinem philosophischen Ansatz auf das Bewußtsein völlig zu verzichten. - Sartre hält das für einen Irrweg: Heideggers Philosophie benutzt Begriffe wie "Verstehen" (nicht mit dem Alltagsbegriff identisch!), die auf Bewußtsein verweisen: "[...] man kann die Dimension 'Bewußtsein' nicht zunächst fortlassen, und sei es auch, um sie dann wiedereinzuführen. Das Verstehen hat nur Sinn, wenn es Bewußtsein von Verstehen ist. [...] Andernfalls fällt das ganze System des Seins und seiner Möglichkeiten ins Unbewußte, das heißt ins An-sich. Wir sind hier wieder auf das Cogito zurückgeworfen." Sartre unterstellt also, dass Heideggers Verzicht darauf hinausläuft, den Menschen zu einem unbewußten Ding zu machen. - Der Rekurs auf das Cogito an dieser Stelle will uns daran erinnern, worauf es bei der weiteren Diskussion des Seins-für-sich eigentlich ankommt: Sie soll uns zeigen, wie man, ohne die Evidenz der Introspektion zu verlieren, zu einer Philosophie gelangt, die sowohl das Bewußtsein als auch das bewußtseinsunabhängige Sein umfasst und zwischen beiden sinnvolle Verbindungen herstellt. Das Sein-für-sich ist das Resultat eines gescheiterten Versuches des An-sich, sich einen Seinsgrund zu verschaffen. Der Versuch - damit endete Sartres Geschichte vorläufig - führte nicht zu einem begründeten An-sich, sondern zur Hervorbringung des Nichts. Das Nichts besitzt nun zwar einen Seinsgrund - nämlich das Sein, aus dem es hervorging - das Sein-für-sich als Totalität ist jedoch weiterhin kontingent. - Sein Zustand ist also in zweierlei Hinsicht unbefriedigend: Erstens ist es mit sich selbst nicht identisch, es ist von Nichts "durchzogen", existiert - wie Sartre sagt - nur "verstümmelt". Zweitens fehlt ihm immer noch der Seinsgrund! Jetzt deutet sich die Fortsetzung dieser Geschichte an: Das, was dem Für-sich fehlt, versucht es sich zu verschaffen. Um vorzugreifen: Es wird ihm wieder nicht gelingen, jedoch ist dieser zweite verfehlte Versuch so etwas wie die Hauptbeschäftigung des Bewußtseins, der eigentliche Inhalt des menschlichen Lebens. - Das wird sich im folgenden Abschnitt klären. Sartre spricht in diesem Zusammenhang ein Problem an, das sich ergibt, wenn man den Menschen - wie es Biologie und Medizin tun - als physikalisch-chemischen Komplex betrachtet und alle Bewußtseinsphänomene auf physikalisch-chemische Phänomene zurückführt. Das Problem besteht darin, dass es unmöglich ist, auf dieser Ebene zu erklären, dass der Mensch Begierden hat: Denn alles, was die naturwissenschaftliche Beschreibung erfasst, sind physiologische Zustände, die naturgesetzlich aufeinander folgen. Ein Zustand kann jedoch keine Begierde haben oder sein! Ein Zustand ist lediglich ein Zustand, der Begriff "Begierde" läßt sich daran nicht festmachen. - "Wie könnte man denn die Begierde erklären, wenn man in ihr einen psychischen Zustand sehen wollte, das heißt ein Sein, das seiner Natur nach das ist, was es ist?" - Sartre führt folgendes Beispiel an: Nehmen wir an, ein Mensch der Durst hat, soll naturwissenschaftlich beschrieben werden. Die Beschreibung erfasst zunächst gewisse physiologische Merkmale, die typischerweise auftreten, wenn ein Mensch Durst hat - z. B. verdickt sich das Blut, weil sich der Organismus der Austrocknung nähert. Nehmen wir an, die Technik der beschreibenden Wissenschaftler sei sehr hoch entwickelt, so kann die Beschreibung mit neurologischen Tatsachen fortfahren. Es könnte z. B. beschrieben werden, wie die physiologischen Merkmale des Durstes Neuronalvorgänge auslösen, die wiederum (in vielen Fällen) zu einem bestimmten Verhalten führen, zur Auslösung bestimmter Muskelreaktionen, die z. B. auch in einer Sprachreaktion bestehen können: "Ein Bier, sonst streik' ich hier!"). Ganz gleichgültig, wie präzise eine solche Erklärung ist, sie kann den Durst als Begierde nicht erfassen. Zum einen entgeht ihr der subjektive Erlebnischarakter des Durstes, doch das ist nicht der Aspekt, der für Sartre hier wichtig ist. Das Problem würde auch für eine deterministische Psychologie auftreten, die Gesetzmässigkeiten für Bewusstseinszustände aufstellt. - Der wesentliche Punkt ist der Verweischarakter, den Begriffe wie Begierde, Wunsch, Wille, Verlangen usw. haben: Zustände verweisen auf nichts oder nur auf sich selbst, während diese Begriffe einen Verweis auf zukünftige (begehrte) Zustände enthalten: "Ein Sein, das das ist, was es ist, verlangt nichts für sich, um sich zu vervollständigen." Der Zustand einer verdickten, hygroskopischen Kochsalzlösung verweist nicht auf einen Zustand, in dem die Lösung mehr Wasser enthält als zum aktuellen Zeitpunkt. Die Kochsalzlösung hat keine Begierde nach mehr Wasser, und daher kann auch der menschliche Körper - physiologisch aufgefasst - mit allen Muskeln, Neuronen, Neurotransmittern usw. keine Begierde nach Wasser haben. Eine Begierde ist eine Begierde nach etwas und das heisst, dass der begehrte Zustand in der Begierde in einem gewissen Sinne bereits enthalten sein muss. - Sartre kommt zu der Schlussfolgerung, dass Begierden nicht durch Rückführung auf Zustände, sondern nur durch Rückführung auf andere Begierden erklärt werden können. Bis hierhin kann man Sartre sehr gut folgen (vielleicht sogar beistimmen). Doch dann tut er etwas Merkwürdiges: Er behauptet nämlich, dass der Begriff der Begierde auf den Begriff des Mangels zurückgeführt werden kann: Ein Mangel ist die Erklärung für eine Begierde. Und fährt fort, dass alle Begierden auf eine grundlegende Begierde zurückgeführt werden können, die wiederum durch einen grundlegenden Mangel erklärt werden muss. Und dieser grundlegende Mangel ist - der Zustand des Für-sich als unvollständiges Sein. Und hier sind wir wieder mitten in der von Sartre erzählten Geschichte: Das aus dem An-sich entstandene Für-sich hat den Mangel, nicht zu sein, was es ist und den Mangel, keinen Seinsgrund zu haben. - Wenn ein Mangel vorliegt, müssen drei Aspekte gegeben sein, so erklärt uns Sartre, ein wenig scholastisch: das Existierende, dem etwas mangelt, das Mangelnde, das dem Existierenden fehlt und die verfehlte Totalität, die sich ergibt, wenn das Existierende mit dem Mangelnden vereinigt wird. Nehmen wir die Mondsichel als Beispiel für etwas Existierendes, dem etwas mangelt, so ist das Mangelnde der Rest der Kreisfläche und die verfehlte Totalität der Vollmond. Doch mangelt der Mondsichel wirklich etwas? Natürlich nicht, nur der Mensch, der sie beobachtet, kann auf diesen Gedanken kommen (z. B. dann, wenn er das Licht des Vollmonds braucht, um auf die Jagd gehen zu können). Denn auf der Ebene des An-sich kann es keinen Mangel geben. Das Mangelhafte der Mondsichel erklärt sich durch ein menschliches Begehren und das menschliche Begehren (z. B. das Begehren, nachts zu jagen) verweist auf den grundlegenden Seinsmangel, der das Für-sich kennzeichnet. - Wie das zu verstehen ist, wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein. (Hier war einer der Punkte, an denen ich nicht wusste, ob ich Sartre so schlecht verstehe, oder ob er so schlecht argumentiert: Denn wenn jede Begierde auf einen Mangel verweist, verweist auch jeder Mangel auf eine Begierde. Der Mangel kann nicht dafür benutzt werden, die Begierde zu erklären, es handelt sich offensichtlich um korrespondierende Begriffe. - Unterdessen glaube ich, dass Sartre tatsächlich nicht gut argumentiert, und zwar aus einem bestimmten Grund: Dem Sein Begierden zu unterstellen, wirkt erheblich befremdlicher als die Rede von einem Seinsmangel und hätte die Rezeption seiner Philosophie vermutlich behindert.) Und nehmen wir mit Sartre an, dass das Für-sich in sich widersprüchlich ist, so ist nicht ersichtlich, warum diese Widersprüchlichkeit mit einem Begehren nach Widerspruchsfreiheit identisch sein soll. Warum besteht das Sein nicht ganz friedlich in der verminderten Form, die es angenommen hat? Sicher verweist das Sein, das nicht ist, was es ist, auf ein widerspruchsfreies Sein, das ist, was es ist, doch dieser Verweis liegt auf der logischen Ebene. Mit dem Begriff des Mangels / der Begierde kommt m. E. ein Aspekt in das Für-sich, der durch seine bisherige Beschreibung nicht gedeckt ist. Der Begriff steht bei mir in Anführungszeichen, da es sich dabei nicht um das handelt, was man gewöhnlich unter einem Wert versteht, sondern um etwas Grundlegenderes, eben um den "Wert". - Sartre hat uns erklärt, dass jeder Mangel drei Aspekte hat. Für das Für-sich bedeutet das, es gibt das Für-sich selbst, dem etwas mangelt, es gibt das, was dem Für-sich mangelt und es gibt eine ideale Einheit aus dem Für-sich und dem ihm Mangelnden. Diese ideale Einheit ist der "Wert". - Worin besteht er? Er besteht grob gesagt in dem Zustand, den das An-sich schon anstrebte, als es sich zu Für-sich vermindert hat. Das An-sich wollte ja im ersten Teil von Sartres Mythos keineswegs Für-sich werden, sondern begründetes An-sich. In Gestalt des auf halbem Wege steckengebliebenen Für-sich will es das immer noch! - Das Für-sich ist in zweierlei Hinsicht mangelhaft, zum einen, weil es nicht mit sich identisch ist und zum anderen, weil es keinen Seinsgrund hat. Im idealen "Wert" sind beide Mängel behoben! Der "Wert" ist also ein Für-sich, das in seinem Sein begründetes An-sich geworden ist. Ohne den zusätzlichen Mangel an Seinsbegründung würde der "Wert" einfach in der Rückkehr ins An-sich bestehen. Das würde darauf hinauslaufen, dass das Für-sich seine Vernichtung als Bewußtsein anstrebt. Doch das Für-sich will Bewußtsein bleiben, angestrebt wird ein Zustand, in dem es sowohl Für-sich als auch An-sich ist. Denn - wie wir in der Diskussion der Notwendigkeit gesehen haben - ein Wesen, das sein eigenes Sein begründet, wie Gott, muss von diesem Sein getrennt sein, ist daher mit Nichts infiziert und Für-sich. Und hier ergibt sich eine Pointe: Das, was das Für-sich anstrebt, ist genau der Zustand, den man traditionell Gott unterstellt! Gott - so Sartre - ist seiner Idee nach Sein-An-sich, insofern er positiv ist und alles Sein umfasst oder hervorbringt und ist gleichzeitig Sein-Für-sich, insofern er bewußt ist. Der "Wert" des Für-sich, das, was es werden will, ist Gott (allerdings nicht der Gott, sondern sozusagen sein eigener Gott). - Man beachte hier, dass der Gottesbegriff hier nicht die traditionellen Gottesattribute Allmacht und Allwissenheit umfasst. Wenn das Bewußtsein Gott werden will, dann nicht aus Machtinteresse, sondern nur aus dem von Sartre genannten Grund. - Da die Gottesidee eine unmögliche Idee ist, da sie in sich widersprüchlich ist, kann der Wert nie verwirklicht werden. Das Für-sich kann aufgrund seiner Unvollständigkeit und Unbegründetheit jedoch nicht anders, als vollständig (mit sich identisch) und begründet werden zu wollen. Die Begierde nach diesem Zustand ist also nicht aufzuheben (zumindest läßt Sartre hier eine solche Möglichkeit nicht zu), sie taucht automatisch mit dem Für-sich zusammen auf, kann aber auch nicht erfüllt werden. Daher bezeichnet Sartre das Bewußtsein und damit den Menschen als von Natur aus unglückliches Bewußtsein: "Die menschliche-Realität leidet in ihrem Sein, weil sie zum Sein auftaucht als dauernd heimgesucht von einer Totalität, die sie ist, ohne sie sein zu können, da sie gerade das An-sich nicht erreichen könnte, ohne sich als Für-sich zu verlieren." Das wirkt zunächst nicht plausibel. Wenn ich doch von Sartre erfolgreich darüber belehrt worden bin, dass das, was ich begehre, nicht realisierbar ist, warum soll ich dieses Ziel nicht einfach aufgeben können? - Die Antwort darauf liefert der Umstand, dass der "Wert" nicht eines unter anderen menschlichen Zielen ist, sondern eine Grundstruktur, die sämtlichen Zielen des Menschen zugrundeliegt. Jedes Begehren, nach was auch immer, ist auf einer bestimmten Ebene Begehren danach, Gott zu werden. - Wir erinnern uns, dass Sartre annimmt, dass Begierden nur durch Rückführung auf andere Begierden erklärt werden können. Die grundlegende Begierde hat er als die Begierde nach dem "Wert" identifiziert. Der nächste Schritt ist nun die Rückführung der nicht grundlegenden Begierden auf sie. Eine gewöhnliche menschliche Begierde ist der bereits erwähnte Durst. Was sich hier sofort aufdrängt, ist die Tatsache, dass der Durst Begehren nach Flüssigkeit ist. Doch das ist lediglich die halbe Wahrheit: Was eigentlich angestrebt wird, ist die An-sich-Werdung des Durstes, das Trinken ist nur Mittel zum Zweck. - Erinnern wir uns daran, dass das Bewußtsein für Sartre das ist, was gerade in ihm vorgeht. Ein Bewußtsein, das Durst hat, ist dieser Durst. Der Durst existiert als Spiegelung / Spiegelndes, er ist nicht mit sich identisch - ist Bewußtsein von Durst - , daher begehrt er, mit sich identisch zu werden. Der Durst verweist auf das Idealbild eines Durstes, der ist, was er ist. Wäre dieses Ideal erreicht, so wäre das Bewußtsein als Durst nicht nur mit sich selbst identisch, sondern hätte auch einen Seinsgrund in sich selbst, da der Durst seine Verwirklichung sich selbst verdanken würde. Gegen diese Erklärung der menschlichen Begierden kann man einiges einwenden: Zunächst einmal erklärt der "Wert" nicht, warum der Durst seine Verwirklichung ausgerechnet im Trinken sucht. Zum anderen sind für Sartre auch andere Bewußtseinsphänomen, die man nicht direkt mit einer Begierde identifizieren kann, auf den "Wert" bezogen: So sagt er, dass ein Leidender unter anderen darunter leidet, dass er nicht genug leidet (der Leidende will ein Leiden, das ist, was es ist, während sein reales Leiden gleichzeitig Bewußtsein von Leiden und deshalb nur nicht mit sich identisches Sein-für-sich ist). - Der "Wert" sucht das Bewußtsein offenbar nicht nur dann heim, wenn es etwas begehrt, sondern ist vorhanden, was immer das Bewußtsein ist. Wie kann das Begehren nach dem "Wert" dann die menschlichen Begierden erklären, wenn es doch immer vorhanden ist, der Mensch aber nicht immer im Zustand der Begierde ist? Von den drei Aspekten des Mangels haben wir, was das Für-sich angeht, zwei identifiziert: Das Mangelhafte ist das Für-sich selbst, das Verfehlte (die Einheit aus dem Mangelhaften und dem Mangelnden) ist der "Wert". - Doch es bleibt noch ein Aspekt ungeklärt: Was mangelt dem Für-sich, um den "Wert" zu verwirklichen? Sartre konstatiert, dass das Mangelnde von derselben Natur sein muss wie das Ding, dem es mangelt (was der Mondsichel fehlt, um voller Mond zu sein, ist ein Stück Mond). - Man kann an dieser Regel aus gutem Grund zweifeln, wenn man den Gebrauch des Wortes "Mangel" im Deutschen betrachtet. Was dem Stück Kohle mangelt, um ein Diamant zu sein, ist eine bestimmte Molekularstruktur, eine Molekularstruktur ist aber nicht von derselben Natur wie ein Stück Kohle. (Doch vielleicht ist die Verwendung des Wortes im Französischen beschränkter als im Deutschen.) - Worauf Sartre mit seiner Regel hinauswill, ist die Feststellung, dass dem Für-sich Für-sich mangelt, um den "Wert" zu verwirklichen. Das Für-sich sucht also ein anderes Für-sich, um die unmögliche Totalität aus An-sich und Für-sich zu werden. Damit ist nicht etwa ein anderer Mensch gemeint, sondern das Für-sich selbst, aber in der Zukunft - als Verwirklichung einer seiner Möglichkeiten. Der Durstige entwirft sich auf die Möglichkeit hin, zu trinken. Wir erinnern uns, dass die eigentliche Begierde des Durstes darin besteht, mit sich identischer Durst zu werden (und da der Durst das Bewußtsein selbst ist, ist diese Begierde das Bestreben des Bewußtseins, mit sich selbst identisch zu werden). Sartre würde nun strikt leugnen, dass das, was dem Durst fehlt, um Durst als "Wert" zu werden, trinkbare Flüssigkeit ist. Was dem Durst mangelt, ist stattdessen ein Für-sich, das trinkt. Das zukünftige Für-sich, das trinkt, ist eine Möglichkeit des gegenwärtigen Für-sich, das Durst hat. Da mit dem Für-sich auch der "Wert" gegeben ist (die Nicht-Identität des Für-sich mit sich selbst verweist automatisch auf ein mit sich identisches Für-sich), also die Einheit bestehend aus dem mangelhaften Für-sich und dem, was ihm mangelt, muss auch der dritte Aspekt - das, was mangelt, mitgegeben sein. Sobald es ein Für-sich gibt, gibt es den "Wert" dieses Für-sich und es gibt die Möglichkeiten dieses Für-sich, die es zu verwirklichen versucht, um mit ihrer Hilfe den "Wert" zu verwirklichen. - Dieses Gegebensein der Möglichkeiten ist - so Sartre - nicht in dem Sinne zu verstehen, dass das Bewußtsein zuerst den "Wert" hat, und dann begrifflich erfasst, dass es die Möglichkeiten als Mittel gibt, den "Wert" zu verwirklichen. Alle drei Aspekte des Mangels sind auf einmal gegeben, und zwar im präreflexiven Cogito als Teil seiner ontologischen Struktur. Wir fassen den Fortgang der von Sartre erzählten Geschichte anhand des Durstes noch einmal zusammen: Wer Durst hat, will seinen Durst und damit sein Bewußtsein als mit sich identisches, begründetes Ding verwirklichen. Was ihm zu fehlen scheint, um dieses Ziel zu erreichen, ist ein Bewußtsein, das trinkt. Ein Bewußtsein, das trinkt, ist aber eine Möglichkeit des Bewußtseins, das Durst hat. Durch Verwirklichung dieser Möglichkeit strebt das durstige Bewußtsein seine Vereinigung mit dem trinkenden Bewußtsein an. Da das trinkende Bewußtsein sein Dasein dem Entwurf des durstigen Bewußtseins verdankt, ist diese Vereinigung eine Form der Selbstbegründung. "Im unreflektierten und naiven Zustand wollen der Durst, das sexuelle Verlangen sich selbst genießen, sie suchen diese Koinzidenz mit sich, die die Befriedigung ist, wo der Durst sich genau in dem Moment als Durst erkennt, in dem das Trinken ihn stillt, wo er gerade durch dieses Stillen seinen Mangelcharakter verliert und sich zugleich in der Stillung und durch sie zu Durst macht." Wie geht die Geschichte weiter? - Die angestrebte Vereinigung ist unmöglich. Der Durst wird nicht etwa mit sich identisch (oder - so deutet Sartre an - lediglich einen unendlich kleinen Augenblick lang), sondern verschwindet. Das Für-sich ist immer noch nicht mit sich identisch und immer noch kontingent, es stellen sich andere Begierden und andere Möglichkeiten ein. - Sartre erklärt so das Gefühl von Unbefriedigtsein, das Menschen oft erfasst, die sich einen heftigen Wunsch endlich erfüllt haben. Dieses Gefühl verdankt sich nicht dem Umstand, dass die Lust bei der Erfüllung geringer war als erwartet, sondern dem ganz anderen Umstand, dass das eigentlich angestrebte Ziel nicht erreicht werden konnte. Das eigentliche Ziel unserer Wünsche ist nicht die Lust bei ihrer Erfüllung - diese ist eine Art Sekundärphänomen. Hier öffnet sich übrigens für Sartre der Ausweg aus dem Cogito (genauer gesagt, die Möglichkeit, aus dem Cogito mehr philosophische Gewissheiten zu gewinnen als nur das "ich denke, also bin ich"). Wenn mit dem Bewußtsein automatisch die Möglichkeiten des Bewußtseins gegeben sind, die ja in der Zukunft liegen, ist damit auch die Zukunft in irgendeinem Sinne im Cogito gegeben. - Nimmt man das Cogito im Sinne Descartes’, so beinhaltet es lediglich die unmittelbare Gegenwart, weiter reicht seine Gewissheit nicht und nichts scheint darüber hinauszuweisen. (Sartre nennt dieses Augenblicks-Cogito "instantanes Cogito".) Sartre wirft Descartes vor, dass er den zukünftigen Aspekt des Cogitos bei seinem Experiment übersehen hat: Woran, so fragte Descartes, kann ich nicht zweifeln? Daran, dass ich jetzt zweifle. - Ein Zweifel aber, so Sartre, ist nicht denkbar ohne die Möglichkeit seiner Aufhebung in der Zukunft. Und Sartre weist darauf hin, dass ein Bewußtsein, das tatsächlich auf den Augenblick beschränkt wäre, nicht in der Lage wäre, ein Buch zu lesen, sondern nur einen Buchstaben nach dem anderen erfassen könnte. - Diese Bemerkungen sollen Sartres Leser auf seine Diskussion der Zeit vorbereiten. Das Bewußtsein ist also wesentlich auf seine Möglichkeiten bezogen, weswegen Sartre den Begriff der Möglichkeit einer detaillierteren Untersuchung unterzieht. Seine Auffassung läuft darauf hinaus, den Begriff auf die Realmöglichkeit einzuschränken, und die blosse Denkmöglichkeit nicht als Möglichkeit im eigentlichen Sinne zu akzeptieren: Nur weil sich ein Zentaur denken lässt, ist er - in Sartres Sinne - noch nicht möglich. Und weil wir Sätze wie "Es ist möglich, dass er kommt" bilden, in denen das Wort "ist" vorkommt, muss der Möglichkeit irgendeine Art von Realität zukommen (das Mögliche muss "Sein haben"). Jetzt könnte man natürlich an die Auffassung des Aristoteles denken, der die Realmöglichkeiten durch eine den Dingen innewohnende Potenz erklären wollte. Ist das Sein der Möglichkeit die Potenz? - Sartre lehnt das strikt ab: Da das Sein-an-sich aufgrund seiner totalen Positivität keine Möglichkeiten haben kann, wäre das eine magische Auffassung von Möglichkeit. (Hier wie oft spricht Sartre von "magisch" um damit anzudeuten, dass die von Auffassungen, die er nicht teilt, unterstellten Wirkzusammenhänge völlig irrational sind.) Wir haben hier eine ähnliche Situation wie bei der Erklärung der negativen Tatsachen: Die Negativität konnte nicht im Sein-an-sich liegen und musste aus dem Subjekt stammen. Trotzdem wollte Sartre es strikt vermeiden, die Negativität zu etwas nur Subjektivem zu machen. Wir erinnern uns an die Lösung des Problems: Die Negativität ist auf das Nichts im Bewußtsein zurückzuführen, und ist real, weil dieses Nichts real ist. - Seine Diskussion der Möglichkeit verläuft analog: "Die Möglichkeit, von einer Falte des Billiardtuchs aufgehalten zu werden, gehört weder der rollenden Kugel noch dem Tuch an: sie kann nur in der Anordnung der Kugel und des Tuchs zu einem System auftauchen, die durch ein Sein hergestellt wird, das ein Verständnis der Möglichkeiten hat. Da aber dieses Verständnis ihm weder von außen kommen kann, das heißt vom An-sich, noch sich darauf beschränken kann, nur ein Denken als subjektiver Modus des Bewußtseins zu sein, muß es mit der objektiven Struktur des Seins zusammenfallen, das das Mögliche versteht." Die Möglichkeit ist real, aber nur darum, weil das Subjekt eigene Möglichkeiten hat. Die Möglichkeiten des Subjektes gehören mit zu seiner ontologischen Struktur, sind also nicht nur für einen Zeugen vorhanden, wie etwa die Möglichkeit der Billiardkugel, durch eine Falte im Filz aufgehalten zu werden. - Und Möglichkeiten ausserhalb des Subjektes, z. B. die Möglichkeit der Billiardkugel bekommen Realität, obwohl sie nicht wie die Aristotelische Potenz in den Dingen wohnen, weil sie auf Möglichkeiten des Bewußtseins verweisen. - Sartre sagt: Die Wolke kann regnen (es ist eine Realmöglichkeit der Wolke, zu regnen), weil ich sie "auf den Regen hin überschritten habe". - Vielleicht könnte man auch so sagen: Die Möglichkeit der Wolke, zu regnen, verdankt ihre Realität meiner Möglichkeit, plötzlich im Regen zu stehen, wenn ich nicht ins Haus gehe. Bevor Sartre dazu kommt, auch die Zeit auf ähnliche Weise im Subjekt zu verorten, führt er noch einen besonderen Begriff ein - den "Zirkel der Selbstheit". Was haben wir darunter zu verstehen? - Das Bewußtsein ist von sich getrennt, insofern es nicht mit sich identisch ist. Es ist aber noch in einem anderen Sinne von sich getrennt, nämlich insofern es von seinem "Wert" getrennt ist. Dadurch, dass es den "Wert" über seine Möglichkeiten zu erreichen versucht, diese Möglichkeiten aber zukünftige sind, ist das, was zwischen ihm und seinem (zukünftigen, begründeten, mit-sich-identischen) Selbst steht, der Zustand der Welt, wie er jetzt ist. Das Bewußtsein muss also die ganze Welt "überschreiten", um zu sich selbst zu kommen, und das ist der Zirkel der Selbstheit. Was Sartre mit diesem Begriff betonen möchte, ist die Verbindung von Welt und Person: Mit der Struktur des Bewusstseins als einem unvollständigen Sein, dass durch Verwirklichung seiner Möglichkeiten vollständig werden will (von "Wille" kann auf dieser Ebene übrigens eigentlich noch nicht gesprochen werden, das mit seinem Mangel korrespondierende Begehren des Bewußtseins liegt vielmehr dem Willen zugrunde) wird die Welt zu meiner Welt. Denn die Welt erhält ihre besondere Charakteristik lediglich im Hinblick auf meine Möglichkeiten, mich in ihr zu "verwirklichen". - Sartre wird auf diesen Aspekt zurückkommen. Vorbemerkung zur Diskussion der Zeit Sartre versucht - so könnte man zusammenfassen - mit seiner Beschreibung des Seins-für-sich eine Reihe von Problemen zu lösen, die das zuvor von ihm entwickelte Konzept des Seins-an-sich aufwirft: Warum gibt es negative Tatsachen, wenn das Sein-an-sich doch völlig positiv ist? Weil es das Nichts im Sein-für-sich gibt. Warum gibt es reale Möglichkeiten, obwohl das Sein-an-sich keine Möglichkeiten haben kann? Weil das Für-sich Möglichkeiten hat. - Ein weiteres Problem dieser Art ist, warum es Zeit gibt, da das Sein-an-sich nicht zeitlich ist. - Bevor wir dazu kommen, sollten wir einen Blick zurück werfen: Was waren Sartres Gründe dafür, das Sein-an-sich so zu konzipieren, dass Negativität und Möglichkeit davon sozusagen abgleiten müssen? Wenn man einmal wie Sartre aus der Existenz eine Art Ding macht, ist tatsächlich nicht mehr absehbar, wie man dieses Ding mit Negativität in Verbindung bringen kann. - Doch Sartre führt noch ein besonderes Argument an: Wenn wir Dingen Eigenschaften zuschreiben, enthalten die Aussagen das Wort "ist" (wie in "Die Rose ist rot"). Also muss auch die Eigenschaft Sein haben und das Sein kann selbst keine Eigenschaften haben, da es das Sein der Eigenschaften mitumfasst. Wenn das Sein-an-sich aber keine Eigenschaften hat, gibt es darin auch keine Unterschiede, keine Aufteilung in Dinge. Dieses Argument kann man natürlich im Hinblick auf andere Aussagen erweitern, wenn diese Aussagen das Wort "ist" enthalten: So konstatiert Sartre, dass die Möglichkeit Sein haben muss, weil man sagen kann, dass etwas möglich ist. Woraus folgen muss, dass das Sein keine Möglichkeiten haben kann, da es ja auch das Sein der Möglichkeiten ist. - Sartres Theorie des Seins erinnert sehr stark an die Theorie des Vorsokratikers Parmenides, obwohl sich Sartre nirgendwo darauf beruft. Parmenides hatte argumentiert, dass es negative Tatsachen nicht geben kann, weil die Aussage "Das Nichtseiende ist" widersprüchlich ist. Also gibt es nur ein einziges Ding, das keine Unterschiede und keine Veränderung kennt (da beides Negativität voraussetzt) und die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist Illusion. Man könnte Parmenides’ Argument auch so ausdrücken: Wer sagt, dass etwas nicht ist, verwendet das Wort "ist". Das Sein ist also auch das Sein des Nicht-Seienden, so dass es unmöglich ist, dass das Sein nicht ist. Doch Sartre schreckt vor diesem Argument zurück, vielleicht weil man auf seiner Grundlage nicht mehr behaupten kann, dass das Sein-an-sich kontingent ist (wenn logisch ausgeschlossen ist, dass das Sein nicht existiert, existiert das Sein notwendig). Ausserdem unterstellt Sartre, dass es das Nichts gibt (im Für-sich nämlich). Doch wenn dieses Argument gültig wäre, müsste man aus der Möglichkeit der Aussage "Das Nichts ist" darauf schliessen, dass das Sein auch das Sein des Nichts ist. - Ich höre hier auf. Warum ist das Sein-an-sich nicht zeitlich? Wir werden noch einiges dazu hören, aber vermutlich kann man den wesentlichen Punkt wieder in der Unmöglichkeit sehen, das Sein-an-sich mit Negativität in Verbindung zu bringen. Aufgrund dieser Unmöglichkeit kann es im Sein-an-sich weder Veränderungen noch Möglichkeiten geben, ausserdem erfordert die Rede von einer Vergangenheit oder Zukunft des An-sich negative, differenzierende Aussagen, da ich das vergangene Für-sich vom gegenwärtigen und zukünftigen unterscheiden kann. Vielleicht sollte man zunächst darauf hinweisen, dass es hier nicht um die Zeit der Physiker geht, die - wie Stephen Hawking behauptet - mit dem Urknall begann, und die z. B. langsamer verläuft, wenn man sich sehr schnell durch das Weltall bewegt. Das Verhältnis dieses Zeitbegriffs zu dem der Umgangssprache ist nicht ganz klar (man möge einen Wissenschaftstheoretiker befragen), doch alles spricht dafür, dass es sich dabei um einen theoretischen Begriff handelt, der seinen Sinn nur im Rahmen der Theorie hat, und mit dem man die umgangssprachliche "Zeit" in irreführender Weise identifiziert. - Die Funktion der physikalischen Theorie besteht in erster Linie darin, richtige Prognosen auszuwerfen. Doch auch wenn sie das leistet, und sich die Theorie als brauchbar erweist, besteht kein Grund, den physikalischen Zeitbegriff für einen verbesserten Ersatz des gewöhnlichen zu halten. So lässt z. B. die Relativitätstheorie nicht zu, von Gleichzeitigkeit zu sprechen, wenn es um entfernte Weltraumobjekte geht. Der gewöhnliche Zeitbegriff hat diese Beschränkung nicht: Die häufig beim Anblick des nächtlichen Himmels geäußerte Frage, ob auf einem Millionen Lichtjahre entfernten Planeten nicht gerade jetzt jemand in den Himmel starrt und dumme Fragen stellt, ist kein naives Gerede ("Ja weisst Du denn nicht, dass es im Weltraum gar keine Gleichzeitigkeit gibt?"). - Es geht hier also um die normalen, umgangssprachlichen Begriffe von Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und um die von diesen aufgeworfenen Probleme, obwohl Sartre am Ende vielleicht ohne Absicht zu einem eigenen Zeitbegriff gelangt. Sartre beschreibt die Zeit als als vom Sein-für-sich abhängig, rückt sie also in jene Kategorie von Realitäten, die mit der Natur des Sein-an-sich inkompatibel sind und ihren Ursprung im Bewußtsein haben müssen. - Sartre meint, dass diese Argumentation den Nebeneffekt hat, einige der von der Zeit aufgeworfenen philosophischen Probleme zu lösen. Das erste Problem, das er benennt, könnte man das Paradox der Nicht-Existenz der Zeit nennen. Die Zeit hat bekanntlich die drei Aspekte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Betrachtet man diese drei Aspekte einzeln im Hinblick auf ihre Existenz, gelangt man zu folgenden Aussagen: Die Vergangenheit existiert nicht, weil sie existiert hat. Die Zukunft existiert nicht, weil sie existieren wird. Bleibt die Gegenwart übrig, könnte man meinen, aber was ist die Gegenwart? - Die Grenze von Vergangenheit und Zukunft. Wenn jene beiden nicht existieren, kann auch die Grenze zwischen ihnen nicht existieren, also existiert gar keine Zeit! Das zweite Problem betrifft die Verbindung zwischen der Gegenwart und den beiden anderen Zeitaspekten. Es entsteht in Bezug auf die Vergangenheit, wenn man sich mit dem Gedächtnis beschäftigt: Wer sich an ein vergangenes Ereignis erinnert, bezieht sich auf die Vergangenheit. Doch worin besteht dieser Bezug? Nach der gängigen Auffassung in Gehirnmustern, die zwar in der Vergangenheit entstanden sind, aber ihre Wirkung im Moment der Erinnerung entfalten. Wir haben also - so Sartre - eine gegenwärtige Ursache, die eine gegenwärtige Wirkung hat, so dass nicht klar ist, wie dieser Vorgang für den Verweis des Bewußtseins auf die Vergangenheit sorgen kann. Doch Sartre berücksichtigt auch eine rein psychische Erklärung der Erinnerung: Nach dieser besteht die Erinnerung wesentlich in einem Erinnerungsbild. Aber wie soll man ein Erinnerungsbild von einem bloßen Tagtraum unterscheiden, wenn nicht dadurch, dass das Erinnerungsbild einen Bezug auf die Vergangenheit hat, der nicht in ihm selbst liegen kann? Und selbst wenn sich Erinnerungsbilder durch irgendwelche Eigenschaften von fiktiven Vorstellungen unterscheiden sollten, würde das das Problem nicht lösen, da diese Eigenschaften gegenwärtige Eigenschaften wären. Damit Gegenwärtiges auf Vergangenes verweisen kann, muss der Bezug zur Vergangenheit bereits bestehen. Ein analoges Problem sieht Sartre für die Zukunft: Eine Vorstellung, die sich auf die Zukunft bezieht, kann diesen Bezug nicht in sich tragen, ebensowenig wie etwaige Gehirnmuster, die parallel zu dieser Vorstellung auftreten. Was kann man dazu sagen, ohne Sartres Ontologie zu bemühen? Meines Erachtens zunächst einmal, dass sich das Problem einer Existenz der Zeit (oder der Existenz einer Zeit) gar nicht stellen kann. "Existieren" ist ein Zeitwort: Etwas existiert, existierte oder wird existieren. Die Rede von der Existenz der Zeit würde also eine Metazeit voraussetzen, in der die Zeit existiert oder nicht existiert und deren Existenz man dann natürlich ebenfalls problematisieren müsste. - Mit Wittgenstein gesprochen: Die Zeitlichkeit liegt in unserer Grammatik. Sartres Kritik an der Auffassung, dass der Bezug der Gegenwart auf Zukunft und Vergangenheit in den Erinnerungs- bzw. Vorstellungsbildern gesucht werden muss, ist dagegen plausibel. Ein Vorstellungsbild oder eine vorgestellte Szene enthält keinen Zeit- oder Realitätsbezug an sich. Das Bewußtsein klassifiziert die Vorstellung als auf etwas Vergangenes oder Zukünftiges bezogen oder als Phantasievorstellung, und diese Klassifizierung liegt nicht in der Vorstellung selbst. Das erwähnte Problem, wie wir uns aus der Gegenwart heraus auf die Vergangenheit beziehen können, verweist auf die Frage, inwieweit die Vergangenheit existiert. Denn wie soll man zu etwas einen Bezug herstellen, das nicht (mehr) existiert? Aus diesem Grunde - so Sartre - hatte Bergson die Auffassung vertreten, dass der Vergangenheit sehr wohl noch Existenz zukommt, und dass sie nur nicht mehr als Ursache fungieren kann. Der gegenwärtige Hund kann jemanden mit seinem Bellen verjagen, der vergangene Hund (obwohl auf obskure Weise noch existent) kann das nicht mehr. Sartre lehnt diese Auffassung mit dem Hinweis ab, dass eine unwirksame Vergangenheit ja auch unser Bewußtsein nicht beeinflussen könnte, die Vergangenheit würde also für das Bewußtsein nicht existieren (was soviel heisst, dass sich ein Bezug des Bewußtseins auf die Vergangenheit so nicht erklären liesse). Doch auch wenn die Vergangenheit wirksam wäre - so ergänzt der aufmerksame Leser - könnte sie auf das Bewußtsein nicht einwirken, weil das Bewußtsein nicht der Kausalität unterworfen ist. Und jetzt kommen wir zu dem für Sartre wesentlichen Punkt: Die Positivität des An-sich kann keine Spur der Vergangenheit enthalten, da die Vergangenheit nicht mehr ist und damit etwas Negatives in das An-sich käme. - Woraus folgt, dass die Vergangenheit eine Angelegenheit des Seins-für-sich sein muss. Doch wie ist das möglich, wenn das Bewußtsein nur gegenwärtig ist? In diesem Fall kann es lediglich eine Reihe aufeinanderfolgender Bewußtseine geben, die nicht miteinander verbunden sind. Die Auffassung von der Instantaneität des Bewußtseins muss also falsch sein: Die Vergangenheit des Bewußtseins ist im Gegenwartsbewußtsein auf irgendeine Art noch vorhanden! Doch wenn die Vergangenheit im Bewußtsein beheimatet ist, wie steht es dann um die allgemeine Vergangenheit (die wir doch normalerweise meinen, wenn wir von "Vergangenheit" sprechen)? Sartres Antwort lautet, dass es zunächst nur einzelne Vergangenheiten gibt, die den Bewußtseinen der Menschen entsprechen. Die allgemeine Vergangenheit ist ein sekundäres Konstrukt. Wenn Vergangenheit an ein Bewußtsein gebunden ist, stellt sich die Frage, was aus ihr wird, wenn das Bewußtsein nicht mehr ist - was dann der Fall ist, wenn der Mensch das Zeitliche gesegnet hat. - Das vergangene Bewußtsein dieses Menschen (oder dieser Mensch) existiert dann eben nur noch in der Vergangenheit der Menschen, die sich an ihn erinnern. Etwas kurzsichtig konstatiert Sartre daher: "Und die Toten, die nicht gerettet und an Bord der konkreten Vergangenheit eines Überlebenden transportiert werden konnten, sind nicht vergangen, sondern sie und ihre Vergangenheiten sind vernichtet." (Hier sollten wir an "Ötzi" denken - der schon vor Jahrtausenden vergessen wurde, dessen Vergangenheit aber plötzlich doch wieder präsent ist). Aus der Bewußtseinsgebundenheit der Vergangenheit ergibt sich noch eine weitere Konsequenz, nämlich die, dass unbewußte Gegenstände keine Vergangenheit im eigentlichen Sinne haben können. - Stellen wir uns vor, dass jemand einen Nagel zuerst krumm und danach wieder gerade gehämmert hat. Dieser Nagel sieht genauso aus wie ein neuer Nagel, der nicht mißhandelt wurde, verhält sich aber anders (verbiegt sich z. B. leichter). - Verweist dieses geänderte Verhalten nicht auf eine objektive Vergangenheit des Nagels als Ursache? Nein, sagt Sartre. Es verweist lediglich auf eine bestimmte gegenwärtige Molekülstruktur des Nagels, durch die er sich von einem neuen Nagel unterscheidet. Identität und Nicht-Identität des Für-sich mit seiner Vergangenheit Das Bewußtsein ist etwas, was sich über die Zeit hinweg verändert. Veränderung ist nun ohne Permanenz nicht denkbar: Bleibt es in dieser Veränderung also nicht dasselbe Bewußtsein und kann der Bezug des Gegenwartsbewußtseins auf seine Vergangenheit nicht dadurch erklärt werden, dass man annimmt, dass es jetzt noch dasselbe ist wie in seiner Vergangenheit (die Rose war gestern noch frisch und ist heute vertrocknet, aber es ist dieselbe Rose)? - Sartre reagiert auf diesen Einwand mit dem Hinweis, dass eine Permanenz des Bewußtseins in der Veränderung nur möglich ist, wenn es einen Vergangenheitsbezug bereits gibt, also das Bewußtsein nicht instantan ist. An der bloßen Aufeinanderfolge von Augenblicksbewußtseinen läßt sich nämlich keine Permanenz festmachen, diese Augenblicksbewußtseine wären nicht miteinander identisch. Hier zeigt sich, wo Sartre den Vergangenheitsbezug des Bewußtseins findet: In der Identität des gegenwärtigen Bewußtseins mit dem vergangenen Bewußtsein. Mit seinen Worten: Nur Seiende, die ihre Vergangenheit sind, können eine Vergangenheit haben. - Doch im Bewußtsein ist alles bewußt. Wie ist daher diese Identität mit der Tatsache verträglich, dass wir uns häufig falsch erinnern? - Sartre wird darauf zurückkommen, wenn er die Reflexion diskutiert. Insofern die Vergangenheit des Bewußtseins von seiner Gegenwart abhängt (denn sie verschwindet mit dem Bewußtsein, wenn dieses stirbt), kann Sartre konstatieren, dass das gegenwärtige Sein-für-sich Grund seiner Vergangenheit ist: Wir sind für unsere Vergangenheit verantwortlich. Das Wort suggeriert hier fälschlich einen von Sartre nicht gemeinten moralischen Kontext und meint nur diese Abhängigkeit. (Später wird er uns allerdings erklären, dass wir auch insofern für unsere Vergangenheit verantwortlich sind, als wir ihr einen Sinn geben.) - Einen Beleg für die Identität meint Sartre in der Sprache zu finden, genauer gesagt in der Zugehörigkeit der Form "war" zum Infinitiv "Sein": "Ich sehe zunächst, daß der Ausdruck 'war' ein Seinsmodus ist. In diesem Sinne bin ich meine Vergangenheit. Ich habe sie nicht, ich bin sie: [...]." Nun sind wir jedoch bekanntlich Sein-für-sich, d. h. als System Spiegelung / Spiegelndes nicht mit uns selbst identisch. Trifft das auf unsere Vergangenheit auch zu? Offenbar nicht. Was ich gewesen bin, bin ich gewesen, ein vergangenes Gefühl ist zwar immer noch ein Gefühl, aber nicht mehr als Spiegelung / Spiegelndes, es hat seine Uneindeutigkeit verloren. Als Vergangenheit ist das metastabile System nicht mehr metastabil, sondern hat einen Ruhezustand erreicht. Die Vergangenheit des Für-sich ist also, obwohl mit ihm identisch, An-sich. Da nun An-sich und Für-sich nicht identisch sein können, sind wir zwar unsere Vergangenheit, aber "nicht nach dem Modus der Identität" (was eine verschwurbelte Weise ist, auszudrücken, dass wir mit unserer Vergangenheit identisch und nicht-identisch sind ). Wir waren auf die Nicht-Identität mit unserem vergangenen Selbst bereits gestossen, und hatten sie als die "schwächere" Art der Nicht-Identität mit sich selbst bezeichnet, da es so schien, als liesse sich die Kontradiktion durch Umformulierung beseitigen, z. B. so: Ich bin mit meinem vergangenen Selbst identisch, insofern ich der Träger meiner Veränderungen bin. Insofern ich mich aber mit meinem veränderten Zustand identifiziere, bin ich nicht mehr mit mir identisch. Die Rose von heute ist immer noch die Rose, obwohl sie gestern frisch war und heute vertrocknet ist (Identität), die vertrocknete Rose von heute ist aber nicht mehr die frische Rose von gestern (Nicht-Identität). Jetzt sehen wir, dass Sartre es ernster meint: Weil es unmöglich ist, dass etwas eine Vergangenheit hat, was nicht mit ihr identisch ist, müssen wir mit unserer Vergangenheit identisch sein. Und weil es unmöglich ist, dass etwas zugleich An-sich und Für-sich ist, können wir nicht mit ihr identisch sein. - Die Kontradiktion kann also nicht auf einfache Weise aus dem Weg geräumt werden, diese Form der Nicht-Identität ist für Sartre nicht schwächer als die erste, obwohl sie auf der ersten aufbaut. Weil ich mit meiner Vergangenheit identisch bin, kann ich mich nicht von ihr distanzieren (nur in Einzelpunkten und nach längerer Zeit, wie Sartre etwas inkonsequent hinzufügt). Ich bin daher betroffen, wenn mir andere meine Vergangenheit zum Vorwurf machen. Aber weil ich mit meiner Vergangenheit auch nicht identisch bin, da ich sie als freies Für-sich "überschreite", ist diese Betroffenheit häufig lediglich Empörung darüber, das man mich mit etwas identifiziert, was ich nicht mehr bin. Wir hatten bereits gesehen, dass das Nichts im Für-sich eine Art Umhüllung aus An-sich hat, die vom "absoluten Ereignis", der Entstehung des Nichts im An-sich, zurückblieb, weil das entstandene Nichts relativ zu dem An-sich-Sein ist, aus dem es entstand. Diese An-sich-Komponente des Für-sich nennt Sartre die Faktizität des Bewußtseins. - Nachdem sich jetzt herausgestellt hat, dass die Vergangenheit zwar mit uns identisch, aber an-sich ist, kann man den Schluss ziehen, dass sie Teil dieser Faktizität sein muss, und so ist es auch. Doch das wirft folgende Frage auf: Muss das absolute Ereignis nicht vor meiner Geburt oder meiner Bewußtwerdung (falls diese nach der Geburt liegen sollte) stattgefunden haben? Warum gehört also nicht nur der Embryo oder Säugling, aus dem ich mich entwickelte, zu meiner Faktizität, sondern alles, was mir danach geschehen ist, gleichfalls? - Nun, Sartre würde darauf antworten, dass das absolute Ereignis kein Ende hat, solange das Bewußtsein existiert (es ist ein "fortdauernder Akt"). Das Nichts entsteht permanent neu aus dem An-sich, so dass sich die Faktizität im Laufe der Zeit quasi anhäuft (man fühlt sich hier an Benjamins "Engel der Geschichte" erinnert, wenn man an den tragischen Charakter denkt, den das Leben für Sartre hat). Beendet ist es erst mit dem Tode, in dem das Für-sich erlischt, das Nichts verschwindet. Wenn das passiert ist, bin ich mit meiner Vergangenheit identisch, und nur noch identisch. Ich bin dann, was ich bin und könnte von einem allwissenden Biographen vollständig beschrieben werden: "Durch den Tod verwandelt sich das Für-sich für immer in An-sich, insofern es völlig in die Vergangenheit geglitten ist. So ist die Vergangenheit die immer wachsende Totalität des An-sich, das wir sind." Sartre stellt noch einen Vergleich an zwischen der Vergangenheit und dem "Wert": Beide haben nämlich die Gemeinsamkeit, dass sich An-sich und Für-sich in ihnen treffen. Der "Wert" ist die unmögliche Synthese von An-sich und Für-sich, die Vergangenheit wiederum ist zu An-sich gewordenes Für-sich. Diese Ähnlichkeit sorgt dafür, so Sartre, dass uns die Vergangenheit poetisch erscheinen kann: Ein vergangener Bewußtseinsinhalt ist ein Bewußtseinsinhalt, der mit sich identisch ist, und das ist ja genau das, was das Bewußtsein anstrebt! - Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Der ideale "Wert" ist nicht nur eine Synthese aus An-sich und Für-sich, sondern ist auch durch sich selbst begründet, während die Vergangenheit kontingent ist. - Die Synthese aus An-sich und Für-sich in der Vergangenheit ist sozusagen zu weit gegangen: Das Für-sich ist zugunsten des An-sich verschwunden, so dass die für eine Selbstbegründung nötige Spaltung fehlt. Während die Vergangenheit des Für-sich zu An-sich geworden ist, ist die Gegenwart Für-sich. Sartre kommt hier auf das erwähnte Problem zu sprechen, dass die Gegenwart als Grenze von Vergangenheit und Zukunft lediglich ein unendlich kleiner Augenblick ist. Vielsagend fügt er hinzu, sie sei also eigentlich "ein Nichts". (Wer denkt da nicht gleich an das Nichts im Für-sich?) - Sartre unternimmt dann den Versuch, den Begriff "gegenwärtig" auf den Begriff "anwesend" zurückzuführen: Gegenwart sei die Anwesenheit von etwas bei etwas. - Anwesend ist das Für-sich beim An-sich, und zwar dadurch, dass das Für-sich das An-sich nicht ist. Sartre hebt hervor, dass sich diese Anwesenheit auf das gesamte Sein-an-sich bezieht und nicht nur auf die Dinge, die mich gerade umgeben, da das Für-sich das gesamte An-sich nicht ist. Man muss hier daran denken, dass das Sein-an-sich für Sartre nicht zeitlich ist, da seine reine Positivität eine Mehrzeitlichkeit ausschließt. Was also erklärt werden muss, ist, wie es trotzdem dazu kommen kann, dass Dinge gleichzeitig existieren (zwar gibt es eine Aufteilung in Dinge erst durch das Bewußtsein, die Dinge sind aber, wie erwähnt, auch nach dieser Aufteilung immer noch An-sich, so dass sich das Problem ihrer Zeitlichkeit trotzdem stellt). Diese Gleichzeitigkeit muss auf einem Zeugen basieren, der mit den Dingen gleichzeitig anwesend ist und verdankt sich nur diesem Zeugen. - Die Anwesenheit ist übrigens eine einseitige Angelegenheit: Das Für-sich ist beim Sein-an-sich anwesend, das Sein-an-sich aber nicht beim Für-sich (da sich das positive An-sich nicht als nicht das Für-sich seiend definiert). Der Zeuge ist natürlich das Bewußtsein. Dessen Anwesenheit bei den Dingen ist in Wahrheit nur das nicht-die-Dinge-sein, durch das sich das Für-sich definiert. Da das Bewußtsein nun als Spiegelung/Spiegelndes immer sein eigener Zeuge ist, kann Sartre sagen, dass das Für-sich sich selbst Zeuge ist als das An-sich nicht seiend. - Wir wissen ja, dass das Für-sich als nicht mit sich selbst identisch eine Entität ist, die sich durch ihre Negativität, ihr "Nichts", bestimmt. Hier tritt nun ein weiterer negativer Aspekt hinzu. - Eine Auflistung der negativen Aspekte, in denen das "Nichts" des Für-sich besteht, ist vielleicht hilfreich: 1. Das Für-sich ist nicht es selbst, da jedes Bewußtsein Bewußtsein von Bewußtsein ist. 2. Das Für-sich ist nicht es selbst, insofern es nicht der "Wert" ist. 3. Das Für-sich ist nicht seine Faktizität/Vergangenheit, da diese An-sich ist. 4. Das Für-sich ist nicht die gegenwärtig existierenden Dinge, bzw. definiert sich als nicht diese Dinge seiend. Man beachte, dass 4. sich von den anderen Aspekten unterscheidet, da es keine parallellaufende Identität gibt: Ich bin ich selbst und nicht ich selbst, ich bin meine Vergangenheit und nicht meine Vergangenheit, aber die gegenwärtig existierenden Dinge bin ich einfach nur nicht. - Sartre argumentiert nun überraschenderweise, dass sich aus dem vierten Aspekt die oben erwähnte Nicht-Existenz der Gegenwart ergibt: Da die Beziehung des Seins zum An-sich, die die Gegenwart ausmacht, rein negativ ist, ist die Gegenwart lediglich ein Nichts. - "[Das Für-sich] entgeht dem Sein auf zweifache Weise, durch innere Auflösung und ausdrückliche Negation. Und die Gegenwart ist genau diese Negation des Seins, dieses Entweichen aus dem Sein, insofern das Sein da ist als das, aus dem man entweicht." - Diese Problemlösung wirkt suspekt: Wie soll sich aus der logischen Negativität des Für-sich gegenüber dem gleichzeitig existierenden An-sich die Ausdehnungslosigkeit der Gegenwart ergeben? Das Sein-an-sich kann keine Zukunft haben, wie die übrigen Aspekte der Zeit kommt die Zukunft daher aus dem Bewußtsein. Genauer gesagt, sie kommt aus dem "Wert", der dafür sorgt, dass sich das Für-sich eine Zukunft gibt, die in dem verwirklichten "Wert" besteht. - In diesem Zusammenhang möchte ich die Rolle des "Wertes" mit einem praktischen Beispiel beleuchten, das Sartre in seinen Kriegstagebüchern gibt: Ich stehe und beabsichtige, mich auf einen Sessel zu setzen (weil mich das Stehen ermüdet hat, so scheint es mir jedenfalls). Doch was will ich in Wahrheit erreichen? Ich möchte ich selbst auf dem Sessel sitzend sein. Was macht diesen Zustand begehrenswert? Nun, dadurch, dass ich mich selbst dazu bestimmt habe, auf dem Sessel zu sitzen, habe ich mir einen Seinsgrund gegeben. Ausserdem erscheine ich mir, wenn ich mir diesen zukünftigen Zustand meiner selbst vorstelle, als das, was ich bin (nämlich auf dem Sessel sitzend), also als mit mir identisch und somit von der Zweideutigkeit des Für-sich befreit. (Gleichzeitig erscheine ich mir aber als immer noch bewußt - ich stelle mir nicht vor, dass ich als Leiche auf dem Sessel sitze) - Mit dem Entwurf meiner selbst als im Sessel sitzend versuche ich also, die zwei ursprünglichen Begierden des Seins-für-sich zu befriedigen, die Begierde nach Selbstbegründung und die Begierde nach An-sich-Sein. Wie wir wissen, scheitert dieser Versuch, den "Wert" zu verwirklichen: Zwar sitze ich am Ende (vermutlich) in dem Sessel, doch das Bewußtsein, das sich auf diesen Zustand hin entworfen hat, ist Vergangenheit, ins An-sich übergegangen. Als solches kann es mir nicht mehr zur Selbstbegründung dienen, es ist nur noch ein kontingenter Umstand unter anderen, der meine gegenwärtige Situation bestimmt. - Dagegen bin ich selbst, auch wenn ich jetzt sitze, wieder zweideutiges Für-sich und nicht etwa die angestrebte Synthese aus An-sich und Für-sich. - Also stellt sich eine "ontologische Enttäuschung" ein, die dazu führt, dass ich einen neuen Versuch starte, und mich z. B. daraufhin entwerfe, wieder aufzustehen. Als mir vorgestellt habe, in dem Sessel zu sitzen, habe ich mir - abgesehen von mir selbst - auch einen bestimmten Zustand der Welt vorgestellt (z. B. dass der Sessel seinen Platz nicht verändert hat oder verschwunden ist). Ausgehend von meiner Möglichkeit, in dem Sessel zu sitzen, war ich gezwungen, auch eine mögliche Welt zu erfassen. - Das übliche Vorurteil, wonach die Zukunft in erster Linie Zukunft der Welt ist, ist - so Sartre - also falsch. Die Zukunft ist in erster Linie meine Zukunft als Bewußtsein, die Zukunft der Welt ist logisch nachgeordnet, insofern ich mir mich selbst in der Zukunft immer nur als anwesend bei einer Welt denken kann. Ausgehend von meinen Möglichkeiten, gebe ich der Welt eigene Möglichkeiten. Vergangenheit und Zukunft haben das miteinander gemein, dass sie mit meinem Gegenwartsbewußtsein identisch und nicht identisch sind. Die Zukunft ist mit mir identisch, da "ich werde sein" genau wie "ich war" Identität ausdrückt. So wie es einen Bezug zur Vergangenheit lediglich dadurch geben kann, dass ich meine Vergangenheit bin, kann es einen Bezug zur Zukunft nur geben, weil ich meine Zukunft bin. - Beide sind natürlich auch nicht identisch mit mir: Die Vergangenheit, weil sie An-sich ist, und die Zukunft, weil sie die unmögliche Synthese von An-sich und Für-sich ist, die der "Wert" bedeutet. Worin besteht nun der wesentliche Unterschied, der es erlaubt, beide auseinanderzuhalten? Er besteht darin, dass meine Vergangenheit nicht meiner Freiheit unterworfen ist, meine Zukunft hingegen schon: "Ich bin meine Zukunft in der konstanten Perspektive der Möglichkeit, sie nicht zu sein." - Die Zukunft ist also offen, was es nicht erlaubt, von ihrer Existenz zu sprechen (abgesehen davon, dass sie in ihrer eigentlichen Form - dem "Wert" - nie verwirklicht werden kann). Die Vergangenheit hat wirkliche Existenz, sie ist Sein-an-sich, die Zukunft hat nur ideale Existenz. Sartre weist zum Abschluss darauf hin, dass die Hierarchie meiner Möglichkeiten nicht der Chronologie entspricht: Ein nach der Zeitmessung weiter in der Zukunft liegender Punkt kann mein Handeln stärker bestimmen als ein näher in der Zukunft liegender. Der Entwurf, am soundsovielten bei einem Freund, der in einer fernen Stadt wohnt, einzutreffen, ist z. B. den der Chronologie nach näherliegenden Entwürfen im Hinblick auf die Art des Reisemittels oder dem Zeitpunkt meiner Abfahrt übergeordnet. Es kann sogar sein, dass ich zu letzteren noch gar keine Entwürfe habe. Sartres Kapitel "Die Zeitlichkeit" teilt sich in zwei Abschnitte ein, die "Phänomenologie der Zeit" und die "Ontologie der Zeit". Gegenstand der "Phänomenologie" war die getrennte Behandlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da die Argumentation, wie wir gesehen haben, stark von Sartres Ontologie bestimmt war, erscheint die Einteilung in "Phänomenologie" und "Ontologie" irreführend. Am Beginn der "Ontologie der Zeit" kündigt Sartre an, dass in diesem Abschnitt die Zeit als Totalität behandelt werden soll. Man könnte nun annehmen, dass es jetzt um "die" Zeit im Unterschied zu den drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht. In Wahrheit geht es primär um eine grundlegende Kritik aller Auffassungen, nach der sich die Zeit aus voneinander unabhängigen Elementen zusammensetzt. - Wir waren schon darauf gestossen, dass Sartre es für unmöglich hält, den Bezug des gegenwärtigen Bewußtseins zu seiner Vergangenheit oder seiner Zukunft zu erklären, wenn Vergangenheit und Zukunft von der Gegenwart abgetrennt sind. Sartres Gegenvorschlag bestand darin, eine Identität des gegenwärtigen mit dem vergangenen und zukünftigen Bewußtseins anzunehmen. Wir haben gesehen, dass diese Identität mit mit paralleler Nicht-Identität einhergeht und auf das Nichts im Bewußtsein verweist. - In der "Ontologie" wird Sartre diesen Ansatz vertiefen. Sartre unterscheidet zunächst eine statische und eine dynamische Betrachtungsweise der Zeit. Die statische Betrachtungsweise bezieht sich nur auf den Ordnungscharakter, den die Zeit hat, insofern man alle Zeitpunkte auf einer nicht umkehrbaren Linie nach "vorher" und "nachher" sortiert anordnen kann. Die dynamische Betrachtungsweise berücksichtigt das, was die statische ausklammert, nämlich dass Zeit sukzessiv ist. - Was das heisst, werden wir später sehen. Die statische Betrachtungsweise verführt zu der Auffassung, dass sich die Zeit aus Augenblicken zusammensetzt, wenn man nämlich annimmt, dass sich die "Vorher"-"Nachher"-Linie in kleinste Teile zerlegen lässt. Hier stellt sich das Problem, welche Verbindung zwischen den Augenblicken existiert. Wird diese Verbindung von einem Zeugen hergestellt, der wahrnimmt, wie ein Augenblick vom nächsten abgelöst wird? - Sartre hält das für eine nur scheinbare Problemlösung, da die Wahrnehmung von Augenblicken selbst ein zeitlicher Vorgang ist, so dass sich das Problem lediglich auf den Zeugen verlagert. Sartre erwähnt zwei weitere Versuche, das Problem zu bewältigen. Descartes habe die Verbindung der Augenblicke, den Übergang von einem instantanen Bewußtsein zu einem späteren, in der fortlaufenden Schöpfung Gottes (creatio continua) gesucht, Kant in einer Form der Anschauung, mit der das Subjekt die Sinnesdaten ordnet. - Beide Standpunkte haben nicht viel miteinander gemein, abgesehen davon, dass sowohl Gott als auch das Kantische Subjekt als ausserhalb der Zeit stehend gedacht werden. Es handelt sich also beide Male um den Versuch, die Zeit aus etwas Zeitlosem abzuleiten. - Sartre hält das für widersinnig. (Die Argumentation ist hier ähnlich wie im Falle der Negation, die nach Sartre nicht aus nur positiven Elementen rekonstruiert werden kann.) Leibniz wiederum versuchte, das Problem aus der Welt zu schaffen, indem er darauf verwies, dass die Zeit nicht aus Augenblicken zusammengesetzt, sondern kontinuierlich sei. Doch der Begriff der Kontinuität ist selbst erklärungsbedürftig. Sartre zitiert eine Definition des Physikers und Mathematikers Poincaré: Eine Reihe A, B, C ist kontinuierlich, wenn gilt: A gleich B, B gleich C, A ungleich C. - Sartre begrüsst sie mit offenen Armen: "Diese Definition ist ausgezeichnet, weil sie uns tatsächlich einen Seinstypus vermuten läßt, der das ist, was er nicht ist, und nicht das ist, was er ist: [...]." Offenbar haben wir hier einen Bruch der Logik, der nur durch Nicht-Identität mit sich selbst erklärbar ist! Nicht-identisch mit sich selbst ist das Für-sich, so dass eine kontinuierliche Zeit ihren Ursprung in diesem Seinsbereich haben muss, wie wir bereits gesehen haben. - Jetzt hält Sartre den Moment für passend, eine Gesamtbeschreibung der Zeit im Kontext des Für-sich zu versuchen: Sie entsteht im Moment der Geburt, die ja das absolute Ereignis ist, in dem das An-sich sich selbst mit Nichts infiziert, um so seine Kontingenz zu beseitigen. Die erste Vergangenheit, die entsteht, ist der Embryo als das An-sich, mit dem die Geschichte beginnt (es ist nicht nötig, sagt Sartre, dass das Vergangene des Bewußtseins vergangenes Bewußtsein ist, der Mensch befinde sich gleichfalls in Seinssolidarität mit dem unbewußten Embryo). Mit dieser Vergangenheit entsteht die Vergangenheit überhaupt, da das An-sich ja keine Vergangenheit haben kann. (Ausserdem entsteht die Welt als die in Dinge aufgeteilte Totalität des An-sich.) "Es gibt nicht zunächst eine universelle Zeit, in der plötzlich ein Für-sich erschiene, das noch keine Vergangenheit hat. Sondern von der Geburt aus, als ursprüngliches, apriorisches Seinsgesetz des Für-sich, enthüllt sich eine Welt mit einer universellen Zeit, in der man einen Moment bezeichnen kann, wo das Für-sich noch nicht war, und einen Moment, wo es erscheint, [...]" Die Vergangenheit des Bewußtseins ist an-sich und daher nicht Teil des Bewußtseins. Da sie aber dennoch mit dem Bewußtsein identisch ist, unterscheidet sie sich von dem gegenwärtigen An-sich, das wahrgenommen wird. (Erinnern wir uns daran, dass das Verhältnis der Dinge zum Bewußtsein - ausnahmsweise - eines der absoluten Nicht-Identität ist: Das Bewußtsein ist nicht die Dinge.) - Die Vergangenheit des Bewußtseins ist also kein Erkenntnisgegenstand, sie bildet vielmehr einen Hintergrund des Bewußtseins, der nicht begrifflich erfasst wird. - Diese "Heimsuchung" des Bewußtseins durch seine Vergangenheit, die, wie Sartre sagt, "eine unabänderliche und rückwärtige Tiefe" der Gedanken und Gefühle ist, kann die erste, unbewußte Vergangenheit des Bewußtseins (den Embryo) wohl kaum mitumfassen, möchte man meinen: Schliesslich erinnert sich das (bewußte) Kind nicht an seine (unbewußte) Embryonalzeit. Mit dem Bewußtsein entsteht nicht nur die gegenwärtige Welt und die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft: Das Bewußtsein erfasst sich als Mangel, und - wie wir sahen - kann ein Mangel lediglich im Hinblick auf eine verfehlte Totalität existieren, in der das Mangelnde ergänzt ist. Diese Totalität ist der in der Zukunft liegende "Wert". - Da Sartre nun alle drei Aspekte der Zeit erfolgreich im Bewußtsein verortet hat, kann er die Zeitlichkeit als "Innenstruktur des Seins, das seine eigene Nichtung ist" bezeichnen. Die statische Betrachtungsweise der Zeit (als eine Vorher-Nachher-Reihe) unterschlägt den Aspekt, den man umgangssprachlich mit den Worten "die Zeit vergeht" auszudrücken pflegt. Es gibt nicht nur eine Vergangenheit des Für-sich, die vor seiner Gegenwart liegt, die wiederum vor seiner Zukunft liegt, es gibt auch einen permanenten Wechsel: Gegenwärtiges Für-sich wird vergangenes (an-sich-gewordenes) Für-sich, und es entsteht ein neues gegenwärtiges Für-sich. Wer die Zeit lediglich als Ordnung auffasst, übersieht vielleicht, dass dieser Wechsel erklärt werden muss. - Dazu kommt, dass der Wechsel nicht nur die Veränderung eines Aspektes an einem sich Gleichbleibenden darstellt, sondern absolut ist: Das alte Für-sich verschwindet vollkommen, und wird völlig neu hervorgebracht. Sartres hält das Problem der Dynamizität der Zeit für ein Scheinproblem, das entsteht, wenn man die einander abwechselnden Für-sich als An-sich-Entitäten auffasst. Das Für-sich trägt die Veränderung jedoch bereits in seiner labilen ontologischen Struktur, so dass keine besondere Erklärung mehr nötig ist. Das gegenwärtige Bewußtsein wird zu vergangenem Bewußtsein. Können wir analog dazu sagen, dass das zukünftige Bewußtsein sich in gegenwärtiges verwandelt? - Nein, so Sartre: Wer das behauptet, übersieht, dass die Zukunft nicht fixiert ist: Sie ist immer nur mögliche Zukunft. Die Zukunft wird daher nicht etwa Gegenwart, sondern Zukunft eines vergangenen Bewußtseins. Nachbemerkung zu Diskussion der Zeit Stephen Hawkins Behauptung, dass die Zeit mit dem Urknall begonnen habe, ist absurd, wenn man den Begriff "Zeit" im normalen, alltagssprachlichen Sinne versteht. Was war denn vor dem Urknall (Hawkins hält diese Frage nicht für sinnlos, soweit ich weiss)? Offenbar ist der Urknall ein Ereignis, das zu einer bestimmten Zeit geschehen ist. Wenn dieses Ereignis, unter anderem, darin bestand, dass die Zeit begann, muss es eine andere Zeit geben, nämlich die Zeit des Ereignisses. Das Problem stellt sich in Wahrheit nicht, weil Hawkins den Zeitbegriff der Physiker im Auge hat. Dieser Begriff spielt, wie erwähnt, seine Rolle im Theoriesystem des aktuellen physikalischen Paradigmas und kann mit dem normalen Zeitbegriff nicht identisch sein (sonst wäre die physikalische Theorie aus rein logischen Gründen falsch). - Physiker sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, Laien mit Kurzversionen ihrer Theorien versorgen zu müssen und identifizieren bei dieser Gelegenheit ihre Fachbegriffe mit scheinbar bedeutungsähnlichen umgangssprachlichen Ausdrücken. Wenn man Hawkins also (vermutlich) verzeihen kann, dass er der Zeit einen Anfang gibt, hat Sartre keine solche Entschuldigung. Wenn Sartre die Entstehung der Zeit in das absolute Ereignis verlegt, kann er noch so sehr darauf insistieren, dass dieses Ereignis "ausserzeitlich" sei - man versteht ihn nicht. - Ein Ereignis geschieht, und was immer geschieht, geschieht in der Zeit (und das heisst, man kann sinnvoll fragen, was vorher geschehen ist und was danach geschieht). - Ich hatte gesagt, dass Sartre möglicherweise zu einem eigenen Zeitbegriff gelangt: Das geschieht zwangsläufig durch die Einführung des absoluten Ereignisses. Es gab eine Zeit(2), in der es stattfand und diese Zeit kann offenbar nicht mit der Zeit(1) identisch sein, die mit dem Ereignis begann. Man könnte jetzt natürlich annehmen, dass die Zeit(2) mit der normalen Zeit zu identifizieren ist und die Zeit(1) eine reine Angelegenheit der Subjektivität sei, ein pychisches Phantom. (So gehen Gehirnphysiologen davon aus, dass unser Gehirn die Aussenwelt neu konstruiert - es gibt also zwei Aussenwelten, die reale und die vom Gehirn rekonstruierte, die von der realen stark abweichen kann.) - Sartre würde sich strikt gegen eine solche Interpretation wehren. Die Zeit, die er zu erklären beabsichtigt, ist keine Illusion, sondern "die" Zeit. Er würde also leugnen, dass er Zeit(2) voraussetzen muss, um Zeit(1) zu erklären und sich vielleicht darauf berufen, dass der Begriff eines zeitlosen Ereignisses nicht von ihm erfunden wurde: Schon Augustinus vertritt die Auffassung, dass die Zeit von Gott geschaffen wurde (so dass die Frage, was Gott vor der Schöpfung tat, sinnlos ist). - Aber macht seine Altehrwürdigkeit den Begriff brauchbar? Ereignisse finden statt, fanden statt oder werden stattfinden. Wie in vielen Streitfällen, die den Bereich der Logik tangieren, ist es schwierig, sie argumentativ zu enscheiden. - Was stattdessen? Man sieht es oder man sieht es nicht (ähnlich verhält es sich, glaube ich, mit der Unmöglichkeit, Existenz als Prädikat zu setzen). Ein anderer Kritikpunkt an Sartre betrifft die Fragen nach dem "Sein" von Vergangenheit und Zukunft. "Existieren" ist nämlich ebenfalls ein Ausdruck, der in allen Zeitformen vorkommen kann. Etwas existiert, existierte oder wird existieren. Wer nach der Existenz der Vergangenheit fragt, was soll er meinen, wenn nicht die gegenwärtige Existenz? Doch wenn der Vergangenheit eine gegenwärtige Existenz zukommt, macht es auch Sinn, nach der vergangenen Existenz der Vergangenheit zu fragen, wir finden uns also wieder im logischen Nirvana wieder. - Doch Sartre könnte sich vielleicht darauf hinausreden, dass sein Begriff "Sein" mehr umfasst als lediglich Existenz, und vor allen Dingen zeitlos konzipiert ist - die Fortsetzung spare ich mir. Am Ende des "Zeitlichkeit"-Kapitels sieht sich Sartres Leser plötzlich in die "Transzendenz des Ego" zurückversetzt, denn es geht um die Reflexion. - Die Reflexion hat für "Das Sein und das Nichts" ausschlaggebende Bedeutung. Warum? Sartre greift für seine Argumentationen als Grundlage auf das Cogito zurück. Und wer vermittelst des Cogito zu philosophischen Erkenntnissen gelangt, befindet sich während seiner introspektiven Tätigkeit auf der reflexiven Bewußtseinsebene (auch Aussagen über das Bewußtsein im präreflexiven Modus verdanken sich dem nachträglichen Schritt auf die reflexive Ebene). Doch warum findet die Abhandlung dieses Themas gerade im Kontext der Zeit statt? - Wir haben gesehen, dass das Cogito für Sartre nicht instantan sein kann, kein Augenblicksbewußtsein, sondern die Vergangenheit mitumfassen muss. Wenn dem aber so ist, heisst das, dass uns die Reflexion Erkenntnisse über unsere Vergangenheit liefern kann. - Dem scheint nun zu wiedersprechen, dass unsere Erinnerung keineswegs unfehlbar ist, wohingegen Reflexion, da sie das Bewußtsein selbst (den transluziden Bereich) betrifft, prinzipiell irrtumsfrei ist. - Um diese Schwierigkeit aufzulösen, ist eine Untersuchung der Reflexion nötig. Was geschieht, wenn das Bewußtsein aus dem vorreflexiven in den reflexiven Zustand übertritt? Der vorreflexive Zustand ist das metastabile System Spiegelung/Spiegelndes, eine Dualität, die gleichzeitig Einheit ist. Wenn das Bewußtsein nun auf dieses System reflektiert, kommt es dabei zu einer Verdoppelung? Spaltet das vorreflexive Bewußtsein während des Übergangs ein zweites Bewußtsein von sich ab, das dann die Rolle des Beobachters übernimmt? Die Hypothese wäre naheliegend, da das reflektierende Bewußtsein ja selbst ein System Spiegelung/Spiegelndes bildet. - Für Sartre kommt sie nicht in Frage. Sie würde der ganzen Bewußtseinsphänomenologie die Grundlage entziehen, da sie eine Distanz zwischen dem erkennenden Bewußtsein (dem reflexiven Bewußtsein) und seinem Gegenstand (dem Bewußtsein, auf das reflektiert wird) annehmen müsste. Die Reflexion würde sich nicht mehr wesentlich von einer Objekterkenntnis unterscheiden und könnte keinen Anspruch auf besondere Sicherheit erheben. Abgesehen davon bliebe die plötzliche Neuschöpfung eines Bewußtseins und natürlich auch sein späteres Verschwinden rätselhaft (wenigstens wenn man Sartres Ontologie voraussetzt). Damit die Seinseinheit des Für-sich und damit der Geltungsanspruch einer auf Reflexion basierenden Philosophie gewahrt bleibt, ist Sartre zu der These gezwungen, dass es bei der Reflexion nicht zu einer Verdoppelung des Bewußtseins, sondern nur zu einer Änderung seiner Struktur kommt. Diese Modifikation, die sich das Bewußtsein selbst gibt (da ja alles im Bewußtsein spontan ist), läuft auf eine unvollständige bzw. scheinbare Verdoppelung des Bewußtseins hinaus. Das reflektierte Bewußtsein wird nicht zum Objekt für das reflektierende, sondern - so Sartre - nur "Quasi-Objekt". - Wie unterscheidet sich ein Objekt von einem Quasi-Objekt? - Dadurch, dass die normalerweise mit Abstand verbundene Distanz zwischen Bewußtsein und Objekt im Falle des Quasi-Objektes unendlich klein, Nulldistanz ist. Da diese Bewußtseinsmodifikation aus der Spontaneität des Bewußtseins hervorgeht, liegt der Verdacht nahe, dass sie ein Versuch des Bewußtseins ist, den "Wert" zu realisieren (wie alle Beschäftigungen des Bewußtseins) und das heisst, sich selbst die ruhige Identität eines An-sich-existierenden Gegenstandes zu verleihen. - Das ist tatsächlich Sartres Ansicht: In der Reflexion versucht das Für-sich, dem labilen System Spiegelung / Spiegelndes zu entkommen und "das zu sein, was es ist". Würde der Versuch glücken, käme es tatsächlich zu einer Spaltung in das Für-sich-Bewußtsein, das die Beobachterrolle einnimmt, und das an-sich gewordene Bewußtsein, das "ist, was es ist" und auf das reflektiert wird. Da er aber aus bekannten Gründen nicht glücken kann, bleibt es bei einer halben Loslösung des Bewußtseins von sich selbst, was der Begriff "Quasi-Objekt" andeutet. Aber wäre die Unmöglichkeit eines solchen Versuches nicht plausibler als die Annahme, dass er zwar nicht gelingt, aber einen neuen hybriden Zustand hinterläßt (und zwar einen, der das Bewußtsein in seiner Instantaneität trifft, die an und für sich schon das hybride Ergebnis eines gescheiterten Versuches ist)? Die ontologische Beschreibung der Reflexion an dieser Stelle erweckt den Eindruck, als wäre ihr hauptsächlicher Daseinsgrund das Bedürfnis Sartres, die Gültigkeit der Reflexion aus der Gefahrenzone zu bringen: Die Bewußtseinseinheit bleibt gewahrt und Reflektiertes und Reflektierendes befinden sich in Identität, so dass Sein und Erscheinen im Bewußtsein weiterhin zusammenfallen. Wir hatten in der "Transzendenz des Ego" gesehen, dass die Reflexion verunreinigt sein kann. Das war der Fall, als Descartes in seinem Cogito das Ich wiederzufinden glaubte, das in Wahrheit ein transzendenter Gegenstand ist. Das Prinzip einer solchen Verunreinigung ist das scheinbare Erblicken von Objekten im Bewußtsein (nicht zu verwechseln mit dem gerade erwähnten "Quasi-Objekt" der Reflexion, das tatsächlich bewußtseinsimmanent ist). Da es im Bewußtsein keine Objekte geben kann, müssen die "Schattenobjekte" das Resultat einer Fehlinterpretation sein. - Sartre hatte ein Beispiel angeführt: Die Reflexion scheint mir zu verraten, dass ich jemanden hasse, eine Feststellung, die zu ihrer Begründung längere Beobachtungen erfordern würde, die noch dazu besser nicht von mir selbst ausgeführt werden. - Wie kommt es zu dem Fehler? Ich interpretiere eine momentane Abneigung als Wirkung des Hasses, und nehme mit Selbstverständlichkeit an, dass der Verursacher sich im Bewußtsein befindet. Diese Annahme wiederum verwechsle ich mit einem tatsächlichen Bewußtsein von Hass. Sartre hatte sich in der "Transzendenz des Ego" vorwiegend mit solchen Schattenobjekten beschäftigt, deren Ursprung die Vereinheitlichung des Bewußtseins ist. Dazu gehörten das Ich, Zustände, Qualitäten und Handlungen (siehe oben). Immer handelt es sich um Einheiten, die als wirkmächtig interpretiert werden, in Wahrheit aber gänzlich von ihren scheinbaren Wirkungen abhängen - von "Hass" kann ich sprechen, wenn ich über einen längeren Zeitraum hinweg auf einen Menschen mit Gefühlen der Abneigung reagiere. Doch über diese Abneigungen hinaus gibt es in Wahrheit nichts, da diese aus der Spontaneität meines Bewußtseins hervorgehen und nicht verursacht sein können. - Jetzt erweitert Sartre den Kreis der Schattenobjekte auf den gesamten Bereich der Psyche, die er als "die Einheit der von der unreinen Reflexion produzierten Schattengegenstände" definiert. - Zur Psyche gehört auch die Zeit, wie wir sie zu erfahren scheinen, als Bewußtseinsstrom: In Wahrheit gibt es die Zeit lediglich als ontologische Struktur des Für-sich, während der (in Augenblicke teilbare) Erlebnisstrom ein Schattenobjekt ist. Sartre möchte übrigens keineswegs behaupten, dass die Psychologie, die sich mit der Psyche beschäftigt, eine Art Astrologie ist, die einen nicht existierenden Gegenstand untersucht (die Astrologie beschäftigt sich mit der nicht existierenden Einwirkung der Gestirne auf das Schicksal). Der Psyche und ihren Inhalten kommt eine gewisse Realität zu, die sich daraus ergibt, dass die unreine Reflexion der Normalfall ist, und die Schattengegenstände daher mit einem gewissen Automatismus erscheinen, wenn Menschen "in sich hineinblicken". Da die unreine Reflexion einen Irrtum des Für-sich über sich selbst involviert, solche Irrtümer aber prinzipiell ausgeschlossen sind, liegt es nahe, die unreine Reflexion als Variante des Schlechten Glaubens (siehe dort) zu erklären. Wie wir wissen, ist der Schlechte Glaube ein Versuch, sich von der Angst als Freiheitsbewußtsein abzulenken. Und genau das erreicht das Bewußtsein, wenn es z. B. den Hass als an-sich-bestehende Ursache seiner Abneigung interpretiert! Denn der Hass fungiert als Entschuldigung: Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass mir dieser Mensch zuwider ist, denn was kann ich für meinen Hass? - Sartre besteht demgegenüber auf meiner totalen Verantwortlichkeit für die Abneigung, da diese weder durch den Hass noch durch irgendwelche negativen Erfahrungen mit dem betreffenden Menschen verursacht worden sein kann, sondern spontan ist. Ebenfalls nur Schattengegenstände sind die Triebe und Gelüste. - Sartre bezeichnet sie als Projektionen des Mangels: Dieser erscheint in der unreinen Reflexion als psychisches Objekt, eben als Trieb. - Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass der Mangels meines Erachtens als Erklärung für die Begierde ungeeignet ist, weil er eine korrespondierende Begierde voraussetzt. Schattengegenstände der Psyche sind für Sartre auch die Handlungen ("Akte", als psychische Realität, nicht als ausgeführte Handlung). Eine Handlung bezieht Mittel auf einen bestimmten Zweck (der die Verwirklichung einer meiner Möglichkeiten ist), ist als solche aber lediglich ein Erzeugnis der Reflexion. Wenn ich mich auf der präreflektiven Bewußtseinsebene befinde, erscheint mir meine Möglichkeit nicht als etwas, das von mir durch Ergreifen dieser oder jener Mittel verwirklicht werden muss, sondern als eine objektive Eigenschaft der Dinge. - Was Sartre damit meint, erklärt er mit einem Beispiel, an dem er offensichtlich Freude hat: Das Gesicht eines Menschen erscheint mir unreflektiert als "Fresse zum Reinschlagen". Das "Reinschlagen" ist auf dieser Ebene nicht eine Möglichkeit, die mir zu verwirklichen offensteht, und die dem Gesicht äußerlich ist, sondern eine objektive Forderung, die so zum Gesicht gehört wie seine Augenfarbe oder Nasenform. Aber widerspricht diese Objektivität der Möglichkeit nicht meiner Freiheit? Wie kann ich mich denn dagegen wehren, den Faustschlag tatsächlich auszuführen, wenn die Aufforderung dazu objektiv im Gesicht des Anderen steht? Wer diese Fragen stellt, hat vergessen, dass das Erscheinen der Forderung auf der präreflexiven Ebene selbst Resultat meiner Freiheit ist. Die Angst als spezifisches Freiheitsbewußtsein erscheint erst in der Reflektion, die, wie Sartre uns erklärt hat, zeigt, dass jeder Zweck einer Handlung sich auf einen Grundentwurf bezieht, der frei gewählt wurde. - Jedoch wie verträgt sich das damit, dass Sartre die Handlung soeben als durch unreine Reflexion erzeugtes Schattenobjekt, also als Resultat Schlechten Glaubens hingestellt hat? - Man kann vermuten, dass uns die reine Reflexion anstelle der Handlung etwas anderes zeigen wird. Ein anderes Problem ergibt sich aus der hier erfolgten Abwertung der Reflexion, die Sartre ja zum gescheiterten Versuch einer An-sich-Werdung erklärt hat. Wenn dieser Versuch sinnlos ist, ist es nicht richtig, auf Reflexion möglichst zu verzichten und - wenn wir an Sartres Beispiel denken - ohne Nachdenken in aller Freiheit sofort zuzuschlagen? Dieser Verzicht hätte noch den zusätzlichen Vorteil, dass er uns von der Angst befreien würde, da diese ja erst auf der reflexiven Ebene erscheint. Wenn es nur unreine Reflexion gäbe, würde das die Selbstauflösung von Sartres Philosophie bedeuten, deren Grundlage die reflexive Analyse des Bewußtseins ist. Reflexion hätte ihren Wert als Methode, die evidente Wahrheiten auswirft, eingebüßt, da die unreine Reflexion ja zur Annahme von Scheinwirklichkeiten verführt. Und wenn jede Reflexion unrein ist - wie könnte man zu dieser Erkenntnis gelangen, als nur durch unreine Reflexion? - Wir können daraus schliessen, dass Sartre reine Reflexion für möglich hält und ausserdem davon überzeugt ist, dass er sie praktiziert. Und in der Tat konstatiert er, dass sie durch eine "Katharsis" erreichbar ist. - Sartre hat hier offenbar etwas ähnliches wie die Husserlsche Epoché (das Wort bedeutet ungefähr "Enthaltung") im Auge: Husserl war der Ansicht, dass er durch "Einklammerung" all der Urteile, die wir in der "natürlichen Einstellung" für gewiss halten, in die Lage versetzt wird, z. B. die Wesensmerkmale des Bewußtseins rein zu erfassen. - Die "Einklammerung" ersetzt den Cartesianischen Zweifel, weil Husserl davon überzeugt war, dass wir zu einem radikalen Zweifel an Sachverhalten, von denen wir fest überzeugt sind, gar nicht fähig sind und uns demnach auf ein bewußtes Absehen davon beschränken müssen. Wodurch unterscheidet sich die reine von der unreinen Reflexion? Sartre konstatiert, dass Reflexion in der Reinform darin besteht, dass sich das eine System Spiegelung / Spiegelndes in zwei Systeme aufspaltet, die durch "ein Nichts" (eine Nulldistanz) getrennt sind, ähnlich wie im präreflexiven System Spiegelung und Spiegelndes getrennt sind (Bewußtsein und Bewußtsein von Bewußtsein). Wir haben gesehen, dass diese Spaltung auf halbem Wege steckenbleibt: Das reflektierte Bewußtsein kann kein wirkliches Erkenntnisobjekt (das an-sich existieren würde) sein, es ist für das reflektierende Bewußtsein nur ein Quasi-Objekt. - Unrein wird die Reflexion dann, wenn das Quasi-Objekt zum Schattenobjekt befördert wird, was durch seine Interpretation als An-sich geschieht. Der grundlegende Bezug des Bewußtseins zu den an-sich-existierenden Dingen ist, wie erwähnt, die Nicht-Identität, so dass die unreine Reflexion darauf hinausläuft, die Nicht-Identität des reflektierenden Bewußtseins mit dem Reflektierten zu behaupten. - Wir haben das am Beispiels "Hass" verfolgen können: Wer unrein auf seine momentane Abneigung reflektiert, interpretiert sie als von Hass verursacht. Der Hass ist etwas Äußeres, von dem die momentane Abneigung ganz abhängt, die damit ebenfalls einen äußerlichen Charakter gewinnt: Ich bin nicht für sie verantwortlich - ich bin nicht damit identisch. Doch parallel dazu akzeptiere ich natürlich, dass ich mit dem Hass / der Abneigung identisch bin, schließlich will ich ja meine Nichtverantwortlichkeit für mich selbst herausstellen und vielleicht noch meine Souveränität als freies Individuum betonen, indem ich zu mir selbst einen Standpunkt einnehme. Während die unreine Reflexion das Für-sich als An-sich interpretiert (Sartre definiert sie als "die Intuition des Für-sich als An-sich"), erkennt die reine Reflexion, dass das Reflektierte Für-sich ist, was das Verschwinden der Schattenobjekte zur Folge hat. Wir können annehmen, dass Sartre damit den Zustand zu beschreiben glaubt, in dem er sich selbst während des Philosophierens befindet. Ein Vorteil der reinen Reflexion besteht also darin, Bewußtseinsphilosophie auf evidenter Grundlage zu ermöglichen. Doch es gibt noch einen zweiten Vorteil: Sie ist nämlich unser Ausweg aus dem Schlechten Glauben. - Sartre hatte in einer Fußnote am Ende dieses Themas angedeutet, dass es einen solchen Ausweg gibt, der in einer "Übernahme des verdorbenen Seins durch sich selbst" bestehe. - Wir können jetzt verstehen, was er damit meint: Das "verdorbene Sein" ist das Sein-für-sich im Schlechten Glauben, das sich seine Freiheit zu verheimlichen sucht, indem es sich zu An-sich macht. Die Übernahme dieses Seins durch sich selbst geschieht in der reinen Reflexion, die zu dem Eingeständnis führt, dass es im Bewußtsein nur nicht mit sich identisches Für-sich gibt. - Das Bewußtsein akzeptiert sich also als das, was es ist. Aber hatte Sartre nicht erklärt, dass Ehrlichkeit sich selbst gegenüber lediglich eine weitere Variante des Schlechten Glaubens ist? Wie unterscheidet sich denn der Zustand, den man mit der reinen Reflexion erreicht, von Ehrlichkeit gegenüber sich selbst? - Nun, Ehrlichkeit gegenüber sich selbst heisst für Sartre, anerkennen, dass man ist, was man ist. Genau das tut man nach der reinen Reflexion zwar auch, das "sein, was man ist" hat aber hier nicht dieselbe Bedeutung: Im Falle des Ehrlichkeitsideal besagt es, das man an-sich ist, was man ist, im Sinne eines mit sich selbst identischen Dings. Im Falle der reinen Reflexion besagt es aber, das man als nicht mit sich selbst identisches Für-sich ist, was man ist. - Der merkwürdige Umstand, dass Nichtidentität mit sich selbst Identität mit sich selbst impliziert (siehe Abschnitt "Anwesenheit bei sich") kann beim Leser Sartres für Verwirrung sorgen. Wir hatten gesagt, dass der Sinn einer Abhandlung der Reflexion im Kontext des Themas Zeit darin besteht, zu klären, warum das Cogito in Bezug auf seine Vergangenheit unfehlbar ist, obwohl uns die Erinnerung täuschen kann. - Leider ist die Antwort Sartres nicht sehr ausführlich: Die reine Reflexion ist bezüglich der Vergangenheit evident, weil sie die Vergangenheit als das erfasst, von dem die Gegenwart "in nicht thematischer Form heimgesucht wird". - Als Beispiel kann vielleicht Descartes "Ich zweifle, also bin ich" dienen, auf das Sartre hier noch einmal zurückkommt. Wer reflexiv erfasst, dass er zweifelt, erfasst damit auch die Motivation dieses Zweifels (in der Vergangenheit), da ein Zweifel ohne Motivation keiner ist. (Ich kann mich nicht hinsetzen und beschliessen: "Ich bezweifle jetzt mal eben, dass ich ... heisse". Der Zweifel ist nicht meinem Willen unterworfen, sondern stellt sich unwillkürlich ein, wenn ein Motiv dafür erscheint.) - Und dieses Miterfassen des Motivs ist keine Erinnerung an das Motiv: Das Motiv ist im Zweifel unmittelbar gegeben. Denselben Gültigkeitsanspruch der reinen Reflexion erhebt Sartre für die Zukunft. Wer jetzt vermutet, dass Sartre auf eine natürliche Fähigkeit zur Weissagung anspielt, liegt falsch: Die "Zukunft" des Bewußtseins ist nicht das, was letztlich mit ihm passieren wird, sondern meint nur seine Möglichkeiten zur Realisierung des "Werts". - Der Begriff einer fixen Zukunft macht für Sartre keinen Sinn, da er einen lückenlosen Determinismus voraussetzt. - Und insofern ein Bewußtseinszustand einen Zweck impliziert, bezieht er seine Zukunft mit ein: "Was bliebe aber vom methodischen Zweifel, wenn man ihn auf den Augenblick beschränken könnte? Ein Aussetzen des Urteils vielleicht. Aber ein Aussetzen des Urteils ist kein Zweifel, es ist lediglich eine notwendige Struktur davon. Zum Zweifel gehört, daß dieses Aussetzen durch das Ungenügen der Gründe für eine Affirmation oder Negation motiviert ist - was auf die Vergangenheit verweist - und daß es absichtlich bis zum Auftreten neuer Elemente aufrechterhalten wird, was schon Entwurf der Zukunft ist." Der sog. "ontologische Beweis", den Sartre ganz zu Beginn seines Werkes präsentierte, besagte, wie wir gesehen haben, dass mit dem Bewußtsein auch das bewußtseinsunabhängige Sein gegeben sein muss, das daher (und aus anderen Gründen) kein Produkt oder Teil des Bewußtseins sein kann. Bewußtsein ist Intentionalität, das heisst, immer auf etwas gerichtet, was selbst nicht Bewußtsein ist. - Nachdem Sartre seine Ontologie des An-sich und des Für-sich entwickelt hat, kann er die Beziehung des Bewußtseins zu dem, was nicht Bewußtsein ist, präzisieren und in ihren unterschiedlichen Aspekten beschreiben. Das geschieht in den Passagen über "Transzendenz", wobei der Begriff hier das Überschreiten des Bewußtseins nach "ausserhalb" meint. Sartre ist der Überzeugung, dass er mit seiner Auffassung eine Lösung des Problems der Beziehung von Subjekt und Aussenwelt liefert, die weder Realismus noch Idealismus ist. Den Realismus - also die Theorie, dass das Bewußtsein von Dingen dadurch entsteht, dass die Dinge auf das Bewußtsein einwirken - hält Sartre für unhaltbar, da das Bewußtsein akausal ist. Den Idealismus lehnt er gleichfalls ab: Die Erzeugung transzendenter Objekte durch das Bewußtsein ist unmöglich, da vom Bewußtsein Erzeugtes nicht aus diesem heraustreten kann, sondern selbst Bewußtsein ist. - Wir erinnern uns: Das am Ende der "Einleitung" herausgestellte Ziel von "Das Sein und das Nichts" ist die Erklärung, wie es trotzdem einen Bezug zwischen beiden Seinsbereichen geben kann. Es ist ziemlich einleuchtend, dass das System Spiegelung/Spiegelndes in sich zusammenfällt, wenn es nicht ein ursprüngliches Etwas gibt, das gespiegelt wird, und das nicht das Bewußtsein selbst ist. Bewußtsein ist Bewußtsein von sich als Bewußtsein von etwas. Gibt es dieses Etwas nicht, so ist das präreflexive Bewußtsein unmöglich (und damit natürlich auch die Reflexion auf dieses Bewußtsein). - Aus diesem Grunde kann Sartre sagen, dass sich das Für-sich auf der Grundlage seiner Beziehung zum Sein-an-sich hervorbringt. Das Für-sich ist ja nicht nur Negation des An-sich, aus dem es entstand, sondern erzeugt sich durch permanente Negation dessen, was es nicht ist, immer wieder neu. - Diese Beziehung zeichnet sich allerdings durch eine gewisse Einseitigkeit aus: Während das Sein-an-sich auch ohne das Sein-für-sich existieren kann, ist das Sein-für-sich ohne Sein-an-sich nicht denkbar. Sartre zieht daraus die Schlussfolgerung, dass die Husserlsche Beschreibung der unmittelbaren Erkenntnis (der Intuition) als "leibhaftige Anwesenheit der Sache beim Bewußtsein" umgedreht werden muss: Nicht die Sache ist beim Bewußtsein anwesend, sondern das Bewußtsein bei der Sache. - Sodann charakterisiert er die "Anwesenheit bei der Sache" als interne Negation. - Was ist eine interne Negation, und gibt es daneben eine externe? Eine interne Negation bestimmt das Wesen eines der beiden Elemente, die von der "ist nicht"-Relation verbunden werden, während eine externe Negation die Wesen unberührt läßt. - Sartre gibt folgendes Beispiel: Ein Vogel ist kein Tintenfass. Weder Vogel noch Tintenfass sind von der Negations-Relation in ihrem Wesen betroffen, die Negation ist extern, die Relation wird von einem Zeugen hergestellt. - Die Feststellung, dass ein Junggeselle kein Ehemann ist, läuft dagegen (wenn wir die Bestimmung des Wesens als logische Bestimmung interpretieren) auf eine interne Negation hinaus, da es zum Wesen eines Junggesellen gehört, kein Ehemann zu sein. Die negative Beziehung muss nicht erst von einem Zeugen gesetzt werden, sondern ist mit dem Junggesellen automatisch gegeben. Doch wenn diese Interpretation der Unterscheidung richtig ist, wirft sie Probleme auf: Denken wir an Spinozas "Omnis determinatio est negatio". Unsere Begriffe könnten ein geschlossenes System bilden, dessen Elemente durch wechselseitige Negationen miteinander verbunden sind: "ist ein Vogel" impliziert z. B. "ist kein unbelebter Gegenstand" usw. - in diesem Falle gehört es zum Wesen des Vogels, kein Tintenfass zu sein. - Ein anderes Problem ist die Notwendigkeit eines Zeugen: Wie müssen wir sie verstehen? Die Aussage, dass ein Vogel kein Tintenfass ist, beansprucht objektive Wahrheit: Meint das nicht Wahrheit, die unabhängig von einem Beobachter ist? - Nun sind für Sartre alle negativen Sachverhalte, die das An-sich betreffen, vom Bewußtsein abhängig und ihre Objektivität ergibt sich nicht aus ihrem bewußtseinsunabhängigen Bestehen, sondern aus der Objektivität des Nichts im Bewußtsein. - Ich glaube, wir müssen Sartre anders interpretieren. Die interne Negation "bestimmt das Wesen" eines ihrer Glieder, aber nicht logisch, sondern in dem Sinn, dass sie das Wesen verändert. Das Beispiel Junggeselle war also nicht korrekt. - Sartre gibt ein anderes Beispiel für eine interne Negation, das vor Augen führt, dass die Unterscheidung nur auf der Basis von Sartres Ontologie Sinn macht: Wenn ein Mensch sagt, dass er nicht rothaarig ist, ist die Negation extern. Wenn er aber sagt, dass er nicht schön ist, handelt es sich um eine interne Negation. - Woraus ergibt sich der Unterschied (denn die beiden Aussagen sehen ganz ähnlich aus)? - Ich nehme an, dass sich Sartre folgendes gedacht hat: Das Wesen des Bewußtseins ist individuell, es ergibt sich aus seiner Spontaneität, solange das Bewußtsein existiert, und ist erst mit dem Tod abgeschlossen. Nun ist das Nicht-rothaarig-sein zumindest unter Franzosen der Normalfall. Das Nicht-rothaarig-sein beeinflusst die Möglichkeiten eines Franzosen nicht und hat dadurch mittelbar keinen Einfluss auf das Bewußtsein. Doch wer nicht schön ist (und davon weiss, deshalb unterstellt das Beispiel, dass der Mensch den Satz äußert) spürt eine deutliche Beeinträchtigung. Das Nicht-Schön-sein ist ein wichtiger Teil der Situation des nicht-schönen Menschen, der seine Möglichkeiten merklich bestimmt. Das Nicht-schön-sein ist (um vorzugreifen) ein Aspekt seines Seins-für-Andere, seines Bildes, wie es ihm von den Anderen zurückgeworfen wird und mit dem er sich gezwungenermassen auseinandersetzen muss, das er akzeptieren oder ablehnen kann. Obwohl der Mensch gegenüber seinem Nicht-schön-sein frei ist, es kompensieren oder bewußt ignorieren kann, ist sein Bewußtsein in bestimmten Hinsichten mit Sicherheit nicht dasselbe wie das eines (normal) schönen Menschen. (Wie sich den Kriegstagebüchern entnehmen läßt, weiss Sartre, wovon er hier spricht.) Sartres wörtliche Definition der internen Negation lautet: "Unter interner Negation verstehen wir eine solche Beziehung zwischen zwei Seinsweisen [sollte besser mit "Seienden" übersetzt werden], bei der das, was von der anderen verneint wird, die andere durch eben ihre Abwesenheit innerhalb ihres Wesens qualifiziert. Die Negation wird dann eine wesenhafte Seinsverbindung, [...]." Das Bewußtsein bestimmt sich im Sinne einer internen Negation allein dadurch, die Sache nicht zu sein - das kann zu einem Mißverständnis führen. Ein Verfahren der Meditation besteht z. B. darin, sich völlig auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren. Wenn das präreflexive Bewußtsein es schafft, in dieser Wahrnehmung aufzugehen, entsteht im Nachhinein auf der reflexiven Ebene die Versuchung, das Erlebnis als mystischen Erleuchtungszustand zu interpretieren: Scheinbar gab es nur noch den Gegenstand. Da man aber in dieser Zeit nicht bewußtlos war, erklärt man sich den Zustand durch eine Verschmelzung von Subjekt und Objekt, Bewußtsein und Welt (die das Ziel mystischer Religiösität darstellt). Einige Aspekte der Transzendenz Kant vertrat die Theorie, dass die räumlich-zeitliche Welt durch eine Tätigkeit des Subjektes aus einem unstrukturierten Stoff entsteht. Dieser Stoff war bei Kant der Strom der Sinnesdaten (der wiederum in unklarer Weise von einem Etwas ausserhalb des Subjektes bestimmt oder verursacht wurde, vom Ding-an-sich). - Dieser Strom wird durch Formen (Raum und Zeit) und durch (ebenfalls als Form fungierende) Kategorien (wie z. B. Negation, Ursache / Wirkung, Qualität, Quantität) zu der Welt gemacht, die wir wahrnehmen. - Woraus erstens folgt, dass sich Erkenntnisse, die nur auf diese Formen bezogen sind, wie z. B. der Satz, dass jede Veränderung eine Ursache hat, ohne Betrachtung der Welt aus dem Subjekt schöpfen lassen und zweitens, dass den Formen keine echte Realität zukommt. Wie wir gesehen haben, ist Sartres Auffassung der von Kant bemerkenswert ähnlich, mit einigen wichtigen Unterschieden: Der unstrukturierte Stoff ist bei Sartre das Sein-an-sich (der Zwischenschritt über die Sinnesdaten entfällt). Die Formen Kants werden bei Sartre gänzlich auf den Kernbegriff Negation bezogen und diese wiederum von der in sich widersprüchlichen ontologischen Struktur des Bewußtseins abgeleitet. - Ausserdem unterstellt Sartre den Formen Objektivität (im Sinne von Wirklichkeit): Negative Weltsachverhalte sind real, aber nur dadurch, dass die ontologische Struktur des Für-sich, von der sie abhängen, real ist. - Im Kapitel über Transzendenz versucht Sartre unter anderem, einige der Kantischen Formen/Kategorien in sein System einzubeziehen und das heisst, sie auf Negativität zurückzuführen, so zunächst den Raum: Das Für-sich definiert sich zwar dadurch, dass es alles An-sich-Sein (die ganze Welt) nicht ist, de-facto bezieht sich Wahrnehmung aber immer auf etwas Bestimmtes (ein "Dieses"). Das ergibt sich aus dem Zerfallen des Für-sich in Einzeldinge: Von diesen bildet immer nur eines den Vordergrund (das "Dieses") und alles andere verschwindet in einem undifferenzierten Hintergrund. - Sartre identifiziert das Zerfallen in Einzeldinge mit dem Raum. (Wie bei der Zeit handelt es sich hier nicht um den Begriff der Physiker, sondern um den gewöhnlichen.) - Der Raum ist bekanntlich (prinzipiell) unendlich teilbar, weswegen ihn Sarte als "die Instabilität der als Totalität erfassten Welt" definiert, "insofern sie sich stets in externe Vielheit auflösen kann". - Extern ist die Vielheit, da sich das Wesen der räumlich zerfallenen An-sich-Fragmente nicht durch die negativen Relationen bestimmt, die zwischen ihnen bestehen, diese Relationen also extern sind. - (Dass der Stuhl zwei Meter vom Bett entfernt steht, definiert weder Bett noch Stuhl.) Zur Qualität (eine oder die Beschaffenheit eines Dings), einer der Kantischen Kategorien, sagt Sartre, dass sie in der Wahrnehmung eines "Dieses" nicht getrennt wahrgenommen wird. Das "Dieses" ist undifferenzierte Einheit seiner Qualitäten. - Wie hat man das zu verstehen? Wenn das "Dieses" meiner Wahrnehmung z. B. eine Zitrone ist, setzt sich diese Wahrnehmung nicht aus der Wahrnehmung der Form der Zitrone (einer Qualität) und ihrer gelben Farbe (einer anderen Qualität) zusammen, sondern ist einfach die Wahrnehmung einer Zitrone. Natürlich kann ich mich auf das Gelb der Zitrone konzentrieren, aber in diesem Falle wird die Zitrone Hintergrund, während die Qualität "Gelb" in den Vordergrund rückt. Ich unterteile das "Dieses" also durch eine neue Negation und befördere so das Gelb der Zitrone zum neuen "Dieses". Ich muss der Ehrlichkeit halber anführen, dass Sarte auch das Saure der Zitrone zu den Qualitäten rechnet, die in der Zitrone als undifferenzierter Einheit aufgehen. Entweder schwebte Sartre die Wahrnehmung der Zitrone z. B. durch Hineinbeissen vor, oder man liegt richtiger, wenn man hier nicht von Wahrnehmung, sondern von "Erfassung" einer Zitrone spricht. In diesem Falle sind mir auch die Qualitäten der Zitrone, die nicht Gegenstand meiner momentanen Wahrnehmung sind, präsent, insofern ich die Zitrone als Objekt wahrnehme, dessen Wesen (die Regel seiner Abschattungen) mit seinen verborgenen Qualitäten mir bekannt ist. Die Quantität (schwerer zu definieren als die Qualität, meint so etwas wie die numerische Bestimmbarkeit) integriert Sartre in seine Philosophie, indem er sie mit dem Raum gleichsetzt (insofern die Teilbarkeit des Raumes auch eine numerische Teilbarkeit ist). - Über die Möglichkeit (gleichfalls in Kants Kategorientafel enthalten) hat Sartre ja bereits viel gesagt: Das Subjekt ist das, was eigentlich Möglichkeiten hat und davon ausgehend den Dingen Möglichkeiten (Potentialitäten) verleiht. - Insofern ich etwas als Objekt mit einem Wesen wahrnehme (d. h. als etwas, dessen Abschattungen einer bestimmten Regel folgen), erwarte ich von ihm Permanenz seiner Eigenschaften. Permanenz ist also ein zukunftsbezogener Begriff und muss daher ebenfalls als Potentialität des Objektes gewertet werden. - Wer einen Würfel sieht, erwartet, seine restlichen Seiten zu sehen, wenn er um ihn herumgeht, was impliziert, dass sich die Rückseite des Würfels nicht plötzlich verwandeln haben wird. Wenn das Bewußtsein ein Ding wahrnimmt, geschieht das nicht kontemplativ, d. h. als reine, zweckfreie Wahrnehmung. Eine solche ist für Sartre gar nicht denkbar. - Das Bewußtsein erfasst die Dinge auf der präreflexiven Ebene vielmehr unmittelbar als Forderungen (z. B. das Gesicht als "Fresse zum Reinschlagen") und ebenso unmittelbar als mögliche Mittel zum Zweck, als Utensilien. - Ein Utensil verweist auf einen Zweck, der wiederum ein anderes Utensil ist usw, wobei auch Menschen in diese Utensilitätsordnung eingebunden sind. - Der Sinn des Ganzen, die Verwirklichung des "Wertes", kann lediglich auf der reflexiven Ebene erfasst werden. - Dieser Aspekt der Transzendenz wird in Sartres Theorie der menschlichen Freiheit eine wichtige Rolle spielen. Im Kontext der Transzendenz wird von Sartre auch die Schönheit abgehandelt. Leider muss ich sagen, dass mein Verständnis seiner Theorie ungenügend ist. - Ich versuche trotzdem eine Skizze: Für Aristoteles ist das Schöne eine in sich geschlossene Einheit, an der kein Teil verändert werden kann, ohne dass sich das Ganze verändert (entnommen aus Kutscheras "Ästhetik"). - Sartre schließt sich (jedenfalls meiner Interpretation nach) dieser Definition an, indem er das schöne Ding als etwas beschreibt, das sein Wesen in "vollkommener Reinheit" zeigt. - Inwiefern passt beides unter einen Hut? Ich denke, ungefähr so: Normalerweise müssen Veränderungen von Dingen nicht ihr Wesen betreffen: Der Würfel kann seine Farbe ändern, und bleibt trotzdem Würfel, vorausgesetzt, dass ich den Würfel lediglich als Würfel, und nicht z. B. als "roten Würfel" erfasse. Und auch, wenn ich ihn als "roten Würfel" erfasse, wird es optische Details geben, die sich ändern können, ohne dass der Würfel seinen Charakter als "roten Würfel" dadurch einbüßt. - Aber nehmen wir an, ich sehe einen Würfel als schönen Würfel. In diesem Falle sehe ich eine Einheit aller optischen Merkmale des Würfels, und jedes dieser Merkmale hat seinen Platz und kann nicht verändert werden, ohne den Eindruck der Schönheit zu verändern (in diesem Falle entstünde ein anderer schöner Würfel mit einem anderen Wesen) oder zu zerstören. Bis hierhin gut - doch jetzt wird es haarig: Das Bewußtsein zeichnet sich dadurch aus, dass es, solange es existiert, kein Wesen hat (seine Existenz geht seiner Essenz voraus). Indem das Bewußtsein sich als Mangel erfasst und danach strebt, den "Wert" zu verwirklichen - also die Einheit aus An-sich und Für-sich -, versucht es gleichzeitig, sich ein Wesen zu verleihen. Diesem Mangel eines Wesens auf der Seite des Subjektes korrespondiert ein Wesensmangel auf der Seite des Objekts. Das Konkrete, das wir wahrnehmen ist zusammengesetzt: Wir sehen kein reines Grün, sondern grüne Gegenstände, in deren "Dieses" das Grün nur eine Qualität ist. Doch die Abstraktion des Grün verweist auf einen Zustand, in dem ich ausschließlich Grün wahrnehme. Das in diesem Zustand wahrgenommene Grüne wäre seinem Wesen vollkommen gemäß. (Oder: Der Gegenstand, den ich sehe, ist ein Würfel, aber er ist noch mehr, z. B. gefärbt. Doch sein Würfel-sein verweist auf einen wahrgenommenen idealen Würfel, der nur Würfel ist und nichts sonst.) Die Wahrnehmung von Dingen verweist also auf eine ideale Wahrnehmung als Möglichkeit. Diese ideale Wahrnehmung wird von Sartre aus einem von mir nicht verstandenen Grund mit dem "Wert" in Beziehung gesetzt: Das Ideal einer Wesenskonformität der Dinge ist die Art, in der auf der präreflexiven Ebene der "Wert" erscheint. Das Erfassen des Mangels an Wesenskonformität bei den Dingen ist in Wahrheit das Erfassen meiner eigenen ontologischen Mangelstruktur. - Insofern schöne Dinge den Eindruck von Wesenkonformität erwecken (siehe oben), sind sie mein eigenes Seinsideal (der "Wert"), aber als Gegenstand realisiert (in der Transzendenz). Aus diesem Grunde strebt der Mensch nach Schönheit. Doch die Schönheit läßt sich - so Sartre - nur imaginär verwirklichen. (Ich nehme an, dass Sartre hier nicht an abstrakte Kunst denkt, sondern an Statuen, realistische Gemälde usw. - Aber vielleicht meint er auch, dass der Eindruck der Vollkommenheit, die das gelungene Kunstwerk erweckt, in jedem Fall eine Illusion ist.) - Wäre die Welt wirklich schön, d. h. wären Wesen und Existenz der Dinge identisch, würde das die Verschmelzung des Für-sich mit sich selbst, also die Realisierung des "Wertes" bedeuten - was ich gleichfalls nicht verstehe: "Die Schönheit stellt somit einen idealen Zustand der Welt dar, als Korrelat einer idealen Realisierung des Für-sich, wo sich das Wesen und die Existenz der Dinge einem Sein als Identität enthüllen würden, das, in eben dieser Enthüllung, mit ihm selbst in der absoluten Einheit des An-sich verschmelzen würde." Die allgemeine Zeit ("Weltzeit") ist die Zeit der Dinge, sie entsteht dadurch, dass das Sein-für-sich die eigentliche Zeit, die zu seiner ontologischen Struktur gehört, in den Dingen wiederfindet. (Insofern das Sein-für-sich eine Vergangenheit hat, ist es übrigens selbst in die allgemeine Zeit integriert.) - Da die allgemeine Zeit auf die Seite der Objekte gehört, wird sie von Sartre im Kapitel über Transzendenz abgehandelt. Wir hatten erwähnt, dass Sartre mit seiner Zeittheorie ein Problem lösen wollte, das man als Problem der Nicht-Existenz der Zeit bezeichnen kann: Die Gegenwart ist lediglich der ausdehnungslose Punkt zwischen der nicht mehr existierenden Vergangenheit und der noch nicht existierenden Zukunft. Wie kommt es dazu? Die hier gegebene Antwort ist eine andere als die im Kapitel über "Gegenwart". - Sartres Erklärung verweist hier auf die Nicht-Zeitlichkeit des Seins-an-sich. Die Zeit wird zwar vom Für-sich darauf projiziert, bleibt ihm aber äußerlich. Das führt zu dem Eindruck der totalen Flüchtigkeit des Augenblicks gegenüber der Permanenz der Dinge. Das Paradox entsteht also, weil sich An-sich und Für-sich überlagern. - Die Argumentation leidet darunter, dass die Permanenz der Dinge gleichfalls zeitlich ist (wie Sartre selbst dargelegt hat). Sie kann also keine Angelegenheit des An-sich sein, sondern basiert gleichfalls auf Zeitlichkeit des Bewußtseins und kann die Flüchtigkeit des Augenblicks nicht erklären. Sartre beschäftigt sich dann mit der Tatsache, dass Dinge manchmal verschwinden oder auftauchen, was sich aus der Aufgliederung des Seins-an-sich in Dinge nicht ableiten läßt. Sartre deutet an, dass es sich dabei um ein kontingentes Faktum handelt, dass vermutlich vom An-sich selbst kommt. - Die Bemerkung erstaunt, wenn man daran denkt, dass das Sein-an-sich ohne Negativität ist. Entstehen und Vergehen involvieren aber zweifellos Negativität, wie soll ihr Grund also in einem rein positiven Sein liegen? Wenn sich die Dinge nicht bewegen würden, wäre das Bewußtsein nicht fähig, die (allgemeine) Gegenwart zu erfassen - so Sartre. Wie muss man ihn hier verstehen? Nur wenn wir etwas Bewegtes wahrnehmen, kommt uns die Gegenwart als unendlich kleiner Augenblick zu Bewußtsein, weil sie dem unendlich kleinen Moment entspricht, in dem der bewegte Gegenstand einen bestimmten Ort passiert. - In diesem Zusammenhang spricht Sartre die Paradoxe Zenons an: Zenon war ein Schüler des Parmenides, der - wie erwähnt - Negativität und damit Bewegung und Veränderung für illusorisch hielt. Zenon bemühte sich, Parmenides’ Theorie zu beweisen, indem er an Beispielen zeigte, dass die Annahme einer Realität der Bewegung zu Widersprüchen führt. Das bekannteste Paradox ist das von Achilles und der Schildkröte, brauchbarer für die Diskussion hier ist aber das Paradox des fliegenden Pfeils. Ein abgeschossener Pfeil, der ja einer bestimmten Flugbahn folgt, befindet sich - so Zenon - zu jedem Zeitpunkt seines Fluges an einem bestimmten Raumpunkt der Bahn. Was sich aber an einer bestimmten Stelle befindet, bewegt sich nicht. Wenn der Pfeil sich aber während keines Augenblickes seines Fluges in Bewegung befindet, heisst das, dass sich der fliegende Pfeil überhaupt nicht bewegt - was paradox ist. - Reale Bewegung ist also undenkbar, und der Flug des Pfeils ist Illusion. Sartre identifiziert die Annahme Zenons, dass sich der Pfeil immer an einem bestimmten Ort befindet, mit der Annahme, dass der Pfeil während der Bewegung mit sich selbst identisch bleibt. Wie nicht anders zu erwarten, lehnt er diese Annahme ab: Die Bewegung ist nur so erklärbar, dass der Pfeil sich währenddessen im Zustande der Nicht-Identität mit sich selbst befinden muss. Der Pfeil ist an dem einen Punkt seiner Bahn und gleichzeitig bereits an dem nächsten Punkt - er ist weder an dem einen noch an dem anderen Punkt und doch an beiden. Der fliegende Pfeil hat sich also gegenüber dem unbewegten Pfeil (vor seinem Abschuss) verändert, da der unbewegte Pfeil noch mit sich identisch war! - Sartre erwähnt übrigens die Auffassung Einsteins, dass Bewegung relativ sei, ohne darauf hinzuweisen, dass seine Interpretation der Bewegung als Veränderung des Bewegten damit nicht verträglich ist: Denn wenn nicht zu entscheiden ist, ob sich der Pfeil oder sein Hintergrund bewegt, ist auch nicht entscheidbar, ob sich der Pfeil oder sein Hintergrund verändert haben. Es scheint mir, dass Sartre das Paradox auflöst, indem er eine ebenso widersprüchliche Annahme an seine Stelle setzt (Nicht-Identität mit sich selbst ist kaum weniger paradox als die Unbewegtheit des bewegten Pfeils). - Der naheliegende Gedanke, dass der Zustand der Bewegung, weil er dem Zustand des Für-sich gleicht, vielleicht ebenfalls ein verunglückter Versuch des An-sich ist, findet sich hier übrigens nicht. - Sartre wird ihn jedoch an späterer Stelle nachtragen. Wir haben die Ekstasen des Für-sich der Sache nach bereits kennengelernt, aber den Sartreschen Begriff bis jetzt nicht eingeführt. - Der griechische Ausdruck Ekstase bedeutet ungefähr "ausser-sich-sein" und wird in diesem Sinne als Alltagsfremdwort benutzt. - Für Sartre besteht sein Zweck darin, die Aspekte der Nicht-Identität des Bewußtseins mit sich zu bezeichnen. - Warum? Wenn ein Etwas nicht mit sich identisch ist, involviert das eine Zweiheit - das Etwas ist es selbst und ist gleichzeitig etwas anderes. Wir haben gesehen, dass es ausserdem Einheit involviert - da es sich ja um dasselbe Etwas handelt. Das andere, mit dem das Etwas nicht identisch ist (und identisch ist) ist also es selbst, aber in einer (wenigstens logischen) Entfernung von sich selbst. - Der Ausdruck Ekstase, "ausser-sich-sein" drückt genau das aus. Wer im Alltag "ich war ausser mir" sagt, meint damit übrigens keine echte Nicht-Identität mit sich selbst, sondern verwendet das Bild lediglich, um z. B. folgendes auszudrücken: Mein Verhalten war so untypisch für mich, als wäre ich ein Anderer gewesen. - Eine Ekstase des Für-sich ist aber ein Aspekt, unter dem es tatsächlich nicht mit sich identisch ist und daher "aus sich heraustritt". - Wegen seiner ekstatischen Struktur nennt Sartre das Bewußtsein auch diasporisch, in Anspielung auf die jüdische Geschichte: Das Judentum existierte spätestens nach dem Scheitern der Aufstände gegen Rom nur noch verstreut an vielen Orten (Diaspora=Verstreutheit) und bildete dennoch eine Einheit. - Die Ausserhalb-seiner-selbst-Existenz des Bewußtseins schafft übrigens die Voraussetzungen dafür, dass das Cogito bzw. die reine Reflexion evidente Erkenntnisse über Tatsachen liefern kann, die nicht das Bewußtsein im engeren Sinne betreffen. - Sartre charakterisiert das Für-sich in seiner ekstatischen Natur: "Im Auftauchen des Für-sich als Anwesenheit beim Sein gibt es eine ursprüngliche Zersplitterung: das Für-sich verliert sich draußen, beim An-sich und in den drei zeitlichen Ek-stasen. Es ist außerhalb seiner selbst, und in seinem Innersten ist dieses Für-sich-sein ek-statisch, da es sein Sein woanders suchen muß, im Spiegelnden, wenn es sich zur Spiegelung macht, in der Spiegelung, wenn es sich als Spiegelndes setzt." Das Für-sich ist ekstatisch als System Spiegelung / Spiegelndes, doch auch, wenn es sich in der Reflexion dadurch von sich selbst entfernt, dass es sich zum Quasi-Objekt macht. Das Für-sich ist in anderer Hinsicht ekstatisch, insofern es seine Vergangenheit und seine Zukunft ist. Es ist weiterhin ekstatisch, insofern es seine Gegenwart ist - und die ist es als Anwesenheit beim Sein-an-sich, d. h. durch sein Erfassen der transzendenten Welt als das, was nicht das Bewußtsein ist. Diese Ekstase scheint von dem Schema der übrigen Ekstasen abzuweichen, da die transzendenten Objekte in keiner Weise mit dem Für-sich identisch sind, sondern das Für-sich nur sozusagen negativ definieren. Aber insofern ich bei den Objekten anwesend bin, bin ich in einem anderen Sinn "ausserhalb meiner selbst". - Als letzte Ekstase des Für-sich wird uns jetzt das Sein-für-Andere vorgestellt werden. Mit dem "ontologischen Beweis" hatte Sartre sichergestellt, dass es nicht nur Bewußtsein, sondern darüber hinaus etwas Bewußtseinsunabhängiges gibt. In der Ontologie des Für-sich ergänzte er diesen Befund durch die Feststellung, dass das Bewußtsein ohne ein An-sich, von dem es sich als Negation abhebt, gar nicht denkbar ist. Die reine Reflexion erlaubt es uns also, aus dem Bewußtsein herauszukommen, nämlich zu den Dingen. - Nun sind wir uns aber nicht nur bewußt, dass es eine Welt aus Dingen gibt, sondern ausserdem davon überzeugt, dass es andere Menschen gibt mit Bewußtseinen, die unserem ähnlich sind. - Aus dem "ontologischen Beweis" und der nachfolgenden Argumentation kann das nicht abgeleitet werden. Sartre muss also eine weitere Untersuchung durchführen, deren Ziel darin besteht, aus dem Cogito (durch reine Reflexion) auch die Existenz anderer Bewußtseine sicherzustellen. Sartre beschäftigt sich zunächst mit konkurrierenden philosophischen Standpunkten, und befragt sie zu dem Problem. Er kommt zu dem Resultat, dass es - falls es nicht gänzlich ignoriert wird - von diesen Auffassungen nicht gelöst werden kann. - Die erste Auffassung, die er bespricht, ist der Realismus. Ein Realist im hier gemeinten Sinne ist jemand, der annimmt, dass als Ursache der Intuitionen, die Grundlage der Erkenntnis sind, nur die real existierenden Dinge in Frage kommen: Sie wirken auf das Bewußtsein ein. - Wir wissen, dass Sartre so etwas für unmöglich hält, aber es geht jetzt lediglich um die Frage, ob eine realistische Auffassung, wenn sie wahr sein sollte, geeignet ist, die Existenz anderer Bewußtseine zu beweisen. Das Bewußtsein des Anderen ist mir nicht per Intuition zugänglich. Was mir zugänglich ist, ist sein Körper. Der Realist würde nun annehmen, dass der Körper eines anderen Menschen wie andere Dinge durch Einwirkung auf mein Bewußtsein zu einer Intuition dieses Körpers führt. Was aber führt uns von dieser Intuition zum Bewußtsein des Anderen? Dem Realisten bleibt nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass hier eine zusätzliche Hypothese nötig ist: Ich schließe daraus, dass den Bewegungen meines eigenen Körpers Bewußtseinsphänomene entsprechen, dass die Körper der anderen Menschen gleichfalls mit solchen verknüpft sind. - Diese Argumentation ist sehr naheliegend. Warum ist sie nicht überzeugend? Zunächst einmal ist klar, dass die Hypothese auf ewig Hypothese bleiben muss, da ihr Beweis ja nur in der unmöglichen Intuition eines fremden Bewußtseins bestehen könnte. Das veranlasst Sartre dazu, dem Realismus hier eine idealistische Verunreinigung zu unterstellen: Das Bewußtsein der Anderen existiert nur hypothetisch, also nur als Vorstellung im erkennenden Bewußtsein. Der wesentliche Punkt ist aber ein anderer: Ich schließe aus einem einzigen Fall auf sehr viele andere Fälle. - Es ist plausibel, aus zahlreichen Autopsien menschlicher Leichen zu schließen, dass die meisten Menschen ein Grosshirn haben. Aus einer einzigen Autopsie könnte ich das nicht schließen: Es könnte sich um eine zufällige Mißbildung handeln, die sich nur in diesem Körper und keiner anderen findet. Der Schluss, dass lebende menschliche Körper mit einem Bewußtsein versehen sind, ist - nicht nur Sartres Meinung nach - irrational, wenn seine einzige Erfahrungsgrundlage der Schließende selbst ist. Sartre wendet sich sodann dem idealistischen Standpunkt zu, genauer gesagt, dem transzendentalen Idealismus Kants (und des späten Husserl, der einer ähnlichen Doktrin anhing). Der Grundgedanke dieser Auffassung ist - wie wir gehört haben - dass der Geist einen, irgendwie von der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit verursachten, unstrukturierten Stoff von Sinnesdaten durch Anwendung seiner Formen zur raumzeitlichen, naturgesetzlich geordneten Welt werden lässt. Die Welt, wie wir sie kennen, hat ihre Existenz also lediglich im Bewußtsein, was ihr im Ding-an-sich (der eigentlichen Realität, nicht zu verwechseln mit dem Sein-an-sich bei Sartre!) entspricht, können wir nicht wissen. - Sartre stellt zunächst fest, dass Kant sich mit dem Problem der Existenz anderer Bewußtseine nicht beschäftigt hat, und führt dann Gründe dafür an, dass eine Lösung im Rahmen des Kantischen Ansatzes unmöglich ist. Das meiner Erfahrung zugängliche Verhalten eines anderen Menschen (z. B. seine Mimik) verweist auf sein Bewußtsein und dessen Wahrnehmungen und Erfahrungen. Im Sinne Kants verweisen aber alle Merkmale der von mir wahrgenommenen Welt nur auf mein eigenes Bewußtsein, durch dessen Formen sie geschaffen wurden. Der Geist eines Anderen als Konstrukteur seiner eigenen Welt kann in meine Welt nicht integriert werden. Wenn ich eine solche Integration z. B. dadurch versuche, dass ich die Mimik des Anderen als von dessen Bewußtsein (z. B. seiner Wut) verursacht interpretiere, stosse ich sofort auf das Problem, dass die Kausalität als Form meines eigenen Geistes lediglich Elemente meiner Erfahrung verknüpfen kann. Eine Verknüpfung von Elementen meiner Erfahrung mit den Elementen der Erfahrung eines Anderen ist unmöglich. (Für den Anderen ist die Sache leicht: Sowohl seine Wut als auch seine Mimik - wenn er sie z. B. im Spiegel wahrnimmt - gehören zu seiner Welt und können daher unter die Form der Kausalität gebracht werden, die sein Geist bereitstellt.) Diese Schwierigkeit des transzendentalen Idealismus (ich nehme an, dass es sich wirklich um eine handelt) hat Ähnlichkeit mit dem bekannten "Ding-an-sich"-Problem, das eine wichtige Rolle für das Aufkommen des nach-Kantischen Idealismus spielte: Das Ding-an-sich bewirkt meine Sinnesdaten und ist damit eine Ursache für die Welt, wie sie sich meinem Geist präsentiert. Das Ding-an-sich befindet sich aber seiner Definition nach ausserhalb jeder Erfahrung: Wie kann es also im System meiner Erfahrung als Wirkursache auftauchen? Ja, wie kann ich auch nur davon sprechen?- Die Idealisten nach Kant zogen die Konsequenz, auf das Ding-an-sich und damit auf eine eigentliche Wirklichkeit ausserhalb des Geistes zu verzichten. - War der Geist bei Kant noch der Geist eines einzelnen Menschen, verwandelte er sich jetzt in einen weltumfassenden Geist. Sartre diskutiert einen möglichen Ausweg für den transzendentalen Idealismus: Könnte der Begriff eines anderen Bewußtseins nicht ein regulativer Begriff sein? Ein regulativer Begriff im Sinne Kants ist z. B. der Begriff des Unendlichen: Dieser Begriff wird zwar wie die Formen / Kategorien vom Geist bereitgestellt, soll sich auf nichts Reales beziehen (und führt in Widersprüche, wenn man ihn so interpretiert), sondern dient der Organisation meiner Erfahrungen als sozusagen idealer Abschluss: Die Unendlichkeit ist der ideale Begriff einer Ganzheit, die uns niemals gegeben sein kann (es gibt nur die unbegrenzte Möglichkeit des Fortschreitens in der Erkenntnis). - Sartres wesentliches Argument gegen diesen Ausweg ist der Hinweis darauf, dass der Begriff des Anderen, wenn er regulative Idee wäre, meine Erfahrung organisieren müsste. Der Begriff bezieht sich aber auf die Erfahrung eines Anderen, und gerade nicht auf meine. Ist der Idealismus damit erledigt, was das Problem der anderen Bewußtseine angeht? - Nein, denn es besteht noch die Möglichkeit, das Bewußtsein des Anderen für einen Scheinbegriff zu halten, der nichts zu meiner Erfahrung beiträgt und daher eliminiert werden kann. Der Behaviourismus (nicht gerade eine idealistische Position im Sinne Kants, aber der Ausweg existiert auch für den Realismus) versucht eine solche Ausklammerung des Bewußtseins und beschränkt sich auf die Beschreibung von Verhalten (und geht davon aus, dass die Wissenschaft nicht mehr benötigt). - Gegen eine solche Position lässt sich schwer argumentieren, doch das Problem löst sie natürlich nicht. Die Beziehung zum anderen Bewußtsein als interne Negation Was ist so grundlegend falsch an den bisher untersuchten Auffassungen? - Nach Sartres Ansicht sind sich Idealismus und Realismus darin einig, dass die Beziehung des Bewußtseins zum Bewußtsein des Anderen eine externe Negation ist. - Wir erinnern uns: Externe Negationen verbinden die beiden Glieder einer "ist nicht"-Relation äußerlich, ohne dass die Glieder selbst davon betroffen sind. Interne Negationen legen dagegen das Wesen eines der beiden verbundenen Glieder fest, nicht im Sinne einer statischen logischen Abhängigkeit, sondern als dynamische Festlegung (siehe unter "Transzendenz"). Externe Negationen können lediglich von einem Zeugen festgestellt werden: Der negative Sachverhalt, dass ein Tintenfass kein Vogel ist, existiert dank eines Beobachters (und nicht für Tintenfass und Vogel), aber dass das Bewußtsein nicht die Sachen ist, die es erkennt, bestimmt sein Wesen und benötigt daher keinen Zeugen, der von einem Standpunkt ausserhalb die Beziehung beider herstellen müsste. - Sartre hält die externe Negation auch für dadurch gekennzeichnet, dass etwas Trennendes zwischen den Gliedern vorhanden ist (eine reale Distanz), die bei der internen Negation fehlt. (Zur Verdeutlichung dieses Bildes: Es gibt keine Distanz zwischen Für-sich und An-sich, da das Für-sich nur als Negation des An-sich überhaupt existiert. Für-sich und An-sich "berühren sich", das An-sich ist im Für-sich unmittelbar gegeben - was die Konsequenz hat, dass ich aus dem Cogito alleine die Existenz einer Aussenwelt erschliessen kann. Der Vogel und das Tintenfass berühren sich - in diesem Sinne - nicht.) Die Relation zwischen meinem Bewußtsein und dem Bewußtsein des Anderen ist - so Sartre - im (transzendentalen) Idealismus auf jeden Fall extern, da ja prinzipiell keine Möglichkeit für einen Geist besteht, einen anderen Geist in sein Erfahrungssystem zu integrieren. - Doch wäre es nicht treffender, zu sagen, dass für diesen Standpunkt gar keine Beziehung - weder extern noch intern - existiert, da der Begriff eines anderen Bewußtseins in einem Kantischen Bewußtsein nicht gebildet werden kann? - Der Realismus hat dieses Problem nicht: Als realistisches Bewußtsein kann ich mir vorstellen, dass andere Menschen ein Bewußtsein haben, jedoch kommt diese Vorstellung nie über den Status einer willkürlichen Hypothese hinaus. Und diese könnte - so Sartre - nur durch Gott bestätigt werden. Die Beziehung Gottes zu meinem Bewußtsein und dem des Anderen müsste dabei in beiden Fällen eine interne Negation sein (anderenfalls wäre ein weiterer Zeuge nötig, um die Zeugenschaft Gottes abzusichern usw.). - Sartre ist anscheinend der Ansicht, dass auch die Beziehung zweier Kantischer Geister durch Gott bestätigt werden könnte, was allerdings der eben erwähnten Unmöglichkeit dieser Beziehung widerspricht: Ein idealistisches Bewußtsein könnte an andere Bewußtseine noch nicht einmal glauben, sie wären völlig ausserhalb seines Gesichtskreises. Das Argument, das Sartre gegen die Heranziehung Gottes anführt, haben wir bei der Diskussion der Möglichkeit einer Schöpfung schon kennengelernt: Gott ist entweder mit den beiden Bewußtseinen identisch (dann handelt es sich bei ihnen gar nicht um Bewußtseine, sondern lediglich um Gedanken Gottes) oder er ist es nicht, und in diesem Falle ist seine Beziehung zu ihnen nur extern. - Sartre gelangt zu dem Resultat, dass ausschließlich die Annahme einer Verbindung durch interne Negation die Existenz des anderen Bewußtseins garantieren und so den Solipsismus vermeiden kann. - In der Folge beschäftigt er sich mit drei neueren Theorien, die (jedenfalls seiner Interpretation nach) von dieser Voraussetzung ausgehen und stellt fest, dass sie zwar einen echten Fortschritt, aber immer noch nicht die Lösung des Problems bringen. Husserls Theorie vom Fremdseelischen, die Sartre hier diskutiert, kann in seinen Werken nicht nachgewiesen werden, was aber wohl nicht heissen muss, dass Husserl sie nie vertreten hat (so Paul Vincent Spade). - Sie besagt ungefähr folgendes: Ich nehme die Welt als objektiv wahr, und objektiv ist ein Ding dann, wenn es von Anderen gleichfalls wahrgenommen werden kann. Also impliziert mein grundlegendes Verhältnis zur Welt, dass es eine Pluralität von Bewußtseinen gibt. Nun ist das materiale Ich Teil der Welt, so dass mein Bild von mir selbst gleichfalls andere Bewußtseine voraussetzt, wenn ich es für objektiv halte. - Ist die Beziehung zwischen den Bewußtseinen nach dieser Theorie eine interne Negation? Eine interne Negation liegt vor, wenn sich die beiden Glieder der Beziehung "durcheinander bestimmen", wie Sartre sagt. Ist das hier der Fall? - Eine interne Negation liegt jedenfalls insofern vor, als meine Erkenntnis meines materialen Ich einen bestimmten Begriff von den Anderen voraussetzt, die mein Selbstbild bestätigen können sollen. Mein Begriff von mir selbst hängt also von dem Begriff ab, den ich von den Anderen habe. Die Theorie scheint sich nicht besonders gut mit Husserls Erkenntnistheorie zu vertragen: Denn dort meint die "Objektivität" des Objektes, dass es für eine unendliche Reihe möglicher Abschattungen steht und von Intersubjektivität ist nicht die Rede. - Aber Sartre muss solche Überlegungen nicht anstellen, da Husserls Argumentation schon aus einem prinzipiellen Grund durch sein Raster fällt: Sie kann nämlich nur das materiale Ich betreffen, und keineswegs das Bewußtsein als solches (das "transzendentale Ego" bei Husserl). Letzteres kann Husserl als Transzendentalphilosoph aus den gerade erläuterten Gründen nicht mit anderen Bewußtseinen in Beziehung setzen (weswegen Husserl - so Sartre - die Intention des Bewußtseins auf ein anderes Bewußtsein unter die nicht erfüllbaren "Leerintentionen" einordnete). Die interne Negation ist zwar vorhanden, verbindet aber die falschen Glieder. Sodann beschäftigt sich Sartre mit Hegel und bezieht sich dabei auf die bekannte "Herr-Knecht-Dialektik" aus der "Phänomenologie des Geistes", die eine Theorie der Beziehung zwischen den Bewußtseinen präsentiert. Ich werde darauf nicht näher eingehen, und mich auf die Kernthese Hegels beschränken, so wie Sartre sie verstanden hat: Das Bewußtsein ist im Urzustand einfach nur mit sich selbst identisch und hat keinen Begriff von sich selbst. Diesen erhält es erst durch die Begegnung mit einem Anderen: "Der Andere ist das, was mich ausschließt, indem er Er ist, das was ich ausschließe, indem ich Ich bin." - Die interne Negation ist offensichtlich. - Das "Ich denke" des Cogito konnte es im Urzustand nicht geben und danach besagt es soviel wie "Ich - und nicht er - denke." Das andere Bewußtsein ist daher im Cogito gegeben. Sartres Einwand gegen Hegels Standpunkt lautet: Hegel definiert das Bewußtsein in Erkenntnisbegriffen, das Bewußtsein ist aber wesentlich ein Sein. Und die Beziehung zwischen zwei Bewußtseinen ist keine Erkenntnis-, sondern eine Seinsbeziehung. - Was meint Sartre damit? - Denken wir daran, dass Bewußtsein immer Bewußtsein von Bewußtsein ist. Für Sartre kann es also keinen Urzustand des Bewußtseins als unbewußtes Bewußtsein geben. Das System Spiegelung/Spiegelndes existiert auch auch ohne die Begegnung mit einem anderen Bewußtsein, und nicht erst, wie Hegel suggeriert, ab einer durch die Begegnung vermittelten begrifflichen Erkenntnis von sich selbst. - Ausserdem beschreibt Hegel den unbewußten Urzustand als bloße Identität mit sich selbst, aber in diesem Zustand kann sich ein Sartresches Bewußtsein, wie wir wissen, niemals befinden. Das Bewußtsein existiert im Sinne Sartres als Sein und nicht als Erkenntnis, da es bereits vor der begrifflichen Erkenntnis seiner selbst existiert (Bewußtsein von Bewußtsein ist nicht Erkenntnis von Bewußtsein). Und diese Seinsebene, auf die es für Sartre gerade ankommt, wenn von einer Beziehung zwischen Bewußtseinen die Rede ist, hat Hegel in seiner Argumentation ignoriert. - Damit verbunden ist, dass der Zustand der Erkenntnis meiner selbst nach Erkenntnis des Anderen ein Zustand ist, in dem ich sowohl mich selbst als auch den Anderen als Erkenntnisgegenstand erfasse - also als An-sich. Ein Bewußtsein, dass mir als An-sich gegeben ist, ist mir aber eigentlich gar nicht oder lediglich als Zerrbild gegeben, da das Bewußtsein wesentlich Für-sich ist. Die Beziehung zu einem anderen Bewußtsein muss also - wenn es sie geben soll - mehr sein als begriffliche Erkenntnis, der sich das andere Bewußtsein prinzipiell entzieht: Diese könnte sich nur auf das materiale Ego beziehen. Heidegger erfasst das Mit-Sein als ontologisches Merkmal des "Daseins" (des menschlichen Seins, das individuell verstanden wird - das Dasein ist "je meines"). Ich erfasse mich in meinem Sein immer als mit-Anderen-seiend und nie als isoliertes Subjekt, insbesondere im Umgang mit den Dingen der Welt, die sich mir als Utensilien für mich und für andere präsentieren. Heidegger behauptet damit - so Sartre - zwar löblicherweise eine Seinsbeziehung zwischen mir und den Anderen, ist aber nicht fähig, sie zu beweisen, so dass es bei der Behauptung bleibt. - Wir sollten hier daran denken, dass Sartre eine solide Evidenz-Grundlage für seine Ontologie zu haben glaubt, nämlich das Cogito oder die reine Reflexion. - Da Heidegger es ablehnt, das "Dasein" als Bewußtsein zu erfassen, fehlt ihm diese Grundlage und seine Ontologie bleibt - im Sinne Sartres - spekulativ. Sartre argumentiert weiter, dass ein allgemeines Gesetz, das eine Seinsbeziehung der "Daseine" zu anderen Bewußtseinen behauptet, keine Möglichkeit für die Ableitung von Einzelfällen bieten würde. Denn dieses allgemeine Gesetz könnte nicht aus der Struktur meines Geistes abgeleitet werden, sonst wäre man wieder beim transzendentalen Idealismus. (Z. B. ist der Satz "Der Raum ist unendlich" für Kant unabhängig von aller Erfahrung wahr, weil er sich auf die Raumform bezieht, die Teil der Struktur meines Geistes ist.) - Es handelt sich auch nicht um ein durch Induktion, also Verallgemeinerung vieler Einzelfälle, gewonnenes Gesetz, denn es ist apriorisch (d . h. kein Erfahrungssatz). - Sartre meint also, dass lediglich zwei Gesetzestypen (induktive Gesetze und apriorische Gesetze im Sinne Kants) eine Ableitung von Einzelfällen zulassen: Heideggers Behauptung ist weder das eine noch das andere und daher unbrauchbar, selbst wenn sie bewiesen ist. Das kann missverstanden werden. Ein apriorisches Gesetz, dass sich auf Einzelfälle bezieht, kann ich - sofern es wahr ist - immer dazu verwenden, Einzelfälle daraus zu folgern: Aus dem Satz "Alle Menschen sind sterblich" würde auch dann folgen, dass Sokrates sterblich ist, wenn der Satz kein Erfahrungssatz, sondern apriorisch wäre. Ebenso folgt aus dem Satz "Das Dasein steht in einer Seinsbeziehung zu anderen Bewußtseinen", dass auch Sokrates (insofern er ein "Dasein" ist) in einer Seinsbeziehung zu anderen Bewußtseinen steht. - Sartre meint etwas anderes: Ein Satz wie "Sokrates steht in einer Seinsbeziehung zu anderen Bewußtseinen" wäre ihm immer noch zu abstrakt. Was er sucht, ist eine Möglichkeit, die ontologische Struktur des Mit-Seins in Sokrates konkreter Beziehung zu einem bestimmten anderen Menschen wiederzufinden. Denn die blosse Behauptung, dass Sokrates über eine bestimmte ontologische Struktur verfügt, lässt keine Rückschlüsse darauf zu, dass der bestimmte konkrete Fall eine Exemplifizierung dieser Struktur ist und nicht etwas anderes. Wie steht es um Sartres eigene Behauptungen? Sind sie nicht auch apriorisch im nicht-Kantischen Sinne? Ja, aber sie stützen sich im Unterschied zu Heideggers Behauptungen auf das Cogito / die reine Reflexion, und dieses zeigt uns unmittelbar das Konkrete (z. B. meine Erfassung des Blicks dieses bestimmten Menschen). Die Anbindung an das Konkrete ist daher bei Erkenntnissen, die aus dem Cogito gewonnen sind, immer bereits gegeben und muss nicht noch zusätzlich hergestellt werden. Sartre formuliert einige Bedingungen für (geglückte) Theorien des anderen Bewußtseins, von denen er glaubt, dass seine eigene Theorie ihnen genügt: Die Existenz des Anderen darf nicht nur wahrscheinlich sein (sonst ist sie nur eine unbeweisbare Hypothese) und das Cogito muss mich unmittelbar durch interne Negation zum Anderen bringen, so wie es mich unmittelbar zum An-sich bringt. Ausserdem darf der Andere für das Bewußtsein kein Erkenntnisobjekt sein, da Erkenntnisobjekte immer nur wahrscheinlich sind. - Erinnern wir uns, in welchem Sinne uns das Cogito zum An-sich bringt: Zwar enthüllt mir das Cogito, dass es An-sich (also bewußtseinsunabhängiges Sein) gibt, aber es enthüllt mir nicht, dass dieses oder jenes Objekt meiner Wahrnehmung tatsächlich existiert. Vor dem Hintergrund von Sartres Definition des Seins-an-sich ist das akzeptabel. Ob wir das andere Bewußtsein auf ähnlich elegante Weise erreichen können, wird sich zeigen. Was ist nun eine konkrete Situation, in der sich das andere Bewußtsein im Cogito zeigt? - Sie kann ganz einfach und alltäglich sein: Ich befinde mich alleine in einem Park und betrachte die Landschaft. Ein Mensch taucht in meinem Blickfeld auf. Ich beschaue ihn eine Weile, doch plötzlich wird der Mensch auf mich aufmerksam und blickt seinerseits mich an. (Letzteres ist für Sartre die ontologisch entscheidende Wendung.) - Die Situation entwickelt sich über drei Stadien: 1. Ohne Anwesenheit eines anderen Menschen nehme ich eine Reihe unbelebter Dinge wahr (z. B. die Bäume des Parks). 2. Ich nehme neben diesen Dingen auch einen Menschen wahr, ohne dass dieser mich wahrnimmt. 3. Der Mensch nimmt mich wahr und ich bin mir dessen bewußt, weil er mich anblickt. In Stadium 1. befinde ich mich in einer Welt, deren Bestandteile allein auf mich ausgerichtet sind. Ich bin das Zentrum dieser Welt, nicht nur insofern ich der räumliche Mittelpunkt bin, um den sich die Dinge herumgruppieren, sondern auch, insofern die Qualitäten der Dinge (z. B. das Grün des Rasens) einfach so sind, wie sie mir erscheinen. - In Stadium 2. taucht jedoch ein Mensch in meinem Wahrnehmungsfeld auf und das hat eine völlig andere Wirkung als das Erscheinen eines unbelebten Gegenstandes (z. B. der Sonne, die zwischen den Wolken hervorkommt). Was ist der Unterschied? - Nun, dieser Mensch ist selber ein Wahrnehmender und damit Zentrum einer Welt, zu der jetzt Dinge gehören, die auch zu meiner Welt gehören. Unsere Wahrnehmungsfelder haben eine Schnittmenge und die zu dieser Schnittmenge gehörigen Dinge haben jetzt plötzlich neben ihrem Bezug zu mir einen Bezug zu ihm. Sartre bezeichnet diesen Zustand als "Desintegration", also Auflösung meiner Welt. Doch diese Auflösung ist selbst noch Teil meiner Welt und auf mich bezogen. Warum? - Nun, die vom Anderen wahrgenommenen Dinge stehen zwar jetzt in einer Beziehung zu ihm, aber diese Beziehung ist selbst ein Objekt meiner Welt. - Ich bin also nur mäßig beunruhigt. Was geschieht in Stadium 3? In Stadium 2 war der andere Mensch Objekt meiner Wahrnehmung, aber jetzt bin ich das Objekt seiner Wahrnehmung (und mir dessen bewußt, es geht nicht um Situationen, in denen ich ohne mein Wissen beobachtet werde). Und diese Objektwerdung meiner selbst ist nicht nur eine Angelegenheit des Anderen, sondern sie betrifft mich in fataler Weise, wie uns die alltägliche Erfahrung lehrt: Ich spüre den "brennenden Blick des Anderen", ohne dass ich diesen Blick im üblichen Sinne wahrnehme. Ich erfahre vielmehr die Anwesenheit des Anderen schockartig als eine unbezweifelbare Realität. Und parallel dazu entwickeln sich bei mir Furcht, Scham oder Stolz (der - wie wir erfahren werden - lediglich eine Variante der Scham ist). Gleichzeitig verschwindet der Andere als Objekt für mich - er ist für mich "als Freiheit" anwesend und nicht mehr als Gegenstand meiner Wahrnehmung (womit Sartre nicht meint, dass mich das Erblicktwerden blind macht, sondern dass meine Fähigkeit zur Objektwahrnehmung gegenüber dem neuen Bewußtsein vom Anderen völlig in den Hintergrund tritt): "Wenn dieser dicke und häßliche Passant, der sich hüpfend auf mich zubewegt, mich plötzlich ansieht, ist es mit seiner Häßlichkeit, seiner Dicke und seinem Gehüpfe vorbei; solange ich mich erblickt fühle, ist er zwischen mir selbst [als Für-sich] und mir [als Objekt für den Anderen] vermittelnde reine Freiheit." Aber lassen wir uns nicht jeden Tag von Anderen anblicken, ohne dass wir uns besonders betroffen fühlen? Sartre würde das vermutlich zugeben, und darauf verweisen, dass das Erlebnis des "Blicks" eben häufig unter übermächtigen Begleitumständen untergeht und sich lediglich in Ausnahmefällen (wie dem plötzlichen Angeblicktwerden durch einen einzelnen Menschen im Park) in seiner ganzen Relevanz zeigt. (Ob die Möglichkeit eines solchen Untergehens nicht dafür spricht, dass Sartres Beschreibung des Für-sich zu eindimensional ist, sei dahingestellt.) Da Sartre uns versprochen hat, dass es sich hier nicht nur um ein bemerkenswertes psychologisches Phänomen handelt, sondern um etwas viel Wesentlicheres, nämlich den vom Cogito erfassbaren Bezug zwischen meinem Bewußtsein und dem eines Anderen, stellt sich nun die Frage nach der ontologischen Bedeutung des Ganzen. Was entspricht der Wendung der Situation, die sich im Erfassen des fremden Blicks vollzieht, auf der Seinsebene? Auf der Seinsebene präsentiert sich die so einfach zu beschreibende Situation in ihrer ganzen Komplexität. - Zunächst einmal ist das Erlebnis des "Blicks" das Erlebnis der Anwesenheit des Anderen bei meinem Bewußtsein. Diese Anwesenheit muss - gemäß der von Sartre formulierten Voraussetzung - die Form einer internen Negation haben. Da wir einen analogen Fall - die Anwesenheit des An-sich beim Bewußtsein - bereits kennen, liegt es nahe, das dort benutzte Schema auf die Anwesenheit des fremden Für-sich zu übertragen: Ich erfasse das andere Bewußtsein demnach dadurch, dass ich negiere, es zu sein. - Doch leider sind die Verhältnisse hier komplizierter. Warum? - Zum einen ist die Beziehung des Bewußtseins zum An-sich keine wechselseitige Beziehung. Das Bewußtsein definiert sich darüber, das An-sich zu sein, das An-sich definiert sich aber nicht darüber, das Bewußtsein nicht zu sein. Im jetzigen Fall liegt aber Wechselseitigkeit vor: Der Andere und ich selbst gehören beide zur Seinskategorie des Für-sich. Es ist also davon auszugehen, dass nicht nur ich leugne, der Andere zu sein, sondern auch der Andere leugnet, ich zu sein. Zum anderen ist aufgrund der Angehörigkeit beider Glieder der Beziehung zur selben Seinskategorie eine direkte Negation nicht möglich. Denn ich bin zwar nicht An-sich, aber ich bin nicht nicht Für-sich. Als Für-sich kann ich den Anderen nicht negieren. Sartre folgert daraus, dass die Gefahr einer möglichen Assimilation durch das fremde Bewußtsein besteht: Denn wenn Für-sich bei Für-sich anwesend ist, warum handelt es sich dann nicht um dasselbe Für-sich? - Hier drängt sich der naheliegende Einwand auf, dass es hier zwar nur Für-sich, aber doch immerhin dieses und ein anderes Für-sich gibt, also eben zwei und nicht nur eins. Es müsste also völlig ausreichend sein, wenn ich darauf bestehe eines dieser Für-sich zu sein und das andere eben nicht zu sein. - Doch Sartre weist darauf hin, dass die numerische Verschiedenheit, von der hier die Rede ist, eine externe Negation ist: Sie benötigt einen Zeugen, um hergestellt zu werden. In der unmittelbaren Anwesenheit des anderen Bewußtseins berühren sich die beiden Für-sichs und ein Zeuge, der für ihre Unterscheidung sorgen könnte, fehlt. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, den Anderen zu negieren, ohne dass Verschmelzungsgefahr besteht. Wir haben das im 2. Stadium der von Sartre geschilderten Situation gesehen: Der Andere wird für mich ein Objekt meiner Wahrnehmung, und die Objekte meiner Wahrnehmung bin ich ja bekanntlich nicht. Aber habe ich in dieser Verobjektivierung das andere Bewußtsein negiert? Natürlich nicht, denn das andere Bewußtsein ist Für-sich. In dem ich es zum Gegenstand meiner Welt gemacht habe, habe ich es gleichzeitig als An-sich erfasst, und nur dieses An-sich habe ich negiert - es war bei mir anwesend, so wie die unbelebten Dinge meiner Wahrnehmung. Es besteht also - so Sartre - prinzipiell keine Möglichkeit, mich gegenüber einem Für-sich als dieses Für-sich nicht seiend zu definieren. Aber was geschieht während des Angeblicktwerdens, wenn das Erlebnis doch offenbar nicht zu einer Verschmelzung der Bewußtseine führt und ausserdem interne Negation beinhalten soll? - Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit dem Gefühl der Scham beschäftigen. Dieses Gefühl entsteht - so Sartre - automatisch, wenn ich mich erblickt fühle (unabhängig davon, ob ich tatsächlich ohne Hosen dastehe oder ganz respektabel aussehe). - Wie man ohne Weiteres erkennt, hat die Scham etwas damit zu tun, wie wir von Anderen gesehen werden. Wir schämen uns nicht für unsere Eigenschaften als solche, sondern dafür, wie diese Eigenschaften bei Anderen "ankommen". Nicht das Fehlen der Hose ist Ursache der Scham, sondern dass uns die Anderen im hosenlosen Zustand sehen können. Die Scham verweist uns auf einen weiteren Aspekt des Angeblicktwerdens: Der Andere ist nicht nur bei mir anwesend, sondern er macht mich zum Objekt. Wir hatten gesehen, wie in Stadium 2 der Andere für mich zum Objekt wurde: Ich unterschied den Anderen zwar von den unbelebten Objekten, weil der Andere wie ich ein Zentrum der Dinge ist, integrierte ihn aber dann inklusive seiner Beziehungen zu den Dingen in meine Welt. Dieses Objekt, das ich für den Anderen bin, nennt Sartre mein "Sein-für-Andere". Wie Sartre glaubt, verhindert es nicht nur die Verschmelzung mit dem Anderen, sondern ermöglicht mir auch, den Anderen indirekt zu negieren und mich so durch mein Nicht-der-Andere-Sein zu bestimmen. Und das geschieht merkwürdigerweise dadurch, dass ich das Objekt, das ich für den Anderen bin, akzeptiere: Denn nur so erreiche ich die nötige Trennung vom anderen Bewußtsein (der Andere ist nicht mein Objekt-Ich). Das Objekt-Ich bildet meine Aussengrenze gegenüber dem anderen Bewußtsein und hält es dadurch fern. - Diese unvermeidliche Akzeptanz dessen, was ich für den Anderen bin, führt - so Sartre - dazu, dass das Angeblicktwerden immer Scham erregt, auch in Fällen, in denen ich mir nichts vorzuwerfen habe. Die Scham ist das Gefühl meiner Wehrlosigkeit gegenüber dem Anderen, da ich das Objekt-Ich, zu dem er mich gemacht hat, nicht kontrollieren kann: Es untersteht seiner Freiheit. Aber wie steht es denn um die Fälle, in denen ich die Blicke Anderer gerade suche, weil sie mich stolz machen? - Sartre hält den Stolz für ein Phänomen des Schlechten Glaubens. Es handelt sich dabei um den Versuch, der Scham dadurch zu entkommen, dass ich glaube, den Anderen durch mein Objekt-Ich zu manipulieren. Schlechter Glaube - und das heisst, in sich widersprüchlich - ist der Versuch, weil ich den Anderen einerseits für ein Subjekt halten muss, um mir das Objekt-Ich zu erhalten und ihn andererseits durch die Vorstellung, dass ich Macht über ihn ausübe, zum Objekt mache. - Der Stolz ist also lediglich eine unkenntlich gemachte Variante der Scham. Doch es gibt neben der Scham zwei weitere aufrichtige Gefühle, die aus dem Erlebnis des Angeblicktwerdens erwachsen können, nämlich Furcht und Hochmut. Die Furcht läßt sich leicht erklären, sie ergibt sich daraus, dass ich als Objekt Teil der Möglichkeiten des Anderen bin (er kann z. B. beabsichtigen, mich zu ermorden). Der Hochmut kann aus der Scham erwachsen: Die Scham bedeutet, dass ich Objekt für den Anderen bin, der Hochmut besteht in Reaktion auf die Scham darin, dass ich den Anderen meinerseits zum Objekt mache: Seine Möglichkeiten verlieren so an Bedrohlichkeit, weil ich sie durch meine Möglichkeiten überschreiten kann (ich kann z. B. seine Mordabsicht durchkreuzen, indem ich prophylaktisch ihn ermorde). - Man könnte hier natürlich fragen, ob man den Stolz nicht sinnvoller als Variante der Hochmut interpretiert. Sartre hatte uns versprochen, dass seine Theorie geeignet wäre, den Solipsismus in seiner eingeschränkten Variante zu widerlegen. Bedingung dafür ist, dass das Bewußtsein des Anderen nicht nur wahrscheinlich, sondern evident sein muss. Erfüllt Sartres Ontologie des Für-Andere dieses Versprechen? - Zwar hat Sartre recht, wenn er erklärt, dass die Anwesenheit des Anderen in der von ihm beschriebenen Situation des schamvollen Angeblicktwerdens unbezweifelbar ist. Doch aus meiner Unfähigkeit, in diesem Moment zu zweifeln, folgt keineswegs, dass ich tatsächlich mit einem anderen Bewußtsein konfrontiert bin. - Sartre ist sich dieser Schwierigkeit bewußt. Er gibt zu, dass es immer denkbar ist, dass die Augen, die mich anzublicken scheinen, lediglich Imitationen von Augen sind. Das Problem wird noch deutlicher, wenn man daran denkt, wie wenig nötig ist, damit man sich erblickt fühlt. Sartre gibt Beispiele: Ein Rascheln im Gebüsch, das Geräusch von Schritten können ausreichend sein um mich in tiefe Scham zu versetzen. Und die Erfahrung lehrt uns, dass Irrtümer hier nicht nur möglich, sondern sogar ziemlich häufig sind. - Heisst das nicht, dass das Bewußtsein des Anderen nach wie nur wahrscheinlich ist und der Solipsismus immer noch möglich? Zur Rettung seiner Theorie vor diesem Einwand versucht Sartre ein eigentümliches Manöver: Das Bewußtsein, das im Moment des Erblicktwerdens in meinem Cogito präsent ist, ist nicht etwa das Bewußtsein eines einzelnen Menschen, sondern vielmehr das Bewußtsein aller anderen Menschen. Der Blick eines besonderen Menschen ist lediglich der Anlass, dass mir diese Anwesenheit bewußt wird: "Jeder Blick läßt uns konkret - und in der unbezweifelbaren Gewißheit des Cogito - erfahren, daß wir für alle lebenden Menschen existieren, das heißt, daß es (mehrere) Bewußtseine gibt, für die ich existiere." - Wenn diese Permanenz der Anwesenheit erkannt ist, kann übrigens die Versuchung entstehen, das allgemeine Bewußtsein, das anwesend ist, als einzelnes Subjekt zu denken: Man gelangt so zum Begriff des Gottes, der mich jederzeit sieht. Sartre begegnet mit diesem Manöver einer Gefahr, das sich aus der Analyse des Blicks ergeben hat: Offenbar kann uns das Cogito täuschen! Diese für Sartres Ansatz fatale Konsequenz kann er nur mit der Annahme umgehen, dass nicht die Evidenz falsch war, sondern lediglich unsere Interpretation, was ihren Gegenstand angeht (was übrigens von der Phänomenologie des Erlebnisses nicht gedeckt wird). - Folgen wir Sartre, dann liegen die Dinge jetzt so ähnlich wie beim Sein-an-sich: Ich bin alles Sein-an-sich nicht, also bin ich bei allem Sein-an-sich anwesend. Der Unterschied besteht darin, dass Täuschungen über die Existenz irgendwelcher Dinge die Existenz des globalen An-sich nicht gefährden können (die ergibt sich für Sartre nämlich schon aus dem "ontologischen Beweis" - ich kann falsch auf die Aussenwelt intendieren, intendiere aber jedenfalls auf die Aussenwelt). Ein ähnlich globales Sein-für-sich kann es im Sinne Sartres aber nicht geben, denn Bewußtsein ist immer einzelnes Bewußtsein. Nehmen wir nun an, dass ich - ohne es zu wissen - der einzige echte Mensch bin und alle Anderen lediglich bewußtlose Imitationen sind (und dass es nicht so ist, ist eine nur wahrscheinliche Hypothese): In diesem Fall gibt es mein Bewußtsein, und keine anderen Bewußtseine, die mir im "Blick" evident werden könnten. Sartre müsste für diesen Fall unterstellen, dass ich, wenn ich von einer der Imitationen angeblickt werde, keine Scham erlebe. Nehmen wir weiter an, dass es bis gestern irgendwo auf der Welt noch einen zweiten echten Menschen gab, der aber leider in der Nacht verstorben ist, so heisst das, dass ich gestern beim Angeblicktwerden durch die Imitationen noch Scham empfand, die Scham aber heute (für mich ganz rätselhafterweise) ausbleibt. - Das ist eine merkwürdige, aber notwendige Konsequenz aus Sartres Auffassung. Ich möchte abschließend eine Feststellung Wittgensteins über den gewöhnlichen Sprachgebrauch erwähnen: Man unterscheidet zwischen Irrtum und Verblendung, und letztere betrifft jene Fälle, in denen kein Zweifel möglich ist. Ich kann z. B. nicht daran zweifeln, dass der Mensch, der mich anblickt, Bewußtsein hat. - Sollte es sich trotzdem als falsch herausstellen, habe ich mich nicht geirrt, sondern war verblendet. Man kann noch einen weiteren, vergleichsweise marginalen Einwand gegen Sartres Ontologie des Für-Andere äußern, der auf den zweifelhaften ontologischen Status des Für-Andere hinweist: Sartre behauptet, dass das Sein-für-Andere (mein Objekt-Ich) weder An-sich, noch Für-sich ist. An-sich kann es nicht sein, weil es auf die Freiheit des Anderen verweist, und Für-sich ist es gleichfalls nicht, da es Objektcharakter hat. - Wie ist dieser Zwittercharakter mit Sartres scharfer Unterscheidung der Seinsarten verträglich? Der Kampf der Bewußtseine und ihre Totalität Wir haben es implizit bereits erwähnt, müssen aber noch einmal darauf hinweisen, weil diese Argumentation die Grundstruktur für Sartres spätere Betrachtungen über die Phänomene des menschlichen Zusammenlebens liefert: Das Verhältnis der Bewußtseine zueinander hat den Charakter eines Kampfes. Solange ich den "Blick" erfahre, fühle ich mich bedroht und bin im Zustand der Angst oder Scham. Andererseits kann ich Hochmut empfinden, wenn es mir gelingt, den Anderen als Objekt zu sehen und seinen Blick zu vermeiden. - Das zeigt, dass es hier um eine Art Machtspiel geht: Der Erblickende hat Macht über den Erblickten. Jedoch nicht etwa durch das Risiko meiner Verschmelzung mit ihm, denn dieser Drohung wurde mit der Schaffung des Objekt-Ichs ja erfolgreich begegnet - warum also dann? Solange ich erblickt bin, bin ich - so Sartre - Teil der Möglichkeiten eines Anderen, und zwar ohne, dass ich diese Möglichkeiten in mein Möglichkeitensystem integrieren konnte (denn das kann ich erst, wenn ich den Anderen meinerseits als Objekt sehe). Ich bin diesen Möglichkeiten also ausgeliefert. Sie betreffen zwar lediglich mein An-sich, insofern der Andere ja nur meine Objektheit, also nur den Apfel und nicht den Wurm darin wahrnimmt und sein mögliches Handeln mein freies Für-sich nicht beeinflussen kann. Der Andere kann aber mein An-sich aus der Welt schaffen, nämlich indem er mich tötet, und da ich mit meinem An-sich auch identisch bin, wäre das auch meine Vernichtung als Für-sich. - Der Zustand ist für mich also äußerst ungünstig und der Vorteil liegt auf der Seite des Anderen (die ganze Schilderung wirkt ein wenig Kriminalfilm-inspiriert). - Das Objekt-Ich, das in mir durch den Blick entsteht (das Sein-für-Andere) ist unter seiner Kontrolle: Ich kann nicht wissen, wie er mich sieht und was er daraus machen will - das ist Sache seiner Freiheit - ich kann das Objekt-Ich aber auch nicht ablehnen, da es erforderlich ist, um mich vom Anderen zu unterscheiden. Mein Bestreben muss es also sein, dieser Situation zu entkommen. Grundlage dafür ist meine Identifikation mit dem Objekt-Ich: Indem ich es anerkenne, bemerke ich gleichzeitig, dass ich es schon überschritten habe, da ich als freies Für-sich niemals Objekt bin. Als Für-sich befinde ich mich aber in der Position, meinerseits den Anderen zu verobjektivieren und seine für mich bedrohlichen Möglichkeiten in mein eigenes System zu integrieren. Das Sein-für-Andere löst sich auf, an seine Stelle treten Hypothesen über die möglichen Absichten des Anderen und sein Bild von mir ist nur noch ein Bild, das ich vielleicht manipulieren kann. Wenn es mir dergestalt gelungen ist, den Anderen als Objekt zu sehen, verschwindet natürlich sein Bewußtsein aus meinem Cogito. Dieses verwandelt sich in ein "Innenleben", das mir zwar nicht direkt zugänglich ist, das sich aber - wie das Innenleben einer Maschine, deren Funktionsweise ich nicht genau kenne - in Verhaltensweisen äußert: Vom Für-sich-Charakter des Anderen bleibt nur, dass ich sein Verhalten auf Zwecke beziehe, was ich bei der Maschine nicht tue. Wenn ich dann Hypothesen über den Anderen aufstelle (z. B. seinen Gesichtsausdruck als Zeichen der Wut interpretiere), beziehen sich diese - so Sartre - nicht etwa auf eine verborgene subjektive Wut, sondern lediglich auf die Möglichkeit, dass der Andere z. B. zuschlagen könnte. Die Wut des Anderen ist für mich nur eine Disposition für bestimmte Handlungen. Man kann also sagen, dass sich der verobjektivierte Mensch in seiner Wahrnehmung durch uns nicht prinzipiell von einer Maschine unterscheidet. Es handelt sich aber um eine Maschine, die mit weniger Unbedenklichkeit gehandhabt werden kann als z. B. ein Taschenrechner (und das nicht nur, weil ich die Funktionsweise des Taschenrechners genau kenne). Denn jeder Mensch kann mir gegenüber in die Rolle des Erblickenden fallen, und seinerseits mich verobjektivieren. Das Werkzeug Mensch ist - so Sartre - ein "explosives" Instrument. Das Risiko, Opfer des "Blicks" zu werden, äußert sich in einer prinzipiellen Gehemmtheit im Umgang mit Anderen. - Mit Sartres Worten: "Meine ständige Sorge ist es also, den Anderen in seiner Objektivität zusammenzuhalten, und meine Bezüge zum Objekt-Anderen bestehen wesentlich aus Tricks, die ihn Objekt bleiben lassen sollen. Aber ein Blick des Anderen genügt, damit alle diese Tricks scheitern und ich von neuem die Verwandlung des Anderen erfahre." Am Ende seiner ontologischen Betrachtung über das Sein-für-Andere fragt Sartre, warum es andere Bewußtseine gibt und erklärt die Frage für unbeantwortbar. - Er stellt aber noch eine zweite Frage, deren Antwort auch eine mögliche Antwort auf die erste andeutet: Weist die Möglichkeit eines Kontaktes der Bewußtseine trotz ihrer Trennung, wie sie im "Blick" realisiert ist, nicht darauf hin, dass es eine ursprüngliche Totalität der Bewußtseine gibt? - Wir erinnern uns, dass die Reflexion den Versuch einer Spaltung des Bewußtseins darstellt: Das System Spiegelung / Spiegelndes wird Quasi-Objekt für ein zweites System Spiegelung / Spiegelndes. Der Versuch scheitert allerdings, und es kommt zu keiner wirklichen Trennung. - Sartre spekuliert nun, dass die Existenz mehrerer Bewußtseine auf einen geglückten Versuch dieser Art zurückgehen könnte. Der Körper als materielles Ding gehört zwar der Seinssphäre des An-sich an, doch erst nach dem Tod des Bewußtseins ist das die ganze Wahrheit, denn solange der Mensch lebt, hat sein Körper mehrere Aspekte, die Sartre getrennt bespricht. - Für das Bewußtsein, dem er "gehört" ist der Körper durchaus eine Angelegenheit des Für-sich, wie Sartre uns erklären wird. Daneben wird der Körper eines lebenden Menschen aber von anderen Menschen auf eine bestimmte Weise wahrgenommen, die nicht mit der Weise identisch ist, in der unbelebte Gegenstände wahrgenommen werden (der Körper als "Körper-für-Andere"). Und schließlich ist es noch eine Tatsache, dass ich unter bestimmten Umständen meinen Körper ohne Beteiligung eines Anderen als Objekt (also als An-sich) wahrnehmen kann, einen Aspekt, den Sartre am Ende seiner Diskussion des Körpers kurz behandelt. Wir sind seit unserer Schulzeit an die Auffassung gewöhnt, dass unser Körper ein Komplex aus Knochen, Blut, Muskeln, Nerven usw. ist, die alle eindeutig materieller Natur - d. h. mit sich identisch - sind und sich z. B. per Operation, Blutabnahme usw. isolieren und sogar unter besonderen Umständen von einem Menschen zu einem anderen übertragen lassen. Inwiefern macht es also Sinn, von einem "Körper als Für-sich-Sein" zu sprechen? - Um das zu verstehen, müssen wir uns an Sartres Begriff der Faktizität erinnern. Zur Faktizität gehört die kontingente Tatsache, dass ich überhaupt existiere und ausserdem die Umstände meiner Existenz (der Platz, an dem ich mich befinde, die soziale Stellung, die ich einnehme, ob ich ein Mann oder eine Frau bin usw.). Um welche Umstände es sich dabei handelt, ist gleichfalls kontingent, notwendig ist aber, dass ich mich überhaupt in einer bestimmten Situation befinde. Wie Sartre sagt: Ich muss nicht Lehrer oder Arbeiter sein, aber irgendetwas muss ich sein. - Warum ist das so? Die Welt, die das Bewußtsein erfasst ist nicht einfach eine Gesamtheit der Dinge und ihrer Beziehungen zueinander, die Gegenstand unserer wertfreien Erkenntnis sind. Die traditionelle Wissenschaft hatte einen solchen Weltbegriff (Sartre weiss, dass sich moderne Paradigmen wie Relativitäts- oder Quantentheorie davon distanzieren), doch es handelte sich dabei nur um eine problematische Ableitung von der eigentlichen, wesentlich subjektbezogenen Welt: Die wirkliche Welt ist eine Welt, die erlebt wird und dieses Erleben ist nur von einem Zentrum aus möglich, das eine Perspektive definiert. Eine Wahrnehmung ohne räumliche Perspektive ist nicht denkbar (Sartre hält das für logisch wahr, worüber man streiten könnte), folglich ist auch ein wahrnehmendes Bewußtsein ohne die Faktizität eines Ortes, an dem es sich befindet, undenkbar. - Doch dieser Ort, an dem ich mich befinde, ist der Ort, an dem mein Körper ist: "Es wäre mir unmöglich, eine Welt zu realisieren, in der ich nicht wäre und die bloßes Objekt darüberschwebender Kontemplation wäre. Sondern im Gegenteil, ich muß mich in der Welt verlieren, damit die Welt existiert und ich sie transzendieren kann. So ist es ein und dasselbe, ob ich sage, daß ich in die Welt eingetreten, 'zur Welt gekommen' bin oder daß es eine Welt gibt oder daß ich einen Körper habe." Meine Faktizität ist also sehr wesentlich die Faktizität meines Körpers. Die Faktizität gehört zur Sphäre des An-sich, jedoch wir erinnern uns, dass sie nicht nur irgendein An-sich ist, sondern in einer besonderen Beziehung zu meinem Für-sich steht: Mein Für-sich ist mit seiner Faktizität identisch und nicht identisch, da es sie immer bereits "überschritten" hat. Diese Eigentümlichkeit überträgt sich auf das Verhältnis von Bewußtsein und Körper: Das Bewußtsein ist mit dem Körper identisch und nicht identisch. - Insofern es mit dem Körper identisch ist, sind für Sartre alle Theorien falsch, die eine radikale Trennung von Körper und Seele behaupten. Das Bewußtsein kann keine Seele sein, die aus dem Himmel in eine Art materiellen Kerker verbannt wurde, von dem sie sich irgendwann wieder befreien wird - denn ohne Körper kann es eine Seele (wenn wir den Begriff hier mit Bewußtsein gleichsetzen) nicht geben. Auch die Cartesianische Auffassung, die den Menschen für eine Entität hält, in der sich die denkende und die ausgedehnte Substanz auf rätselhafte Weise treffen, muss - so Sartre - auf der Grundlage dieser Einsicht abgelehnt werden. Sartre könnte zur Stütze für seinen Ansatz übrigens darauf verweisen, dass Geisterseher wie Swedenborg oder auch Esoteriker der Gegenwart gewöhnlich davon ausgehen, dass die vom Körper aus Fleisch und Blut getrennte Seele immer noch in irgendeiner Art Körper steckt (z. B. dem "astralen Körper"). Diese Tatsache deutet darauf hin, dass sich ein körperloses menschliches Bewußtsein schwer vorstellen läßt. - Auf den Einwand, dass doch immerhin Gott traditionell von der Theologie als körperloser Geist betrachtet wird, würde Sartre entgegnen, dass Gott eben in mehrfacher Hinsicht ein in sich widersprüchliches Konzept ist. Vielleicht würde er auch darauf hinweisen, dass die Ikonographie, in der Gott als Mensch Jesus oder als Greis dargestellt wird, stärker den tatsächlichen Glauben der Menschen wiedergibt. - Und im bilderlosen sunnitischen Islam, der keine Gottesdarstellungen zulässt, deutet die starke Bedeutung der Gestalt Mohammeds darauf hin, dass der betont abstrakte Gott als Kondensationspunkt für religiöse Gefühle mit einem besser vorstellbaren Menschen ergänzt werden musste. (Auf mögliche Beleidigungen des Propheten reagiert die islamische Welt ungleich stärker als auf die im Westen alltäglichen Verhöhnungen Gottes). Die Identität des Bewußtseins mit dem Körper impliziert, dass uns der Körper ursprünglich nicht als Objekt erscheint, sondern in der Rolle eines nicht wahrnehmbaren Zentrums der Weltordnung: Mein Körper ist in den räumlichen Beziehungen der wahrgenommenen Dinge indirekt präsent (z. B. in der Tatsache, dass sich ein bestimmtes Objekt rechts befindet). - Diese Funktion des Körpers als Zentrum kann sich aber - so Sartre - nicht lediglich auf die Raumordnung beziehen, denn das würde auf das Konzept einer kontemplativen (beschaulichen, nicht handlungsbezogenen) Welterfassung zurückführen. In Wahrheit sind die Dinge für uns nicht einfach nur Dinge, sondern in erster Linie Utensilien (da wir sie als Möglichkeiten, den "Wert" zu realisieren, wahrnehmen). Der Körper ist nicht nur Zentrum der räumlichen Ordnung, sondern auch Zentrum der Utensilienordnung. - Sartre illustriert das mit zwei einfachen Beispielen: Dass das Glas auf dem Tischchen steht, bedeutet, dass man das Tischchen mit Vorsicht verschieben muss, wenn man das Glas nicht umwerfen will, und dass der Tabak auf dem Kamin liegt, heisst, dass man drei Meter laufen muss, um sich eine Pfeife stopfen zu können. In diesem Zusammenhang konstatiert Sartre, dass der ursprüngliche Raum nicht der geometrische, sondern der hodologische ist. - Was ist der hodologische Raum? Der Begriff wurde von dem Sozialpsychologen Kurt Lewin erfunden und meint den Raum der praktikablen Wege im Kontrast zum geometrischen Raum. Als Beispiel für die Abbildung eines hodologischen Raums können Landkarten aus dem römischen Reich dienen (wie die berühmte Tabula Peutingeriana): Eine solche Karte zeigt das System der Landstrassen mit ihren Kreuzungen und die Namen der Orte, an denen die Strassen vorbeilaufen, aber ohne die Länge der Wege oder ihre genaue Lage zu berücksichtigen. Die Karte beantwortet also eine einzige praktische Frage: Wie gelange ich zu Ort X? Eine Strasse präsentiert sich auf ihr nicht als ein mit Steinen gepflasterter Weg, der sich über soundsoviel Kilometer erstreckt, und dabei durch Wälder und bergige Landschaften usw. führt, sondern ausschließlich im Hinblick auf den Zweck, über sie einen bestimmten Ort zu erreichen. Die tatsächliche geometrische Entfernung zweier Orte war für diesen Zweck nicht von Belang, da das Netz der Römerstrassen für einen Reichsbewohner die einzige praktische Möglichkeit darstellte, von einem Ort zum anderen zu gelangen, und auch der tatsächliche Strassenverlauf war ohne Bedeutung (wichtig war z. B., an der wievielten Kreuzung der Landstrasse mit einer anderen Landstrasse der Reisende abbiegen musste). Wenn der Mensch die Dinge in einem hodologischen Raum wahrnimmt, heisst das, er nimmt sie im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Erreichen bestimmter Zwecke bzw. das Ausführen bestimmter Handlungen wahr. Ich sehe einen Hammer nicht als hölzernen Stiel, an dem ein Stück Eisen hängt, sondern als etwas, mit dem ich Nägel einschlagen kann. Der Hammer ist Zeichen für eine Handlung, die ich ausführen könnte. (Der hodologische Raum kann sich je nach den Umständen verändern - für jemanden, der einen Nagel einschlagen möchte, aber keinen Hammer hat, präsentieren sich die Dinge, die ihm zur Verfügung stehen, als mehr oder weniger brauchbare Schlagwerkzeuge. Vertraute Dinge können uns so überraschende Seiten offenbaren.) - Jedes Utensil verweist - so Sartre - auf andere Utensilien, ein Hammer z. B. auf Nägel und die Nägel wiederum auf ein zu befestigendes Brett. In diesem Sinne verweisen die Dinge auch immer auf die Zukunft (die ja die Möglichkeit der Ausführung der betreffenden Handlungen ist). Nun hat die Reihe der aufeinander verweisenden Utensilien einen abstrakten Endpunkt, der ebenfalls der Körper ist. Denn der Hammer verweist auf meine Hand, die ihn benutzt und diese Hand ist kein weiteres Utensil, sondern mit mir identisch. Wer Nägel einschlägt, benutzt dafür einen Hammer, aber nicht seine Hand (womit sich Sartre im Widerspruch zum Alltagssprachgebrauch befindet). - Der Endpunkt der Reihe ist kein wahrgenommenes Ding mehr, ebensowenig wie das räumliche Zentrum der Dinge ein wahrgenommenes Ding ist. Der Körper wird vom Bewußtsein also (in seinem unverfälschten Bezug zu ihm) nicht erkannt, sondern ist immer nur ein etwas, auf das die Dinge durch die Art der Organisation, in der sie sich mir präsentieren, verweisen. Sartre findet für diesen Umstand noch eine weitere Formulierung: Der Körper ist für das Bewußtsein ein Gesichtspunkt, demgegenüber es keinen anderen Gesichtspunkt mehr einnehmen kann. Der Körper ist also auf einer Seite mit der Faktizität des Für-sich identisch, so wie diese Faktizität vom Für-sich gelebt wird. Auf dieser Ebene gibt es keine Physiologie des Körpers und auch keine Sinnesorgane, meine Augen z. B. sind mit dem Sehen identisch (Sartres Diskussion der Sinneswahrnehmung verschiebe ich in den nächsten Abschnitt). Solche Aspekte des Körpers zeigen sich erst, wenn der Körper als Objekt für einen anderen Menschen erscheint. - Während ich gegenüber meinem eigenen Körper grundsätzlich keinen Gesichtspunkt einnehmen kann, ist die Einnahme eines Gesichtspunktes gegenüber einem anderen Körper nach dem eben Gesagten notwendig. - Während mein eigener Körper Endpunkt in einer Reihe aufeinander verweisender Instrumente ist, und kein Werkzeug für mich, kann ich den Körper des Anderen als das Werkzeug des Anderen wahrnehmen: Der Andere sieht nicht einfach, sondern sieht mit seinen Augen. Der Andere ist aber kein Endpunkt der Utensilität, sondern wiederum Werkzeug für mich. Wenn ich mit einem Menschen angeregt spreche, gehört sein Körper vielleicht nur in den Bereich meiner Hintergrundwahrnehmung. Werde ich auf den Körper des Anderen plötzlich aufmerksam, erscheint er mir auf eine eigentümliche Weise, was Sartre so ausdrückt: Er erscheint mir als "Fleisch". - Wofür benötigen wir diesen neuen Begriff? Reicht es nicht, zu sagen, dass ich den Körper des Anderen sehen kann wie irgendein anderes Ding? - Doch Sartre meint, dass mir die Betrachtung eines menschlichen Körpers als Ding lediglich in einem Fall möglich ist, nämlich wenn es sich um eine Leiche handelt. Lebende menschliche Körper nehme ich auf eine ganz andere Weise wahr, nämlich bezogen auf das Handeln des Menschen. Letzteres ist das Primäre, z. B. sehe ich nicht etwa einen bewegten Arm, der an einem Torso befestigt ist, sondern einen Menschen, der die Hand hebt. Alle Teile eines anderen menschlichen Körpers nehme ich im Kontext einer handelnden Totalität wahr. Die Wut eines anderen Menschen ist - so Sartre in der Diskussion des Seins-für-Andere - nur eine Disposition für bestimmte Handlungen dieses Menschen. Im gegenwärtigen Kapitel fügt er hinzu: Wir schliessen nicht aus der Mimik des Anderen auf seine (innerliche) Wut, sondern wir sehen die Wut unmittelbar in seiner Mimik, die die Wut nicht etwa ausdrückt, sondern ist. - Sind diese beiden Behauptungen miteinander verträglich? Ich möchte das bezweifeln: Selbst wenn Sartre damit richtig liegen sollte, dass in unserem Erfassen fremder Wut ein "Innenleben" des Anderen keine Rolle spielt, kann eine besondere Mimik nicht mit einer Disposition für Handlungen identisch sein, sondern sie nur andeuten. Sartre denkt hier offenbar nicht an die Möglichkeit der Verstellung, also einer Wut-Mimik ohne Verbindung mit einer Wut-Disposition. - Doch Sartre besteht auf der zweiten Behauptung und verallgemeinert sie: Der Körper des anderen Menschen ist für mich mit seiner Psyche identisch, der Andere ist uns grundsätzlich "ohne Geheimnis" gegeben. Analog zu meinem Sein-für-Andere, das ja - wie wir uns erinnern - als temporäre Grenze meines Für-sich entsteht, wenn ich angeblickt werde und das Objekt, das ich für den Anderen bin, akzeptiere, kann im Erblicktwerden auch mein Körper Körper-für-Andere werden. So wie sich mir mein Für-sich im Sein-für-Andere zu einem Objekt entfremdet, entfremdet sich mir auch mein Körper-für-Andere. Der Zustand der Schüchternheit - so Sartre - geht wesentlich mit einem solchen entfremdeten Körpergefühl einher. - Der wesentliche Unterschied zwischen einem anderen Menschen oder Körper, der für mich Objekt wird, und dem Sein-für-Andere oder Körper-für-Andere, das sich in mir ausbildet, wenn ich mir bewußt bin, für einen anderen Menschen Objekt zu sein, besteht in der Unzugänglichkeit dieser Objekte für mich. Während ich natürlich weiss, welche Art Objekt der Andere für mich ist, weiss ich nicht, welche Art Objekt ich für den Anderen bin ("Oh Gott, ich bin sicher knallrot geworden und die Leute sehen das!"). Etwas kurz angebunden ist Sartre, wo es um die Möglichkeit gibt, dass ich meinen eigenen Körper (ohne Vermittlung eines Anderen) als Objekt erfasse. Dieser Fall liegt vor, wenn ich z. B. mit meiner einen Hand auf die andere Hand drücke, um mehr Druck auszuüben. Meine eine Hand verwendet also die andere als Werkzeug, und das setzt voraus, dass ich sie als Objekt erfasst habe. - Sartre konstatiert, dass es sich hierbei um ein kontingentes Randphänomen handelt, das keine besondere Erwähnung verdient, da sich Körper denken lassen, denen eine Sicht auf sich selbst unmöglich ist. Sinnesorgane und Sinnesempfindungen Wir hatten gesehen, dass mein Körper als unsichtbarer Endpunkt von Utensilitätsbeziehungen für mich kein Werkzeug sein kann. Und Sartre unterscheidet in dieser Hinsicht nicht zwischen dem Körper und seinen Teilen: Auch das Auge ist für mich kein Utensil, mit dem ich sehe, wie z. B. eine Brille oder ein Fernglas. Trotzdem ist es ziemlich verbreitet, die Sinnesorgane als Werkzeuge zur Erfassung der Welt zu interpretieren, die ihren Dienst mehr oder weniger gut verrichten, gelegentlich ausfallen und die man z. B. mit einer Brille oder einem Hörgerät "einstellen" oder "aufrüsten" kann. - Sartre hält diese Sichtweise für in Ordnung, so lange man weiss, dass sie einseitig ist, nämlich ausschließlich den Körper der Anderen betreffen kann, und nicht meinen eigenen. Probleme treten dann auf, wenn man sie für die einzige mögliche Sicht auf den Körper hält! Ein erstes Problem ergibt sich aus der Interpretation meines eigenen Körpers (bzw. seiner Teile und Organe) als Werkzeug, wenn ich mich nämlich frage, wer dieses Werkzeug wohl bedient. Sartre glaubt, dass man so automatisch auf das irrationale Konzept einer nicht-materiellen Seele kommt, die ein materielles Werkzeug benutzt. Ein weiteres Problem ist wissenschaftstheoretischer Natur, da die Wissenschaft den Körper-für-Andere verabsolutiert hat: Denn sie unterstellt, dass es eine objektive Welt gibt, die (durch Lichtwellen o. ä.) in den menschlichen Sinnesorganen Veränderungen provoziert, die wiederum Empfindungen hervorrufen. Da der Kontakt zur Welt durch die Sinnesorgane als Werkzeuge vermittelt wird, und diese Werkzeuge fehlerhaft und unzuverlässig sind, sind unsere Empfindungen gleichfalls unsicher, und das heisst, nur subjektiv, wie man in Laborexperimenten leicht zeigen kann: Z. B. hat sich herausgestellt, das Versuchspersonen ein und dieselbe objektive Lichtstärke als ganz unterschiedlich hell wahrnehmen können. - Was ist problematisch an dieser Auffassung? Zunächst einmal - so Sartre - ist der scheinbar klare Unterschied, der zwischen der Subjektivität der Empfindungen und der objektiven Weltbeschreibung durch die Wissenschaften besteht, nur Schein. Denn auch Wissenschaftler, die ihre Messskalen ablesen, benutzen dafür ihre Sinnesorgane. Woraus folgt, dass auch die wissenschaftliche Wahrheit auf Empfindungen basiert! Die Dualität subjektiv/objektiv ergibt sich erst dann, wenn Widersprüche auftreten. In diesem Falle müssen wir zwischen zwei unterschiedlichen Weltbeschreibungen, die beide auf Empfindungen basieren, wählen und degradieren die von uns abgelehnte Beschreibung zu der, die nur subjektiv ist, während wir die andere zur objektiven Wahrheit ernennen. - Wenn ich diese Sicht verabsolutiere (also den Körper ausschließlich als Körper-für-Andere betrachte) entsteht ein schwerwiegendes Problem: Die Objektivität der Wissenschaft basiert dann nämlich auf der von ihr beschriebenen Subjektivität der Empfindungen, was - wie Sartre meint - ihre Selbstaufhebung zur Folge haben muss. Der Körper-für-mich ist also unverzichtbar, und er muss im Begründungssystem der Wissenschaft an irgendeiner Stelle auftauchen. Sartre konstatiert ausserdem, dass sich Empfindungen im Cogito nicht aufweisen lassen: Ich habe keine Empfindung von "rot", wenn ich etwas Rotes sehe, sondern nehme einfach einen roten Gegenstand wahr. Der Begriff der Empfindung ist lediglich ein Konstrukt, dessen Erfordernis sich aus der Widersprüchlichkeit der Weltbeschreibungen ergibt. Aus diesem Grunde bezeichnet ihn Sartre als "bloße Psychologenträumerei". - Die Konsequenz aus der Leugnung der subjektiven Empfindungsebene ist übrigens, dass alle Wahrnehmungen gleichermassen objektiv sind, und Sartre ist wirklich dieser Auffassung: Der Kurzsichtige oder Farbenblinde nimmt die Welt nicht falsch war, sondern lebt in einer anderen Welt als der Normalsichtige. Nun ist der Begriff "Empfindung" in seiner alltäglichen Verwendung aber nicht auf den Bereich der sinnlichen Empfindungen (z. B. Farbempfindungen, Geruchsempfindungen, taktile Empfindungen usw.) eingeschränkt, sondern umfasst auch z. B. Schmerzen, die sich durchaus im Cogito aufweisen lassen. Diese Klasse, die Klasse der Körperempfindungen muss daher besonders behandelt werden. Der Körper ist meine Faktizität, d. h. er ist zwar an-sich, aber in einer Identitätsbeziehung mit dem Bewußtsein. Als solcher ist er mir nur implizit - als Gesichtspunkt oder Zentrum meiner Wahrnehmungen - gegeben, und nicht als Objekt der Welt. Erkennen und wahrnehmen kann ich lediglich den Körper der Anderen. Eine Verobjektivierung meines eigenen Körpers für mich ist zwar prinzipiell möglich, aber nur dadurch, dass ich ihn so betrachte, als wäre er der Körper eines Anderen. Einem Menschen, der noch nie einen anderen Menschen getroffen hat, wäre - so darf man aus Sartres Argumentation folgern - diese Betrachtungsweise unmöglich. Auf keinen Fall handelt es sich bei ihr um die ursprüngliche und eigentliche Art, in der mir mein Körper gegeben ist. Aus der schon erfolgten Beschreibung des unmittelbaren Verhältnisses zu meinem Körper (des Körpers-für-mich) läßt sich allerdings nicht entnehmen, dass es spezielle körperliche Empfindungen gibt, wie z. B. Schmerzen. Und stellt diese Tatsache Sartres Auffassung nicht in Frage - denn wird mir durch einen Schmerz nicht das schmerzende Körperteil als Objekt bewußt? Ist Schmerz nicht eine Art Wahrnehmung des Körpers durch mich? Unterscheiden sich z. B. Augenschmerzen und Magenschmerzen nicht gerade durch ihr Objekt? Sartre leugnet das. Wenn ich beim Lesen Augenschmerzen habe, nehme ich über diese Schmerzen nicht mein Auge wahr, sondern die Schmerzen sind der "Stoff meines Bewußtseins", während ich lese. Und er fügt hinzu: Sie sind jenseits aller Erkenntnis, weil sie der Erkenntnisakt selbst sind. - Wie müssen wir das verstehen? - Während ich lese, sind mir meine Augen lediglich indirekt als der räumliche Bezugspunkt meiner Wahrnehmung der Buchstaben gegeben. Ebenso indirekt sind mir - so Sartre - die schmerzhaften Augen gegeben, nämlich dadurch, das das Buch jetzt etwas ist, das möglichst schnell gelesen werden muss. - Ich versuche ein anderes Beispiel. Man stelle sich vor, dass jemand seit Stunden unter einem bewölkten Himmel durch unwegsames Gelände wandert. Da geschehen (nur aus Zufall zur selben Zeit) zwei Dinge: Zum einen reisst die Wolkendecke auf, und die Sonne kommt zum Vorschein. Zum Anderen merkt der Wanderer, dass seine Beine schmerzen. - Es ist nun naheliegend, das zweite Ereignis nach dem Muster des ersten zu interpretieren: So wie der Wanderer plötzlich die Sonne wahrnimmt, die für ihn bislang unsichtbar gewesen ist, nimmt er auch die Muskeln seiner Beine wahr. Sartre würde behaupten, dass das zweite Ereignis mit dem ersten nicht vergleichbar ist: Die Muskeln kommen dem Wanderer nicht deshalb ins Bewußtsein, weil er sie wahrnimmt, sondern weil ihm der Weg auf einmal länger oder schwieriger vorkommt. Die Schmerzen in den Beinen sind also der Stoff des Bewußtseins, das der Wanderer vom Weg hat! - Man könnte hier einwenden, dass es erfahrungsgemäß ziemlich häufig vorkommt, dass Schmerzen oder schmerzende Körperteile thematisiert werden. Der Wanderer könnte z. B. ausrufen: "Oh, diese schmerzenden Beine!" oder "Oh, was für ein schrecklicher Schmerz!" - Wäre es nach Sartres Auffassung nicht plausibler, dass man in solchen Fällen lediglich Sätze wie "Ach, was für ein anstrengender Weg!" äußert? Man vergisst bei diesem Einwand Sartres Unterscheidung der zwei Bewußtseinsebenen. Auf der unreflektierten Ebene gibt es für den Wanderer nur den Weg, der schwieriger zu laufen ist als vor einigen Stunden. Erst durch Reflexion auf das Bewußtsein vom Weg tritt ein psychisches Objekt Schmerz in Erscheinung, und diese Reflexion ist - wie Sartre meint - unrein, da im Cogito in Wahrheit lediglich eine besondere Qualität des Bewußtseins vom Weg (sein "Stoff") aufweisbar ist. Und erst wenn der Wanderer dann noch seinen Körper als Körper-für-Andere betrachtet, verweist das Objekt Schmerz auf weitere Objekte wie z. B. die Muskeln des Oberschenkels. - Die Ausrufe des Wanderers setzen also eine vorangegangene unreine Reflexion voraus. - Und die unreine Reflexion kann noch weitergehen und ein momentanes Objekt Schmerz als Erscheinung eines zeitübergreifenden Schmerzobjektes interpretieren, dass ich - wie die Sonne - manchmal wahrnehmen kann und manchmal nicht: "Da sind sie wieder, die verdammten Beinschmerzen!" Sartre beschäftigt sich mit einem weiteren Einwand: Kommt es nicht häufig vor, dass ich Schmerzen habe, die nichts mit meinem momentanen Handeln oder Wahrnehmen zu tun haben? Während ich lese, kann ich nicht nur Augenschmerzen sondern z. B. auch Fingerschmerzen haben. - Sartre glaubt den Einwand dadurch beiseite schieben zu können, dass er an die Unterscheidung von Wahrnehmungsvordergrund und -hintergrund erinnert, der seiner Ansicht nach eine Unterscheidung zwischen Körperlichkeitsvordergrund und -hintergrund korrespondiert. - Sartre meint damit ungefähr folgendes: Im Wahrnehmungsvordergrund befindet sich die Seite des Buches, das ich lese, im Wahrnehmungshintergrund befindet sich z. B. die Oberfläche des Schreibtisches, auf der meine Hand liegt. Diese Hintergrundwahrnehmung kann nun genauso eine Schmerzqualität haben wie die Vordergrundwahrnehmung. Man kann sich übrigens fragen, ob Sartres Standpunkt noch plausibel ist, wenn Schmerzen sehr stark und unbeeinflussbar sind und das Bewußtsein sozusagen ganz in Anspruch nehmen: Verschwindet in solchen Fällen die Welt nicht völlig hinter dem Schmerz? - Trotz solcher mit Sartres Auffassung verbundener Probleme glaube ich, dass die Diskussion des Körpers und der Empfindungen eine der interessantesten Passagen von "Das Sein und das Nichts" ist. In der "Einleitung" hatte Sartre angemerkt, dass es einen unmittelbaren Zugang zum Sein (zum Sein-an-sich) gibt, der z. B. in Langeweile oder Ekel bestehen kann. In der Diskussion des Körpers liefert Sartre die Erklärung nach: Wenn ich gerade keine Schmerzen oder andere explizite Körperempfindungen habe, bleibt, wie Sartre meint, immer noch eine Art "fader Beigeschmack" als die Grundqualität eines Bewußtseins, das keine besonderen Qualitäten hat (aus keinem besonderen "Stoff" besteht) und diese Empfindung ist der "Ekel". - Dieser Ekel ist nicht mit dem gewöhnlichen Ekel vor abstoßenden Dingen zu verwechseln, obwohl Sartre meint, dass er ihm zugrundeliegt. Aber inwiefern liefert mir der "Ekel" als eine Art allgemeines Körpergefühl einen unmittelbaren Zugang zum Sein-an-sich? (Dass der Zugang unmittelbar ist, heisst, dass er nicht über die Wahrnehmung von Dingen führt.) Wir müssen hier wieder daran denken, dass der Körper mit unserer Faktizität identisch, und das heisst, Sein-an-sich ist. - Trotzdem macht sich Sartre eines Selbstwiderspruchs schuldig: Die körperlichen Empfindungen sind nämlich gerade keine Wahrnehmungen, wie er betont. Der "Ekel" kann daher auch keine unmittelbare Wahrnehmung des Seins-an-sich sein. Wenn es sich aber nicht um eine Wahrnehmung handelt, ist nicht klar, inwieweit dadurch ein "Zugang" zu etwas geschaffen werden kann. - Dieser Zugang muss also mystischer Art sein. Die "Skizze einer Theorie der Emotionen" entstand vor "Das Sein und das Nichts", steht dem Werk aber so nahe, als wäre es ein Teil davon. Die darin vorgestellte Theorie wird von Sartre vorausgesetzt. - Aufgrund der Bedeutung des Themas für Sartres Behandlung der zwischenmenschlichen Beziehungen liefere ich hier eine kurze Zusammenfassung. Die Diskussion des Entsetzens (beim plötzlichen Anblick eines Gesichtes an der Fensterscheibe) lasse ich aus, da es sich dabei lediglich um eine Vorstufe zum Konzept des "Blicks" zu handeln scheint. - Als Vorbemerkung: Emotionen/Gefühle unterscheiden sich von Empfindungen dadurch, dass sie in ihrer Erlebnisqualität keinen Bezug zum Körper haben. Schmerzen sitzen z. B. im Bein, Übelkeit spürt man im Bauch oder auch im ganzen Körper, und Sehempfindungen (wir wissen unterdessen, dass es sie nicht gibt) sind Empfindungen des Auges. Wut oder Depression, Eifersucht oder Freude sind subjektiv hingegen weder mit einem Körperteil verknüpft noch mit dem ganzen Körper (obwohl sie mit körperlichen Begleiterscheinungen einhergehen können, wie z. B. mit Zittern und Gesichtsröte im Falle der Wut). Sartre sieht den Hauptfehler der meisten Theorien über Emotionen in dem Umstand, dass sie das Bewußtsein von Gefühlen auf der reflexiven Ebene ansiedeln. Wir erinnern uns, dass psychische Gegenstände überhaupt erst auf dieser Ebene durch unreine Reflexion entstehen - ein ähnlicher Prozess führt nach Sartres Einschätzung dazu, dass wir von unserer Wut oder unseren Depressionen sprechen können. - Die Emotion als psychischer Gegenstand erscheint uns so (und wird von den fraglichen Theorien so vorausgesetzt), als wäre sie ein zwar durch Weltereignisse ausgelöster, aber prinzipiell autonomer Zustand. In Wahrheit - so Sartre - existiert die Emotion jedoch keineswegs unabhängig von der Welt. Auf der unreflektierten Ebene habe ich nämlich keinen Hass auf eine bestimmte Person, sondern nehme eine Person als hassenswert dar, eine Situation als beängstigend oder deprimierend: Die Emotion betrifft das Erscheinen der Dinge. Sartre sagt noch weiteres über die präreflexive Bewußtseinsebene, was wir so ähnlich bereits kennen: Es gibt auf ihr weder Handlungen noch ein handelndes Ich. Stattdessen gibt es objektive Forderungen und objektive Hindernisse, diese Forderungen zu verwirklichen. Selbst wenn ich zwischen Handlungsmöglichkeiten zu wählen gezwungen bin, ist das auf der präreflexiven Ebene keine von mir ausgeführte Wahl, sondern nur ein Kampf zwischen meinen Möglichkeiten (den objektiven Forderungen) selbst, wobei sich die von mir später realisierte als die stärkere erweist. - Doch was geschieht auf der präreflexiven Ebene in dem ungünstigen Fall, wenn ich plötzlich nur noch Hindernisse um mich sehe, und die Forderungen der Welt unerfüllbar zu sein scheinen? An dieser Stelle - so Sartre - entsteht die Emotion. Wenn die Forderungen, mit denen ich konfrontiert bin, nicht erfüllen kann, bleibt mir - so Sartre - nur noch ein Ausweg (der etwas schäbig ist): Ich verändere die so unfreundliche Welt in eine, in der die Forderungen nicht mehr erfüllt werden müssen. Die Emotion ist nichts anderes als der Aufenthalt in einer so veränderten Welt. - Wie man sich das vorzustellen hat, ergibt sich aus Sartres Beschreibung einiger Einzelgefühle. Was geschieht z. B., wenn ich Furcht habe? Ich bringe die Welt, deren Gefahr ich nicht entkommen kann, zum Verschwinden indem ich fliehe oder ohnmächtig werde. - Hingegen verändere ich, wenn ich depressiv bin, die Welt in eine, in der alles gleichgültig ist. Das klingt einleuchtender, wenn man berücksichtigt, was Sartre für den Anlass einer Depression hält: Depressiv werde ich, wenn (z. B. aufgrund eines Todesfalles) alte und vertraute Handlungsmöglichkeiten wegfallen und ich gezwungen bin, nach neuen Ausschau zu halten. Dieser unangenehmen Aufgabe gehe ich aus dem Weg, indem ich mich in eine Welt zurückziehe, in der alles Handeln gleichermassen absurd ist (es handelt sich hier offenbar um eine Flucht vor der "Angst"). Die Erklärung der Wut hält Sartre für so naheliegend, dass er sie dem Leser überläßt. Ich halte diesen Optimismus für ungerechtfertigt und stelle zwei Möglichkeiten zur Auswahl, wobei die erste den aggressiven Aspekt der Wut betont und die zweite die darin implizierte Abneigung: Entweder meint Sartre, dass die Wut in einer gewissen Ähnlichkeit zum Furchtverhalten z. B. darin besteht, dass ich meine Probleme im Umgang mit dem Computer (die auf meine fehlenden Kenntnisse zurückgehen) dadurch zu beseitigen glaube, dass ich mein Gerät aus dem Fenster werfe. Die andere Möglichkeit wäre, dass die Wut analog zur Depression auf Angstvermeidung hinausläuft: Meine Probleme liegen ausserhalb meiner Verantwortung, da die magisch gewordene Welt von bösartigen Objekten wie diesem Rechner bevölkert ist, die alle Schuld tragen und deren Charakter man nicht ändern kann. Noch schwieriger ist Sartres Erklärung der Freude, denn scheinbar unterscheidet sie sich dadurch von den drei schon erwähnten Gefühlen, dass sie keine Abwehrreakton gegen eine Bedrohung ist. - Sartres Erklärung läuft darauf hinaus, dass er doch eine Bedrohung feststellt. Zunächst unterscheidet er zwei Arten von Freude: Zum einen gibt es die "stille" Freude an der Gegenwart. Diese hat - so Sartre - keinen emotionalen Charakter, sondern stellt lediglich eine Art Gleichgewicht dar (an grundlos euphorische Zustände denkt Sartre offenbar nicht). Zum anderen gibt es die Freude, die entsteht, wenn ich darüber in Kenntnis gesetzt werde, dass ich einen begehrten Gegenstand wirklich bekommen werde, und bei dieser Freude (die man als "Vorfreude" bezeichnen könnte) handelt es sich tatsächlich um ein Gefühl. Gegen welche Bedrohung stellt die Vorfreude eine Gegenwehr dar? - Erinnern wir uns an die "ontologische Enttäuschung", die uns - so Sartre - überfällt, wenn wir eine Begierde gestillt haben. Ursprung dieser Frustration ist, dass der "Wert", der das eigentliche Ziel der Begierde war, nicht erreicht wird. Woraus folgt, dass kein begehrter Gegenstand uns jemals wirklich zufriedenstellen kann. Zu dieser prinzipiellen Aussichtslosigkeit treten die praktischen Probleme, die der Besitz des Gegenstandes evt. stellt, bevor er seine eigentlichen Früchte trägt: Geld, dass ich bekomme, muss ich anlegen oder ausgeben, mit einer geliebten Frau, die mich erhört hat, muss ich zusammenleben, usw. - Und genau gegen diese Einsichten wehre ich mich durch meine Vorfreude! Die Vorfreude lässt die Welt so erscheinen, als hätte ich den begehrten Gegenstand bereits in Besitz und zwar ohne Verzögerung und ohne ontologische Enttäuschung, sondern als das, was er für mich sein sollte. Die Welten des depressiven, ängstlichen, sich freuenden und des zornigen Menschen unterscheiden sich zwar deutlich voneinander, haben aber auch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Diese besteht - so Sartre - darin, dass die gewöhnliche Kausalität aufgehoben ist. Die spiegelt sich normalerweise in dem Umstand, dass mir Welt als aus Utensilien bestehend erscheint, die von mir benutzt werden können, weil sie eine Einwirkung zulassen und sich auf eine bestimmte vorhersehbare Weise verhalten. Eine solche Ordnung existiert in den emotionalen Welten nicht mehr, weswegen Sartre sie als "magische" Welten bezeichnet. - Im Falle der Furcht besteht der magische Charakter der Welt darin, dass man in ihr einen bedrohlichen Gegenstand durch Nicht-Wahrnehmung zum Verschwinden bringen kann (durch Ohnmacht, oder indem ich mir durch Flucht oder Schliessen der Augen die Sicht darauf entziehe). - In der Welt der Wut, wenn wir von meiner ersten Interpretation ausgehen, ist die magische Beseitigung von Problemen durch Beseitigung von Gegenständen, die mit dem Problem im Zusammenhang stehen, möglich. - In der Depression wurde die Welt auf magische Weise ihres Forderungscharakters entkleidet und die Welt des Freudigen ist schliesslich eine, in der der begehrte und angekündigte Gegenstand auf magische Weise bereits da ist. Da das Bewußtsein nach Sartres Ansicht die Emotionen hervorbringt - sie erfüllen ja eine bestimmte Funktion - stellen sich zwei Fragen: Warum sind Gefühle häufig quälend, wenn sie doch eine beabsichtigte Funktion erfüllen, und warum können Gefühle von uns nicht ohne weiteres beseitigt werden? Die Antwort auf die erste Frage lautet, dass die Welt des Emotionalen zwar die Funktion erfüllt, die sie erfüllen soll, aber das Leben in einer solchen Welt unangenehme Nebenwirkungen haben kann. So befreit die Welt des Depressiven diesen zwar von seiner Verantwortung im Hinblick auf die Probleme, die Auslöser der Depression waren, lässt aber auch keine Hoffnung mehr zu, da in ihr alle Entscheidungen und alle Handlungen sinnlos sind. - Was die scheinbare Unbeeinflussbarkeit unserer Gefühle durch uns angeht, ist Sartres Antwort komplizierter: Zwar habe ich selbst meine Welt geändert, lebe aber tatsächlich in ihr - ich glaube an ihre Existenz. Ich bin - so Sartre - in diesem Glauben gefangen, wie in einem Traum und das ist, wie er meint, nicht weiter verwunderlich, weil ich mich ja auf der präreflexiven Ebene befinde und das Bewußtsein "ohne Reflexionsakt nicht dasjenige verneinen kann, was es gleichzeitig setzt". (wobei Sartre zu übersehen scheint, dass auch die normale Welt eine Setzung des Bewußtseins ist, die ja mit der Schaffung der neuen Welt verneint wurde) - Woraus folgt, dass die Reflexion (abgesehen von einer totalen Änderung der Situation) das einzige Mittel sein kann, um die Emotion zu bekämpfen. Doch die normale, unreine Reflexion kann dazu nicht verwendet werden, da sie die Emotion als eigenständige Entität missversteht und so gerade ihre Unbeeinflussbarkeit zementiert. Die Reflexion muss also reine Reflexion sein, und dass heisst z. B., dass sich der Depressive klarmachen muss, dass er sich in einer von ihm selbst funktional veränderten Welt befindet. (Was darauf hinausläuft, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass vor Sartre jemand beispielsweise seine Furcht besiegen konnte: Denn seine Erklärung der Furcht ist neu und Sartre daher vermutlich der Erste, der seine Reflexion so weit reinigen konnte, um auf sie zu stoßen.) Man kann an Sartre die Frage stellen, wie sich die Angst (in seinem Sinne) in seiner Theorie verorten lässt. Gefühle haben gemäß der Theorie einen wesentlich unauthentischen Charakter, sie sind realitätsverleugnend. Die Angst (wenn sie denn ein Gefühl ist) müsste dann das einzige authentische Gefühl sein, da sich z. B. die Depression im Rahmen der Argumentation als Flucht vor der Angst darstellt. Oder sind die Welten der Emotionalen gleichwertig mit den normalen Welten (denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch die gewöhnliche Welt im Sinne Sartres letztlich durch Injektion seines Nichts vom Subjekt gemacht wird)? - Es drängen sich noch mehr Einwände auf, die ich hier nicht erwähne: Die Argumentation Sartres in der "Skizze einer Theorie der Emotionen" scheint insgesamt eine seiner schwächeren zu sein. - Man muss sich klar machen, welche Funktion die Theorie im Rahmen von Sartres Gesamtargumentation hat: Emotionen (die uns "überfallen", denen wir "ausgeliefert" sind) scheinen ein starkes Gegenargument gegen Sartres Behauptung der totalen Spontaneität des Bewußtseins zu liefern. Die Theorie versucht das Argument zu entkräften, indem sie Emotionen als Erzeugnis der Bewußtseinsspontaneität erklärt. Die konkreten Beziehungen zu Anderen Die Analyse des "Blicks" hatte gezeigt, dass ich in der direkten Konfontation mit einem anderen Menschen nur zwei Haltungen einnehmen kann, die sich gegenseitig ausschliessen: Entweder ich sehe ihn als Objekt, das Teil meiner Utensilienwelt ist, oder ich bin seinem "Blick" unterworfen und das heisst, werde selber zum Objekt für den Anderen und bin ihm ausgeliefert. In letzterem Falle bildet mein Für-sich als Grenze zu der anderen Freiheit das Sein-für-Andere aus - das Objekt, das ich für den Anderen bin, aber in mir als entfremdetes Selbst. - Dieses dichotomische Schema ist die Grundlage für die konkreten Beziehungen zu anderen Menschen (unter welchen Begriff für Sartre z. B. die sexuelle Begierde nebst Varianten, die Liebe oder die Gleichgültigkeit fallen). Bislang war der einzige von Sartre erwähnte Ausweg aus der gefährlichen Situation des Angeblicktwerdens der Wechsel zur zweiten Haltung, d. h. die Degradierung des Anderen zum Objekt für mich, erreicht dadurch, dass ich ihn meinerseits anblicke. Hier führt er eine zweite Möglichkeit ein, mit dem "Blick" umzugehen: Während ich beim Wechsel mein Sein-für-Andere verschwinden lasse, geht es hier darum, es für meine eigenen Zwecke zu verwenden. Doch welchen Nutzen könnte mein entfremdetes Selbst für mich haben? - Nun, wir wissen, dass das Für-sich mit allem, was es tut, letztlich versucht, den "Wert" zu verwirklichen, also ein durch sich selbst begründeter und damit gottgleicher Bastard aus An-sich und Für-sich zu werden. Das Sein-für-Andere liefert dem Für-sich den Anlass zu einem weiteren (gleichfalls scheiternden) Versuch, dieses Ziel zu erreichen: Das Sein-für-Andere - so denkt es -, obwohl entfremdet, ist ja immerhin ich. Warum versuche ich nicht, dieses Objekt meiner Freiheit zu unterwerfen und mich auf diese Weise selbst zu begründen? Doch es ist klar, dass das nur möglich ist, wenn das Objekt dabei erhalten bleibt. Der Andere darf für mich also keineswegs selbst Objekt werden (denn sonst löst sich mein Objekt-Ich auf), sondern ich muss weiterhin der Angeblickte bleiben. Gleichzeitig aber muss die Freiheit des Anderen, vor der ich mich verobjektiviert habe, meiner Freiheit unterworfen werden, so dass ich über einen Umweg mein Sein-für-Andere selbst bestimmen (und damit begründen) kann! - Sartre bezeichnet das als Versuch einer Assimilation der Freiheit des Anderen. - Wie werden sehen, wie sich dieser Versuch in der Praxis darstellt, und warum er scheitert. Das Ideal der Liebe und die Sprache Im Deutschen unterscheidet man zwischen Liebe und Verliebtheit (obwohl "Liebe" im Alltag häufig im Sinne von "Verliebtheit" verwendet wird - das Geständnis "ich liebe dich" müsste in den meisten Fällen korrekter "ich bin verliebt in dich" lauten). Liebe hat einen langfristigen Charakter, sie stellt wesentlich eine Disposition für bestimmte Handlungsweisen dar: Deshalb ist es möglich, dass ich selbst fälschlich annehme, jemanden zu lieben, während Andere erkennen, dass es nicht so ist (weil sie z. B. einen genaueren Überblick darüber haben, wie oft ich mich gegenüber dem angeblich geliebten Menschen unsolidarisch verhalte), während ich über meine Verliebtheit besser orientiert bin als die Anderen. Liebe ist daher - worauf Wittgenstein hinwies - objektiv testbar im Sinne der Liebesproben in den Stücken Shakespeares. - Aus Sartres Text geht hervor, dass er, wenn er hier von Liebe spricht, eher die akute Verliebtheit mit ihrem Ideal und ihren Handlungsweisen meint und nicht z. B. die Liebe eines älteren Ehepaars. Das Ideal der Liebe - so Sartre - ist die eben beschriebene Assimilation der Freiheit des Anderen. (Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit der Assimilation durch Verschmelzung zweier Bewußtseine, die mir zu drohen scheint, wenn ich "angeblickt" werde.) - Was meint das genau? Wir haben gesehen, dass der Versuch darauf abzielt, die Freiheit des Anderen von meiner Freiheit abhängig zu machen, ohne sie zu zerstören. Wie Sartre sagt: Ich will den Anderen nicht einfach beherrschen (das könnte ich auch, wenn ich von ihm gehasst werde), indem ich seine Freiheit beschränke, sondern will, dass der Andere seine Freiheit selbst beschränkt, und zwar in meinem Sinne. Nur so kann ich mir das Erblicktwerden durch ihn erhalten und damit mein Sein-für-ihn, das ich ja nicht vernichten, sondern lediglich kontrollieren will. - In diesem Zusammenhang legt Sartre Wert auf die Feststellung, dass Liebe über den blossen Wunsch nach sexuellem Verkehr hinausgeht: Letzteren könnte ich z. B. auf irgendeine Art zu erkaufen versuchen, eine Vorstellung, die dem Liebenden völlig fernliegt. Nun könnte man meinen, dass der Liebende mit einer freien Entscheidung des Geliebten, ihn zu lieben, völlig zufrieden sein müsste (es ist hier nicht von Belang, ob eine solche Entscheidung überhaupt möglich ist). Warum wirkt dieser Gedanke befremdlich? Offenbar ist die Freiheit des Geliebten im Falle einer solchen Entscheidung noch zu frei für die Zwecke des Liebenden. Sartre drückt das so aus: Der Liebende will zwar von einer Freiheit geliebt werden, aber von einer Freiheit, die nicht mehr frei ist. Der Geliebte soll sich seiner Leidenschaft für den Liebenden unterwerfen, die dann sein Bild von ihm bestimmt (worauf es dem Liebenden ja ankommt), und frei soll er nur insofern bleiben, als seine Unterwerfung freiwillig ist. - (Wir können hier schon ahnen, warum der Versuch des Liebenden zum Scheitern verurteilt ist.) Da der Liebende einerseits für den Geliebten Objekt bleiben will (der Geliebte soll ihn weiterhin anblicken), muss, wenn sich andererseits der Geliebte einer Leidenschaft für dieses Objekt unterwerfen soll, das Objekt für den Geliebten vollkommen faszinierend, letzter Zweck für den Geliebten sein. Die Taktiken des Liebenden laufen demgemäß darauf hinaus, sich zu einem solchen absoluten Objekt zu machen. Der Liebende will für den Geliebten "ein und alles" werden - das heisst, er will die Welt als die Gesamtheit der Objekte durch sich ersetzen, so dass es für den Geliebten kein anderes Objekt als ihn mehr geben kann. Wenn das gelungen ist, hat er sein Ziel erreicht: Als höchster Zweck für den Anderen schwebt er nicht mehr in der Gefahr, von ihm als Instrument für unbekannte Zwecke benutzt zu werden - der "Blick" hat seine Bedrohlichkeit verloren. Gleichzeitig hat der Liebende eine Begründung bekommen, seine Faktizität ist jetzt durch einen Zweck gerechtfertigt. Und diese Begründung ist - da der Liebende sich ja selbst so faszinierend gemacht hat - letztlich eine Begründung durch sich selbst! Bevor wir zu den Faktoren kommen, die dafür sorgen, dass dieser schöne Zustand doch nicht erreicht werden kann, muss noch kurz dargelegt werden, welche Rolle im Spiel nach Sartres Auffassung der Sprache zukommt. Er definiert sie als die Gesamtheit der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten, sowohl der sprachlichen im engeren Sinne als auch der körperlichen. Als solche ist sie - so Sartre - mit meinem Sein-für-Andere identisch. Der Ausdruck ist also zunächst unwillkürlich (alle meine Handlungen sind in diesem Sinne Ausdruckshandlungen), und wird erst sekundär von mir als Instrument verwendet - im Falle der Liebe dadurch, dass ich mich der Sprache der Verführung bediene, deren Zweck es ist, Faszination hervorzurufen. Zu Beginn meines Vorhabens verfahre ich dabei blind, da der Andere aus meinen Gebärden und Worten ja frei sein Bild von mir zusammensetzt. - Es ist interessant, dass Sartre hier die Sprache der Verführung (also die bewußte, planvolle Verführung) erwähnt, aber nicht den häufigen Fall, dass ich den Anderen schon durch meine blosse äußere Erscheinung hinreichend fasziniere. (Vielleicht würde er das als "kontingentes Randphänomen" bezeichnen.) Die Gründe dafür scheinen biographischer Natur: Sartre war - wie er in den Kriegstagebüchern selbst beschreibt - darauf beschränkt, Frauen durch Sprechen für sich einzunehmen und scheiterte, wenn ihm (wie während seines Deutschland-Aufenthaltes Anfang der 30er Jahre) die nötige Sprachgewandheit fehlte. Wie verhält sich die Liebe zum Stolz? Der Stolz war für Sartre ein unaufrichtiger Umgang mit der durch den "Blick" hervorgerufenen Scham, unaufrichtig deshalb, weil man sich unterstellt, den Anderen durch sein Objekt-Ich zu manipulieren - was unmöglich ist, da man den Anderen zum Objekt machen muss, um ihn zu manipulieren, und er Subjekt bleiben muss, damit mein Objekt-Ich (mein Sein-für-Andere) erhalten bleibt (wir haben gesehen, dass sich "Angeblicktwerden" und "Anblicken" gegenseitig ausschliessen). - Aber trifft diese Kennzeichnung nicht genau auf die Liebe zu? Versucht der Liebende, der die Sprache der Verführung verwendet, nicht genau die Manipulation desjenigen, der ihn anblickt? - Offenbar ist es im Rahmen von Sartres Argumentation nicht leicht, die beiden Phänomene voneinander abzugrenzen. Und während der Stolz von vorneherein unmöglich ist (die Annahme, dass ich den Anderen manipuliere, ist nur Schlechter Glaube und lenkt mich von meiner Unfähigkeit ab, das Objekt-Ich zu kontrollieren), scheint die Manipulation im Falle der Liebe möglich zu sein. Das Scheitern der Liebe, ihr Nutzen und ihre Gefährdung Wer liebt, will die Freiheit des Anderen zum Zwecke der indirekten Selbstbegründung für sich erobern. Worauf läuft das hinaus? Es läuft darauf hinaus, den Anderen dazu zu verführen, ihn zu lieben. Und was heisst das, dass der Andere mich liebt? Es heisst, dass er versuchen wird, wiederum meine Liebe zu erregen (bzw. zu erhalten). Wie Sartre sagt: "Lieben ist der Entwurf, zu machen, dass man geliebt wird." - Man beachte, dass es sich dabei um einen freien Entwurf handelt: Ohne den Entschluss des Anderen bleibt die von der Verführung hervorgerufene Faszination nur Faszination (wie z. B. die Faszination durch einen Künstler). - Die Manipulation kann sozusagen die richtige Atmosphäre für den Liebesentwurf erzeugen, aber nicht seine Ursache sein. Sie kann den Liebenden als absolutes Objekt empfehlen, aber es keineswegs erzwingen, dass der Geliebte auf diese Empfehlung hört. Wie man leicht sieht, hat das so entstandene Liebespaar (Sartres Argumentation vorausgesetzt) ein Problem: Jeder Liebende will den Geliebten als Freiheit erhalten und selbst faszinierendes Objekt für diese Freiheit sein. Wenn der Geliebte aber im Gegenzug versucht, für den Liebenden angeblicktes faszinierendes Objekt zu sein, verzichtet er in dieser Hinsicht auf seine Freiheit. Er kann also nicht mehr für die Selbstbegründung des Liebenden sorgen, da die Freiheit, für die der Liebende höchster Zweck sein will, plötzlich Objekt geworden ist! - Die voneinander faszinierten Liebenden gehen also, was das ontologische Ziel der Liebe angeht, leer aus. Die Verwirklichung des "Wertes" durch das Liebesprojekt scheitert. Gerade wenn die Manipulation geglückt ist, und der Andere mich endlich liebt, erlebe ich die Enttäuschung, dass damit auch seine Souveränität schwindet. Sollte man daraus schliessen, dass es besser ist, Liebesärger und -arbeit aus dem Weg zu gehen, und die Entwürfe auf die Verwirklichung sexueller Wünsche zu beschränken? Sartre ist glücklicherweise nicht dieser Meinung. Trotz ihres ontologischen Scheiterns und der mit diesem einhergehenden grundsätzlichen Unbefriedigung hat die Liebe einen Mehrwert für das Liebespaar: Beide sind vor dem "Blick" des jeweils Anderen geschützt. Solange beide Teile füreinander der höchste Zweck sind, ist ihre Instrumentalisierung für andere Zwecke des jeweils Anderen ausgeschlossen. - Aber die Stabilität dieses Zustandes ist mehreren Bedrohungen ausgesetzt: Zum einen sind die Liebenden auch in ihrer Faszination durch den jeweils Anderen immer noch freie Bewußtseine. Jederzeit kann es also geschehen, dass einer der beiden zum gewöhnlichen, verobjektivierenden "Blick" auf den Partner zurückkehrt (seine Liebe verliert) und den Anderen zum Utensil degradiert. - Zum anderen kann das labile System durch das Hinzutreten eines weiteren Menschen gefährdet sein: Wenn dieser das Liebespaar "anblickt", werden nicht nur beide Partner für ihn Objekte, sondern auch ihre Liebesbeziehung. Und abgesehen von der Möglichkeit, dass der dritte Mensch versuchen könnte, das Paar auseinanderzumanipulieren, hat seine Anwesenheit die Konsequenz, dass sich die Liebenden von ihm angeblickt fühlen und sich in ihnen daher ein Objekt-Ich für ihn (ein Sein-für-ihn) herausbildet. Die entstehende Unsicherheit - "Wie sieht der Betreffende mich und meine Liebe?" - stellt eine weitere Bedrohung dar. Es gibt, so Sartre, neben der Liebe noch ein zweites Phänomen der Zwischenmenschlichkeit, in dem versucht wird, das Objekt-Sein für den Anderen auszubeuten. Während der Liebende bemüht ist, über sein Sein-für-den-Anderen dessen Freiheit unter Kontrolle zu bringen, wobei natürlich die eigene Freiheit noch im Spiel ist, versucht der Masochist, sich seiner Freiheit gänzlich zu entkleiden und sich auf das Objekt-für-den-Anderen zu reduzieren. Dieses Objekt soll den Anderen nicht faszinieren bzw. in ihm Liebe erregen, sondern ist instrumentell: Der Andere soll den Masochisten wie ein Werkzeug benutzen. - Worauf zielt diese maximale Unterordnung ab? Indem der Masochist seine eigene Freiheit völlig verleugnet, identifiziert er sich mit der Freiheit des Anderen. Die Freiheit des Anderen fällt also mit der eigenen Freiheit zusammen: Dadurch, dass der Masochist Werkzeug für eine Freiheit ist, die mit seiner (scheinbar) identisch geworden ist, erhält er also einen Seinsgrund! - Wie jedes menschliche Verhalten zielt auch der Masochismus auf die Selbstbegründung ab. Wir können erwarten, dass Sartre den Masochismus gleichfalls für ein aussichtsloses Unternehmen hält. Und in der Tat: Es ist mir unmöglich, mich gänzlich mit meinem Objekt-für-den-Anderen und damit mit der Freiheit des Anderen zu identifizieren. Ich bleibe freies Für-sich und überschreite dieses Objekt mit meiner eigenen Freiheit. Das zeigt sich in der Absurdität der Tatsache, dass der Masochist den Anderen manipulieren und dass heisst ihn selbst als instrumentelles Objekt behandeln muss, damit dieser ihn als instrumentelles Objekt behandelt. (Ein Vorgang, der sich z. B. abspielt, wenn ein Freier die Dienste einer Domina erwirbt.) Nach dieser Erklärung könnte man vermuten, dass Sartre die sexuelle Komponente des Masochismus ignoriert, da er sie nicht erwähnt: Bei der nachfolgenden Diskussion des sexuellen Begehrens wird Sartre darauf zurückkommen. - Was haben Liebe und Masochismus miteinander gemein? Dass der Ausgangspunkt der Versuche das Objekt-Ich für den Anderen ist, das Bewußtsein sich aber im Scheitern der Versuche als freies Ich - also als Subjekt - wiederfindet. Sartre behandelt nun eine Reihe weiterer Versuche, die Selbstbegründung durch Kontakt mit dem Anderen zu erreichen, deren Ausgangsposition das freie Subjekt ist. Biologische vs. ontologische Sexualität Sartre versucht zunächst, einen Einwand gegen eine ontologische Erklärung der Sexualität zu entkräften, der auf der Hand liegt: Ist die Sexualität des Menschen nicht ganz offensichtlich von seiner Biologie abhängig? Macht nicht z. B. die für Männer und Frauen unterschiedliche Art des sexuellen Begehrens eine Erklärung aus der kontingenten biologischen Geschlechtszugehörigkeit unausweichlich? Handelt es sich daher bei der Libido nicht um eine Komponente des Psychischen, die aus einer ontologischen Beschreibung des Menschen ausgeklammert werden muss? (Sartre meint, dass Heidegger aus diesem Grund den Menschen so beschreibt, als wäre er geschlechtslos.) Man sieht sofort, dass der Einwand für Sartres Auffassung des Bewußtseins kritisch ist. Die totale Spontaneität des Bewußtseins ist mit einer biologischen Natur der Libido nicht verträglich: Die Sexualität wäre ein fremdverursachter und damit opaker Fremdkörper in der Transluzidität des Bewußtseins, was nach Sartres Auffassung schon prinzipiell unmöglich ist, da es im Bewußtsein nichts Unbewußtes geben kann. - Sartres Gegenthese zeigt, wie weit seine Auffassung vom üblichen naturwissenschaftlichen Weltbild entfernt liegt und rückt sie in die Nähe idealistischer Naturphilosophie: Wir haben - so sagt er - nicht zuerst Sinnesorgane, die uns dann den Kontakt zur Welt ermöglichen, sondern das Bewußtseins ist (man erinnere sich an den "ontologischen Beweis") unmittelbar auf das An-sich bezogen und ohne diesen Bezug gar nicht denkbar. Die Sinnesorgane sind daher Produkt der ontologischen Grundbeziehung von Für-sich und An-sich! - Das Bewußtsein steht wesentlich in Kontakt mit dem bewußtseinsunabhängigen Sein, und es ist genauso wesentlich Körper (da ein Bewußtsein von der Welt ohne Gesichtspunkt unmöglich ist). Woraus sich - das ist Sartres Ansicht - das Vorhandensein von Sinnesorganen zwingend ergibt. - Für die Geschlechtsorgane gilt nun genau dasselbe: Die Sexualität als zwischenmenschliche Haltung ergibt sich notwendig aus der Ontologie des Bewußtseins (was das heisst, werden wir gleich erfahren), so dass mit der gleichen Notwendigkeit auch Sexualorgane vorhanden sein müssen. Es gehört zur Natur des Bewußtseins, einen Körper zu haben (oder: ein Körper zu sein), der nicht nur über Sinnesorgane, sondern auch über Sexualorgane verfügt! Woraus folgt, dass ein Fehlen oder Versagen der Sexualorgane die Sexualität des Bewußtseins nicht zum Verschwinden bringen kann. Und Sartre ist dieser Ansicht: Kinder, Alte und Eunuchen seien genauso sexuell wie erwachsene Menschen mit voll funktionsfähigen Sexualorganen. - Ob das mit der Empirie verträglich ist, sei dahingestellt, man mache sich aber klar, dass Sartres These die Implikation hat, dass der Zustand der Sexualorgane die Sexualität des Bewußtseins nicht nur nicht bedingen, sondern auch nicht beeinflussen kann. Die Veränderung der Libido während der Pubertät dürfte also, wenn wir Sartre ernstnehmen, gleichfalls nicht auf die Biologie zurückgeführt werden! - Ich möchte noch darauf hinweisen, dass Sartre konsequenterweise den Fortpflanzungszweck der Sexualität mit keinem Wort erwähnt. Ontologie der sexuellen Begierde Was meint Sartre, wenn er die von ihm beschriebenen zwischenmenschlichen Phänomene zur ontologischen Struktur des Bewußtseins rechnet? Nun, es entspricht unserer ontologischen Natur, den "Wert" anzustreben und es entspricht ausserdem unserer ontologischen Natur, dass uns grundsätzlich nur zwei Grundhaltungen gegenüber anderen Menschen möglich sind - der "Blick" oder das "Angeblicktwerden". Doch diese Struktur hat für Sartre keineswegs einen starr determinierenden Charakter. Es ist z. B. nicht so, dass wir notwendigerweise in bestimmten Fällen die Liebe als Mittel zur Verwirklichung des "Wertes" einsetzen und in anderen den Masochismus, sondern im Rahmen der Struktur, die uns dazu zwingt, überhaupt eine Haltung gegenüber dem Anderen einzunehmen, sind wir frei, die Haltung zu wählen. - Sartre nimmt an, dass uns die ontologische Enttäuschung über das Scheitern einer Haltung dazu veranlassen kann, eine andere auszuprobieren. Neben der Verwirklichung des "Wertes" gibt es einen zweiten ontologischen Sinn zwischenmenschlicher Verhaltensweisen. Wir wissen, dass das "Angeblicktwerden" für uns eine Gefahrenquelle darstellt: Die Freiheit des Anderen bedroht uns, weil sie uns einen für uns selbst nicht kontrollierbaren Objektcharakter verleiht. Unser Verhalten gegenüber dem Anderen ist demnach immer auch vom dem Zweck bestimmt, diese Freiheit des Anderen für uns unschädlich zu machen, auch wenn es nicht gelingt, sie für die Selbstbegründung auszunutzen (wir erinnern uns, dass die Liebe diese Unschädlichmachung wenigstens vorläufig erreicht). - Wie steht es in dieser Hinsicht um den ontologischen Sinn der sexuellen Begierde? Wir werden sehen, dass es hier hauptsächlich um den zweiten Aspekt geht. Der gemeinsame Ausgangspunkt für die Versuche Liebe und Masochismus ist, wie erwähnt, das Objekt-sein für den Anderen. Die sexuelle Begierde gehört dagegen wie Sadismus, Gleichgültigkeit und Hass zu den zwischenmenschlichen Haltungen, die den alternativen Ausgangspunkt des freien Subjektes einnehmen. (Es kann lediglich diese zwei Ausgangspunkte geben, sie entsprechen der Dichotomie "Angeblicktwerden" und "Anblicken".) - Doch warum ergeben sich aus diesem Ausgangspunkt verschiedene menschliche Haltungen? Kontrolliere ich den Anderen denn nicht bereits hinreichend, wenn ich ihn einfach anblicke, also verobjektiviere? Warum ihn also noch begehren, quälen oder hassen? - Sartre meint, dass das blosse Anblicken des Anderen nicht ausreicht, um die Beunruhigung durch seine Freiheit zu beseitigen. Wenn ich den Anderen zum Objekt für mich mache, löst sich zwar seine Freiheit - oberflächlich betrachtet - für mich auf, in Wahrheit ist sie aber immer noch vorhanden. Was ich kontrolliere, ist nämlich nur seine Faktizität, also den Apfel und nicht den darin enthaltenen Wurm! Denn es besteht immer noch das Risiko, dass mich der von mir angeblickte Andere seinerseits anblickt und mich zum Objekt macht. Solange ich die Freiheit des Anderen nicht als solche kontrolliere, bleibt er für mich beunruhigend. Die sexuelle Begierde ist eben der Versuch, eine solche Kontrolle zu erlangen. Um das zu verstehen, ist es nötig, einen Blick auf die mit der Begierde verbundenen Phänomene zu werfen. Was geschieht, wenn ich jemanden sexuell begehre? Zunächst einmal begehrt man - so Sartre - nicht etwa die sexuelle Befriedigung, also den Orgasmus, sondern einen Menschen. Nur so ist erklärbar, dass bereits Kinder, die weder die Praxis des Geschlechtsaktes noch die Möglichkeit des Orgasmus kennen, zu sexuellem Begehren fähig sind. Und begehrt wird der Mensch nicht etwa nur als Körper, der mit ausreichend vielen sexuellen Auslösern versehen ist, sondern als Mensch mit Bewußtsein. - Wer jetzt die Stirn runzelt, weil er an die bekannten Aufblaspuppen denkt, vergisst, dass es sich dabei um Hilfen zur Selbstbefriedigung handelt, und die Selbstbefriedigung wesentlich Ersatzcharakter hat - die Gummipuppe dient als Auslöser für die Vorstellung eines Menschen mit Bewußtsein, der das eigentliche Objekt des Begehrens ist. Doch wenn das so ist, wie kommt es zu der verbreiteten Auffassung, dass der Geschlechtsakt mit anschliessendem Orgasmus Ziel des Begehrens ist? Der Irrtum ergibt sich auf der reflexiven Bewußtseinsebene als falscher Schluss aus der Erfahrungstatsache, dass der Orgasmus das Begehren zum Stillstand bringt. Sartre gesteht im Übrigen zu, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen tatsächlich der Entschluss gefasst wird, das Begehren durch den Akt zu beseitigen. Doch ein solcher Entschluss setzt die Reflexion auf ein unerträglich gewordenes Begehren voraus, das auf der unreflektierten Ebene immer noch Begehren nach einer Person und nicht nach der Lust bei seiner Aufhebung ist. - Analog dazu ist Hunger nicht die Begierde nach dem Aufhören des Hungers oder der mit dem Essakt verbundenen Lust, sondern einfach die Begierde nach Essen, obwohl ich beschliessen kann, zum Zwecke der Gewichtsreduktion den Hunger lieber durch Einnahme eines appetitzügelnden Medikamentes oder das Rauchen von Zigaretten zu beseitigen. Die sexuelle Begierde unterscheidet sich von anderen Arten der Begierde durch ihren - so Sartre - "aufwühlenden" Charakter. Er meint damit die Tatsache, dass die sexuelle Begierde auf denjenigen, der sie hat, überwältigend und "hypnotisierend" wirkt. Während sich das Bewußtsein eines Menschen, der Hunger hat, durch den Hunger nicht wesentlich verändert, ist das Bewußtsein des sexuell Begierigen ein anderes geworden - weil sich die dem Bewußtsein gegenüberstehende Welt geändert hat. Der Fall liegt hier ähnlich wie bei den Emotionen, die ja gleichfalls mit einer Veränderung der Welt zusammenfallen. In was für einer Welt lebt der Mensch im Zustand der Begierde? Es handelt sich um eine Welt, die nicht mehr wie die normale Welt aus Utensilien besteht, sondern aus Materie. Die Dinge werden nicht mehr als Werkzeuge wahrgenommen, sondern als sinnliches Sein, ihre haptischen, ästhetischen usw. Qualitäten treten in den Vordergrund. Das Phänomen ist offenbar eines der sexuellen Erregtheit und deutet daraufhin, dass Sartre zwischen Begierde und Erregtheit keinen Unterschied macht. Es führt uns unmittelbar zur ontologischen Funktion der Begierde. Das Versinken in der Sinnlichkeit der Dinge ist in Wahrheit ein Versinken in meinem Körper: Die Dinge enthüllen mit ihrer eigenen sinnlichen Natur meinen Körper, und zwar nicht als Bezugszentrum, sondern als "Fleisch". Die gesteigerte Sinnlichkeit der Dinge ist in Wahrheit ein gesteigertes Körpergefühl! - Nun hatte Sartre das allgemeine Körpergefühl als "Ekel" bezeichnet und es damit implizit in die Kategorie der eher unangenehmen Empfindungen gerückt. Bei dem hier beschriebenen Phänomen scheint es sich jedoch um lustvolles Erleben zu handeln. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? - Normalerweise befinde ich mich als Für-sich in einer gewissen Distanz zu meiner Faktizität, die ich ständig überschreite. In der Begierde jedoch will ich gerade Faktizität, dass heisst als Körper Teil der Welt sein! - Nun lässt sich sofort fragen, ob diese Aussage mit der Behauptung verträglich ist, dass der Ausgangspunkt der Begierde das freie Subjekt ist. Wenn ich mich mit meiner Faktizität identifiziere, ist das nicht gerade der Versuch, meinen Subjekt-Charakter zu leugnen? Dieser Einwand übersieht - so würde Sartre antworten -, dass meine Fleischwerdung hier kein Selbstzweck ist, sondern eine Ausrichtung auf einen anderen Menschen (den ich begehre) hat. Sie dient meiner Freiheit als Instrument, um mir den begehrten Menschen anzueignen. Und diese Aneignung erreiche ich dadurch, dass der Andere, durch meine Begierde angeregt, ebenfalls in seinem Fleisch versinkt. Was habe ich dadurch gewonnen? - Wir hatten gesehen, dass die blosse Verobjektivierung des Anderen durch den "Blick" für den Anblickenden nicht restlos beruhigend ist: Zwar hat er die Kontrolle über das Objekt, das andere Bewußtsein entzieht sich aber, da das Objekt sozusagen lediglich seine Aussenseite ist, so dass die Situation jederzeit umschlagen und der Anblickende zum Angeblickten werden kann. Und genau dieses Risiko fällt weg, wenn der Angeblickte in seinem Fleisch versunken ist. In diesem Falle ist seine Freiheit - wie Sartre es ausdrückt - in seiner Faktizität "verklebt" und daher unschädlich gemacht. Die Freiheit des Anderen ist jetzt nicht mehr jenseits seines Körpers, sondern füllt diesen aus und indem ich seinen Körper besitze, besitze ich seine Freiheit. Doch da das Spiel hier zwei Mitspieler hat, besitze nicht nur ich die Freiheit des Anderen, sondern auch der Andere meine Freiheit. Es ist so ein gegenseitiger Kontakt zwischen den Bewußtseinen erreicht worden, der für beide Partner nichts Bedrohliches mehr hat, da jeder die Freiheit des Anderen kontrolliert, indem er den Anderen "streichelt" (das Wort steht bei Sartre für jedes sexuelle Handeln, dass zur Erregung des Partners führt): "Durch jedes Streicheln spüre ich mein eigenes Fleisch und über mein eigenes Fleisch das Fleisch des anderen, und ich bin mir bewußt, daß dieses Fleisch, das ich spüre und mir durch mein Fleisch aneigne, durch-den-anderen-gespürtes-Fleisch ist." Es handelt sich hier also um eine "Win-Win-Situation", die im zwischenmenschlichen Verhalten, wie Sartre es beschreibt, sonst selten ist. Und welche Rolle im Spiel kommt nun dem Orgasmus zu? Wenn er nicht das Ziel der Begierde ist, was ist er dann? Sartres Antwort lautet: Der Orgasmus ist das Scheitern der Begierde, da er eine plötzliche Konzentration auf das eigene Fleisch und damit den Abbruch des Kontaktes bedeutet. Der eigentliche Zweck der Begierde gerät durch die Lust beim Orgasmus sozusagen in Vergessenheit. - Eine weitere Form des Scheiterns der Begierde ergibt sich dann, wenn die Lust, gestreichelt zu werden die Oberhand über die Lust zu streicheln gewinnt. In diesem Falle tritt das ein, was ich eben erwähnt habe: Der instrumentelle Charakter meiner Fleischwerdung für mich verschwindet und sie wird Selbstzweck. Ich identifiziere mich mit meinem Körper-für-den-Anderen, der mich jetzt aus der Position des "Blicks" heraus als Werkzeug benutzen soll. - Wir erinnern uns, dass diese Haltung schon beschrieben wurde, es handelt sich um den Masochismus, der in diesem Zusammenhang sexueller Masochismus ist. - Und schließlich beschreibt Sartre eine dritte Form des Scheiterns der Begierde, die offenbar nur Männern möglich ist: Wenn ich - so Sartre - in den Partner eindringe, und ihn mir so aktiv aneignen will, heisst das, dass ich tätig werde. Wer tätig ist, ist aber nicht mehr in seinem Fleisch versunken (das Versunkensein hat kontemplative Züge), und kann daher auch die Freiheit des Partners nicht mehr über dessen Fleisch erreichen. Der Partner reduziert sich daher wieder zum blossen Objekt. Wenn die sexuelle Begierde ein Versuch des Für-sich ist, die Bedrohung durch den Blick des Anderen zu entschärfen, stellt sich die Frage, warum sie nicht willentlich herbeigeführt werden kann (jedenfalls nicht auf direktem Wege). Die Geschlechtsorgane sind durch ihren Besitzer nicht kontrollierbar. - Sartre konstatiert, dass diese Tatsache nicht etwa ein Indiz gegen, sondern eines für seine Auffassung ist: Schliesslich handelt es sich bei meiner Fleischwerdung ja um ein Versinken in der Faktizität des Körpers, die als solche kontingent und meinem Willen nicht unterworfen ist. Woraus folgt, dass die Unkontrollierbarkeit der Geschlechtsorgane kein Zufall, sondern ontologische Notwendigkeit ist! (Was aber die Frage aufwirft, wie ein nicht durch meine Freiheit kontrolliertes Geschehen noch auf einen bestimmten Zweck bezogen werden kann.) Ich erspare mir, auf die Ontologie der sexuellen Begierde kritisch einzugehen. Bemerken möchte ich lediglich, dass Sartre den Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht mehr erwähnt hat - und auch eine Theorie der Homosexualität vermissen lässt. Es ist allerdings nicht schwierig, beides zu ergänzen: Da die sexuellen Verhaltensweisen frei gewählt werden, kann es keine angeborenen geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Sexualität des Bewußtseins geben (woraus sich auch ergibt, dass Homosexualität keine besondere Erklärung mehr benötigt). - Leider stellt sich dann aber wieder die Frage nach der Faktizität der Geschlechtsorgane. Im Sinne Sartres müsste man annehmen, dass der Embryo durch freie Wahl der sexuellen Haltung, die mit seinem Grundentwurf am besten verträglich ist, deren Ausbildung bestimmt. (Die Ontologie der Sexualität ist kein Höhepunkt von Sartres Schaffen.) Der Sadist unterscheidet sich vom Begehrenden dadurch, dass ihm die "Aufgewühltheit" fehlt. Er ist also nicht in seinem Fleisch versunken, sondern befindet sich im Zustande eines Menschen, der einen Anderen "anblickt", er ist "kalt", wie Sartre sagt (er ist also sexuell nicht erregt oder die Erregung wird von ihm auf Distanz gehalten). - Wir hatten gesehen, dass dieser Zustand im Normalfall zwar eine gewisse Kontrolle über den Anderen verschafft, aber immer noch das Risiko in sich birgt, dass der angeblickte, verobjektivierte Mensch "zurückblickt". Der Sadismus stellt wie die Begierde einen Versuch dar, diese latente Gefährlichkeit des Mitmenschen zu bewältigen. Zu diesem Zweck bedient sich der Sadist der Fleischwerdung seines Opfers, die er durch sein Handeln erzwingt (denn ein solches Versinken kann nicht nur durch Begierde bewirkt werden, sondern auch durch körperliche Qual). - Der Sadist als kalter Beobachter und in der Rolle dessen, der einen Mitmenschen als Utensil behandelt, steht also einem Anderen gegenüber, dessen Freiheit in seinem Fleisch "verklebt" und daher weniger bedrohlich ist: Sie scheint von ihm kontrolliert zu werden, aber ohne dass im Gegenzug seine Freiheit auch für den Anderen entschärft ist (wie es bei der gegenseitigen Begierde der Fall ist). Sartre konstatiert nun, dass das Opfer des Sadisten nicht nur Fleisch, sondern obszönes Fleisch geworden ist. - Sartre greift hier auf eine von Bergson entlehnte Definition des Obszönen als Unterkategorie des Nicht-Anmutigen zurück. Anmutig ist ein Körper, wenn er als Körper eines handelnden Menschen erscheint. Der Körper selbst und seine Bewegungen sind durch den Bezug auf dieses Handeln bzw. den Zweck des Handelns "gerechtfertigt", was ungefähr meint, dass an beidem nichts überflüssig erscheint. Der Körper des anmutigen Menschen wird, selbst wenn er nackt ist, nicht als Fleisch, sondern als Ausdruck einer Freiheit wahrgenommen. - Das Nicht-Anmutige ergibt sich umgekehrt, wenn Momenten der Bewegung oder des Körpers diese Rechtfertigung fehlt. Nicht-anmutig ist beispielsweise ein Mensch, der hinkt, weil das Hinken als überflüssige Zutat der Bewegung des Gehens erscheint. Wenn das Nicht-Anmutige sich nicht in der Bewegung eines Menschen, sondern in seinem Körper findet, handelt es sich um Obszönität. Obszön ist ein nackter Körper, wenn er - wie in gewissen Aktbildern - schlaff auf einem Bett liegt. Obszön ist auch das Schwabbeln eines Bauches, weil sowohl der Bauch als auch seine Bewegung überflüssig wirkt. In der Obszönität zeigt sich der Körper nicht als Ausdruck einer Freiheit, sondern als Fleisch. Aus diesem Grunde kann sein Anblick u. U. Begierde auslösen, wenn er nämlich die erotische Fleischwerdung des Anderen signalisiert. Man könnte ergänzen, dass sich sein obszöner Charakter in diesem Falle dadurch reduziert, dass das Fleisch immerhin auf den sexuellen Akt bezogen werden kann. Umgekehrt erreicht die Obszönität ihren Höhepunkt, wenn das Moment der Begierde beim Betrachter fehlt. Und genau dieses Maximum an Obszönität ist der Zustand, in den der Sadist sein Opfer versetzen möchte. Warum? Weil die Freiheit seines Opfers in diesem Zustand praktisch unsichtbar geworden ist, das Opfer ist nur noch Fleisch. - (Man sollte hier an die Menschenhaufen von Abu Ghuraib denken.) Auch das Foltern, mit dem eine Aussage erpresst werden soll, will totale Identifikation des Opfers mit seinem Fleisch erreichen. Wenn die Qual des Opfers zu gross wird, und das Opfer zusammenbricht, ist das jedoch im Sinne Sartres immer die Wahl des Opfers (das Bewußtsein kann ja von nichts gezwungen werden), auch dann, wenn der Zusammenbruch erfahrungsgemäß zwangsläufig eintritt: "[...] wie auch der Widerstand des Opfers gewesen ist und solange es auch gewartet hat, bevor es um Gnade flehte, es hätte trotz allem zehn Minuten, eine Minute, eine Sekunde länger warten können. Es hat über den Moment entschieden, wo der Schmerz unerträglich wurde." Das Opfer hat sich also, wenn es aussagt um die Qualen zu beenden, frei mit seinem Körper identifiziert, obwohl der Sadist die Aussage erzwungen hat, so dass der Sadist in diesem Augenblick nicht einfach nur die Unsichtbarkeit der Freiheit des Anderen geniesst, sondern sogar die Kontrolle seiner Freiheit über die Freiheit des Anderen. Da die Haltung des Sadisten für Sartre sexuelle Erregung ausschliesst oder stark begrenzt, sind seine Bemerkungen offenbar auf den sexuellen Sadismus nicht anwendbar. Die sexuelle Begierde kommt für Sartre im Gegenteil erst dann ins Spiel, wenn der Sadismus als Haltung scheitert. Das ist der Fall, wenn der Sadist die totale Fleischwerdung des Opfers (scheinbar) erreicht hat, und nun nicht mehr weiss, was er weiter damit anfangen soll. In diesem Moment erst kann sich - so Sartre - die Begierde als Ausweichhaltung einstellen. - Abgesehen von dieser Möglichkeit scheitert der Sadismus - wie auch die sexuelle Begierde - prinzipiell an dem Umstand, dass der Andere als Für-sich seine Freiheit niemals wirklich verlieren kann. Auch die Kontrolle seiner Freiheit durch den Folterer ist lediglich Schein: Der Gefolterte kann jederzeit den Folterer "anblicken" und ihm so seine Freiheit ins Bewußtsein rufen (vorausgesetzt, er trägt keine geschlossene Kapuze wie die Gefangenen von Guantánamo). In seiner Abschlussbemerkung zur Bedeutung der Geschlechtlichkeit subsumiert Sartre trotz des fehlenden oder nicht notwendigen Bezuges seines Sadismus-Begriffs auf sexuelle Erregung den Sadismus unter die Sexualität. Er unterscheidet generell zwei sexuelle Grundhaltungen, Liebe und Begierde einerseits und Sadismus-Masochismus andererseits. Vermutlich kann man sagen, dass die erste Grundhaltung Gegenseitigkeit impliziert, während die zweite durch Einseitigkeit gekennzeichnet ist. - Sartre konstatiert ausserdem, dass diese Grundhaltungen für alle komplexen menschlichen Verhaltensweisen das Skelett bilden, sie sind z. B. auch in Mitleid, Bewunderung, Abneigung, und Neid enthalten. Mit dieser Behauptung gerät Sartre in die Nähe der Freudschen Libido-Theorie, die Abgrenzung geschieht dadurch, dass er die Bewußtheit der sexuellen Komponente betont. Diese sei in den komplexen Haltungen nicht aufgrund ihrer Unbewußtheit schwer zu erkennen, sondern nur aufgrund ihrer Implizitheit, ihrer bruchlosen Verschmelzung mit anderen Haltungen. - Sartre stellt übrigens fest, dass die sexuellen Grundhaltungen versuchen, entweder den Subjekt- oder den Objekt-Aspekt für einen Anderen zu verabsolutieren (wir erinnern uns an die unterschiedlichen "Ausgangspunkte" dieser Haltungen), und in ihrem Scheitern auf den jeweils anderen Aspekt verwiesen werden. Die Gleichgültigkeit ist einfach die Haltung, in der ich mich auf den "Blick" und die damit verbundene Verobjektivierung und Instrumentalisierung des Anderen beschränke, und ihn auf alle Menschen ausdehne. Wie Sartre sagt, verdanken sich die im 18. Jahrhundert häufigen Ratgeber zur Manipulation von Anderen dieser Haltung. (Den Boom, den Bücher dieser Art in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben würden, konnte er nicht voraussehen - ein lesenswertes Beispiel ist Rupert Lays "Dialektik für Manager".) - Die Gleichgültigkeit läuft zwar darauf hinaus, das Angeblicktwerden durch die Anderen zu ignorieren, kann aber nicht verhindern, dass ich weiter angeblickt werde. Das bringt den Nachteil mit sich, dass es meine Objektivität für Andere durchaus gibt, ich aber nichts darüber weiss und mich nicht dagegen wehren kann, da ich ihre unmittelbare Erfahrung im Angeblicktwerden ja vermeide. - Ich befinde mich daher in einem Zustand vager Beunruhigung durch die Freiheit der Anderen, den ich wiederum durch ihre Manipulation zu bekämpfen versuche. - Doch die Manipulation krankt daran, dass sie die Freiheit des Anderen letztlich nicht tangieren kann und verschafft mir daher keine Beruhigung. Sartre nimmt hier offenbar an, dass es möglich ist, dem "Blick" der Anderen durch Ignoranz seine Schärfe zu nehmen, was etwas verwunderlich wirkt, wenn wir daran denken, mit welcher Drastik der "Blick" von ihm beschrieben wurde. - Ausserdem unterstellt er, dass ich mich gegen die Anderen besser wehren kann, wenn ich den "Blick" als solchen erfahre. Daran kann man zweifeln: Wenn ich kein Objekt-Ich in mir ausbilde, sondern stattdessen nur eine begründete Meinung über das Bild der Anderen von mir habe, mit dem ich mich nicht identifiziere und das ich evt. manipulieren kann, scheint das eine bessere Grundlage für eine Gegenwehr zu sein als die tiefe Erschütterung durch Erfahrung des "Blicks" und der Herausbildung eines von mir nicht kontrollierbaren Seins-für-Andere (das mich ja keineswegs über das wahre Bild der Anderen von mir in Kenntnis setzt). - Wogegen ich mich wehren will, ist meine Manipulation durch Andere, warum also sollte hier Angriff nicht die beste Verteidigung sein? - Vielleicht kommt Sartre unbewußt die von Kant geprägte Moral, nach der man andere nicht als Mittel benutzen darf, in die Quere. - Oder es vermengen sich hier zwei unterschiedliche Begriffe von Gleichgültigkeit: Eine Gleichgültigkeit, die echte Ignoranz für die Mitmenschen ist ("was schert mich, was die Idioten über mich denken") und die Gleichgültigkeit, die den Manipulationsratgebern zugrundeliegt und natürlich ein waches Auge für die Meinung der Anderen voraussetzt, da diese ja gerade manipuliert werden soll. Wir haben gesehen, dass Sartre alle von ihm beschriebenen Haltungen gegenüber dem Mitmenschen für zum Scheitern verurteilt hält. Ein Mensch, der zu dieser desillusionierenden Einsicht gekommen ist, könnte nun, so Sartre, den Wunsch entwickeln, sich seiner Objektivität für Andere dadurch zu entledigen, dass er die Anderen tötet. Diese Haltung ist der Hass. - Wer tatsächlich aus Hass mordet, tötet natürlich nur einen oder wenige Menschen, durch die er seine Objektivierung erfahren musste (man denke hier z. B. an einen Schüler, der die Mitschüler, die ihn gemobbt haben, in einem Amoklauf erschießt). Doch das, so behauptet Sartre aus einem für mich nicht nachvollziehbaren Grund, ist nicht die ganze Wahrheit: Die tatsächlichen Opfer oder Gehassten stehen symbolisch für alle anderen Menschen, weswegen Hass auch bei denen auf Missfallen stößt, die persönlich von ihm nicht betroffen sind. Da der Hass ebenfalls eine Haltung gegenüber den Mitmenschen ist, können wir vermuten, dass er das Schicksal der anderen Haltungen teilt: Er scheitert. Warum? Wer jemanden hasst, will mit seiner Vernichtung die Vernichtung des Objektes, das er für den Gehassten ist. Doch auch wenn der Gehasste tot ist, besteht dieses Objekt als vergangenes weiter, nämlich als das Bild, das der Getötete vom Hassenden hatte. Und schlimmer noch: Während sich das Objekt, das ich für einen Lebenden bin, verändern kann, ist das Objekt, das ich für den Toten war, unveränderlich. Der Mord des Gehassten hat dem Hassenden also nichts genützt. Wenn alle menschlichen Haltungen scheitern (der Mensch ist ja wesentlich unglückliches Bewußtsein), stellt sich die Frage, ob das auch das Ende aller Heilsbemühungen bedeutet. - Sartre leugnet das und macht eine rätselhafte Andeutung, die sich (vielleicht) auf das Erreichen von Authentizität durch reine Reflexion bezieht: "Diese Überlegungen schliessen nicht die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils aus. Aber diese muß am Ende einer radikalen Konversion erreicht werden, von der wir hier nicht sprechen können." Da wir andere Menschen lediglich als Subjekt oder als Objekt wahrnehmen können, aber nicht als beides zugleich, sind die Beziehungen zwischen Menschen - wie wir gesehen haben - notwendig instabil und haben Kampfcharakter. Es stellt sich nun die Frage, ob diesem Befund nicht die Tatsache widerspricht, dass wir häufig die Erfahrung eines Gemeinschafts- oder Wir-Bewußtseins machen. Schon das Wort "wir" scheint eine stabile Beziehung zwischen Menschen auszudrücken, die sich gegenseitig als Subjekte akzeptieren. Eine solche gegenseitige Akzeptanz ist nach dem bisher Gesagten unmöglich, da die Anerkennung eines Anderen als Subjekt nowendig impliziert, dass ich selber für den Anderen Objekt bin. Sartre stellt zuerst fest, dass es zwei Arten von Wir-Bewußtsein gibt, die er als Objekt-Wir und Subjekt-Wir bezeichnet. Das Objekt-Wir entwickelt sich aus der gemeinsamen Erfahrung des "Angeblicktwerdens", das Subjekt-Wir aus der gemeinsamen Erfahrung des "Anblickens". Das Objekt-Wir hat zur Voraussetzung - so Sartre - dass sich zwei Menschen (deren Beziehung ja notwendig ein Konflikt ist) plötzlich von einem Dritten "angeblickt" fühlen: In diesem Falle entsteht - analog zum Sein-für-Andere - in beiden Menschen ein Objekt-Wir. Und so wie der Einzelne auf sein Objekt-Ich mit Scham reagiert, kommt es in diesem Fall zu einer gemeinschaftlichen Scham gegenüber dem Dritten. - Die Analogie des Objekt-Wir zum Objekt-Ich reicht noch weiter: Ein Mensch reagiert auf die Bedrohung durch das Angeblicktwerden, indem er "zurückblickt" und so den Anblickenden verobjektiviert und seine Subjektivität zurückerhält, eine Gruppe von Menschen, die sich angeblickt fühlen, reagiert mit der Herausbildung eines Subjekt-Wir. Das Objekt-Wir ist für Sartres Ontologie der Zwischenmenschlichkeit unproblematisch, denn es impliziert nicht, dass sich das Verhältnis der Angeblickten zueinander in gegenseitige Anerkennung wandelt. Zwar sind beide gleichermassen Objekte, aber nur für den Dritten, während sich ihr Konflikt miteinander dadurch nicht verändert hat. Ein Subjekt-Wir als ontologisches Faktum würde dagegen mindestens die wechselseitige Anerkennung der Subjektivität implizieren. Sartre leugnet deshalb seinen ontologischen Charakter und reduziert es auf das psychologische Phänomen eines Gemeinschaftsgefühls, es handelt sich nur um ein "subjektives Erlebnis". - Die Behauptung wird nicht weiter begründet, sie folgt einfach aus der Unmöglichkeit eines echten Gemeinschafts-Subjektes im Rahmen seiner Ontologie. Klassen- und Massenbewusstsein Sartre wendet seine Unterscheidung zweier unterschiedlicher Wir-Bewußtseine auf Phänomene der Gesellschaft an, wobei er das marxistische Modell einer Klassengesellschaft voraussetzt. - Das Klassenbewußtsein einer unterdrückten Klasse enthüllt sich als Objekt-Wir: Die Ausgebeuteten fühlen sich von den Angehörigen der Ausbeuterklasse "angeblickt" (z. B. die Arbeiter in einer Werkshalle durch den Meister) und reagieren darauf mit gemeinsamer Scham. Und so wie man sich auch "angeblickt" fühlen kann, wenn man allein ist, sich aber bewußt ist, dass es den Anderen gibt, der einem jederzeit wirklich als "Blick" begegnen kann, bleibt dieses Objekt-Wir auch dann bestehen, wenn kein Mitglied der Ausbeuterklasse konkret anwesend ist. Aus dieser Erfahrung kann sich wiederum ein Subjekt-Wir der Ausgebeuteten entwickeln, womit Sartre andeutet, dass es für die Unterdrückten zwei Arten von Klassenbewußtsein gibt - ein passives, schamvolles und ein selbstbewußtes, das - wie wir vermuten können - Grundlage des aktiven Klassenkampfes "von unten" ist. - Sartre hält das "Angeblicktwerden" für den notwendigen Auslöser der Herausbildung eines Klassenbewußtseins und bestreitet, dass das Elend der Unterdrückten allein dafür sorgen kann. Haben die Unterdrücker (Sartre meint die Bourgeoisie) ebenfalls ein Klassenbewußtsein? Sartre ist der Ansicht, dass sie kein Subjekt-Wir haben können, da die bürgerliche Ideologie das Bestehen von Klassen gerade leugnet, aber ein Objekt-Wir entwickeln, sobald sie sich dem Subjekt-Wir der Proletarier gegenübersehen und sich von diesen "angeblickt" fühlen. (Man sollte meinen, dass sich spätestens in diesem Augenblick ein bürgerliches Subjekt-Wir bilden müsste, da die Verobjektivierung des Anblickenden ja die zwangsläufige Reaktion auf das Angeblicktwerden ist.) Es gibt - so Sartre - ein allgemeineres Subjekt-Wir, das sich schlicht aus der Benutzung der Waren ergibt, die für alle produziert wurden. Dieses Subjekt-Wir entspricht dem Heideggerschen "Man" und steht auf derselben Stufe wie das Subjekt-Wir von Menschen, die gemeinsam ein Ziel erreichen wollen (z. B. einer Gruppe marschierender Soldaten). Es handelt sich dabei nicht etwa - wie Heidegger meint - um eine ontologische Struktur des Menschen (Heidegger nennt diese Struktur das "Mit-Sein"), sondern um ein psychologisches Phänomen, das die echte ontologische Beziehung der Bewußtseine zueinander voraussetzt. Sartre macht noch eine Bemerkung zur Massenpsychologie (die hier eher Massenontologie ist): Insofern eine Masse von Menschen ein gemeinsames Objekt-Wir entwickeln kann, kann sie auch eine gemeinsame Haltung gegenüber einem anblickenden Subjekt einnehmen. Wir hatten gesehen, dass Liebe und Masochismus Haltungen sind, die von einem Objekt-Ich ausgehen: In der Liebe versucht das Bewußtsein, einen Anderen durch seine Objektheit zu faszinieren, und im Masochismus versucht es, seine Subjektivität völlig zu verleugnen, indem es sich zum Instrument für den Anderen macht. - Beide Haltungen können die Haltung einer Masse gegenüber einem Führer sein, im Falle des Masochismus will die Masse Instrument in der Hand des Führers sein. Funktion des Masochismus der Masse für den Einzelnen ist Flucht vor der Angst. (Man fragt sich, wie es diese Aussagen im besetzten Frankreich durch die Zensur geschafft haben.) Aufhänger des vierten Teils von "Das Sein und das Nichts" ist die Behauptung, dass sich alle menschlichen Verhaltensweisen unter die Begriffe Handeln, Haben und Sein subsumieren lassen. Das Erkenntnisverhalten, dessen Einordnung in das Schema nicht unmittelbar auf der Hand liegt, wird von Sartre dabei als Variante des Habens aufgefasst. - De facto behandelt der Werkteil die Themenkomplexe Handeln, Freiheit, Ethik und Besitz, sowie die "existentielle Psychoanalyse", Sartres Gegenentwurf zur Psychoanalyse Freuds. Abgesehen davon bietet er zahlreiche Wiederholungen früher Thesen und Argumentationen. Viele der in diesem Teil geäußerten Auffassungen können unabhängig von Sartres ontologischen Grundannahmen gewürdigt werden. Die hier ausgebaute Freiheitstheorie setzt wesentlich nur das Bestehen von Wahlfreiheit voraus - eine Annahme, die man unabhängig von Sartres Ontologie für richtig halten kann. - Ein versteckter Sinn der folgenden Passagen über Freiheit und Aspekte der Situation besteht in der Auseinandersetzung mit mehreren möglichen oder wirklich von Denkern vorgebrachten Argumenten gegen das Bestehen totaler Wahlfreiheit. Bevor man sich mit der Frage nach der Freiheit unseres Handelns beschäftigen kann, muss man sich darüber klarwerden, was Handeln eigentlich ist. Sartre stellt fest, dass nur intentionales Verhalten als Handlung gelten kann, dass also immer eine Absicht vorhanden sein muss. Das unwillkürliche Umstossen des Glases beim Verrücken des Tischchens ist keine Handlung, wohl aber das Verrücken des Tischchens. - Des weiteren kann man als Momente des Handelns Motive, Antriebe und Zwecke unterscheiden. Das Wort "Motiv", das sich im deutschen Sprachraum auf alles beziehen kann, was im Hintergrund einer Handlung steht (also auch auf Zwecke, Antriebe oder Charakterzüge des Handelnden) benutzt Sartre in einem eingeschränkteren Sinne: Das Motiv ist die Sachlage, die durch das Handeln verändert werden soll. Beispielsweise kann das Faktum, dass lediglich 60 Prozent der erwarteten Steuern eingehen, Motiv für eine Verwaltungsreform sein. Wie verhalten sich Motive und Zwecke zueinander? Ergeben sich die Zwecke aus den Motiven? Nach Sartre verhält es sich umgekehrt: Das Motiv kann mit dem Bestehen eines Mangels gleichgesetzt werden. Der Begriff des Mangels gewinnt seinen Sinn aber - wie wir im Zusammenhang mit der Diskussion des "Wertes" gesehen haben - aus einen zukünftigen Zustand, in dem der Mangel beseitigt ist (dem "Verfehlten"). Auf das Handeln bezogen ist dieser Zustand der Zweck der Handlung, dieser muss also früher da sein als das Motiv. Dass 60 Prozent der Steuern eingehen, ist zunächst nur ein beliebiges Faktum, das keineswegs zum Handeln führen muss. Erst, wenn dieser Zustand als Mangel erfasst wird, und dass heisst im Hinblick auf einen möglichen, zukünftigen Zustand, in dem die Steuern zu 100 Prozent eingehen, wird er Motiv für die Verwaltungsreform. Ein Zustand des Leids oder Elends kann also von sich aus kein Handeln veranlassen, das auf eine Änderung dieses Zustands abzielt. Dafür ist der Begriff eines zukünftigen Zustandes ohne Leid und Elend erforderlich, der dann als Zweck des Handelns den gegenwärtigen Zustand zum Mangelzustand macht. - Denken wir jetzt zurück an den Gegensatz Für-sich / An-sich. Das vollständige Sein-An-sich ist frei von Negativität, die ihre Quelle im unvollständigem Sein des Bewußtseins hat und von dort aus für die Aufgliederung des An-sich in eine Welt aus Dingen sorgt. Da das Bewußtsein vollständig spontan ist, und alle Negativität aus ihm stammt, heisst das, dass das Erfassen negativer Sachverhalte durch das Bewußtsein unverursacht ist. Was bedeutet das für den Beispielfall der Verwaltungsreform? Die Tatsache, dass 60 Prozent der Steuern eingehen, ist - so Sartre - einfach eine positive Tatsache. Wenn sie jedoch als Mangel erfasst wird (was sich daran zeigt, dass das Wörtchen "nur" hinzutritt - es gehen nur 60 Prozent der Steuern ein), heisst das, dass dieselbe Tatsache jetzt als negativ erfasst wird. Dieses Erfassen wird von der Tatsache selbst - die an-sich ist - nicht motiviert, sondern verdankt sich allein der Spontaneität des Bewußtseins. Woraus für Sartre folgt, dass das Setzen von Zwecken und damit das menschliche Handeln frei sein muss. Sartre bezieht sich hier nicht auf den naturwissenschaftlichen Determinismus, der die Handlungen eines Menschen beispielsweise aus bestimmten Gehirnvorgängen und diese wiederum aus einer Kombination von genetischen und Situationsfaktoren erklärt. Hier geht es um eine ältere philosophische Diskussion des Themas. Wenn man annimmt, dass Handlungen durch Motive determiniert werden, ergibt sich ein Problem, das sich mit der Geschichte von "Buridans Esel" illustrieren läßt (Buridan war ein Philosoph des Mittelalters, der in eine solche Debatte involviert war): Ein hungriger Esel sieht sich zwei genau gleichen Heuballen gegenüber. Da beide Heuballen für den Esel ein Motiv für ihren Verzehr sind, heisst das, dass der Esel mit zwei gleich starken Motiven konfrontiert ist. Wenn Motive das Handeln determinieren, folgt daraus, dass der Esel zwischen den Ballen verhungern muss, da sich beide Motive gegenseitig blockieren und so keine Handlung mehr möglich ist. Aus dem Umstand, dass der Esel in Wirklichkeit einen der Heuballen zu fressen beginnen würde, schliessen die Anhänger der Handlungsfreiheit, dass Handlungen in solchen Fällen nicht durch das Motiv allein verursacht sein können. (Man könnte m. E. auch daraus schliessen, dass genau gleich starke Motive ein faktisch unmöglicher Grenzfall sind, ähnlich wie die absolute Gleichheit aller Eigenschaften zweier komplexer Gegenstände.) - Dass sich die Motive des fressenden Esels gegenseitig aufheben, läuft darauf hinaus, dass sein Fressen kein Motiv hat. Die Anhänger der Freiheit müssen also behaupten, dass Handlungen ohne Motiv möglich sind. An dieser Stelle können die Motiv-Deterministen darauf verweisen, dass eine Handlung ohne Motiv ein Unding ist: Handeln ist immer auf einen Zweck (einen zukünftigen Zustand) und damit auch auf ein Motiv (einen gegenwärtigen Zustand, der durch den künftigen ersetzt werden soll) bezogen. Wenn freie Handlungen Handlungen ohne Motiv sind, kann man also eigentlich nicht mehr von Handlungen sprechen, es handelt sich dabei dann eher um sinnlose Bewegungen (der deutsche Romantiker Achim von Arnim äußerte einmal, dass er sich einen nicht-determinierten Menschen nur als komplett Verrückten vorstellen könne). - Sartre gibt den Deterministen Recht: Wenn Handeln frei ist, darf diese Freiheit nicht in dem Fehlen von Motiven gesucht werden. Doch Sartre hält beide Auffassungen für falsch. Seinen Alternativvorschlag könnte man so wiedergeben: Zwar sind unsere Handlungen auf Motive bezogen, aber das macht uns nicht unfrei, da die den Motiven vorangehenden Zwecke frei gewählt werden. Das Motiv ist nicht an sich Motiv, sondern wird es erst durch seine Erfassung als Mangel. Der Befürworter der Freiheit im gerade erwähnten Sinne hatte den Punkt, an dem die Nichtdeterminiertheit ins Spiel kommt, falsch bestimmt. Die Handlung, ihr Zweck und ihr Motiv bilden also eine Totalität, die als ganze lediglich von der Spontaneität des Bewußtseins abhängt. - Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf, warum Wille, Antriebe und Leidenschaften (= Emotionen) bisher noch nicht erwähnt wurden. Ist es denn nicht gerade der Wille, der frei ist - schließlich spricht man ja von "Willensfreiheit"? Und sind die Motive nicht nur dadurch wirksam, dass sie einen Antrieb in uns verursachen? Und muss sich der Wille gegen die Leidenschaften nicht häufig mit Anstrengung durchsetzen oder wird von ihnen sogar durchkreuzt? - Sartre bestreitet demgegenüber nicht nur die Bedeutung des Willens und die Existenz von Antrieben, sondern hält es auch für unmöglich, dass die Leidenschaften meiner Freiheit zuwiderlaufen können. Eine Auffassung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht (der gesunde Menschenverstand ist bekanntlich die Summe der verbreitetsten Vorurteile), besagt, dass mein Wille zwar frei ist, die Leidenschaften als determinierte Faktoren ihm aber Widerstand entgegensetzen oder ihn sogar lähmen können. - Sartre muss diese Auffassung schon deshalb ablehnen, weil sie der Transluzidität des Bewußtseins widerspricht: Wenn es Determiniertes im Bewußtsein gäbe, gäbe es im Bewußtsein etwas, das nicht bewußt wäre (etwas Opakes) und etwas Unbewußtes im Bewußtsein ist kontradiktorisch. - Woraus folgt, dass die Leidenschaften entweder nicht zum Bewußtsein gehören (und dann können sie seine Freiheit nicht einschränken, sondern sind Teil der Welt), oder frei sind. Sartre vertritt letztere Ansicht: Alles, was Bewußtsein ist, ist völlig spontan, also auch die Leidenschaften. - Wir haben diese Auffassung in der Theorie der Emotionen schon kennengelernt, hier wird sie mit dem Begriff der Handlung in Verbindung gebracht. Sartre konstatiert weiterhin, dass das Zusammensein von Determiniertheit und Freiheit im selben Bewußtsein undenkbar ist, weil nicht möglich ist, dass eine Spontaneität auf einen "bereits konstituierten" Determinismus einwirken kann. Spielt das "bereits konstituiert" auf die Möglichkeit an, dass eine Spontaneität eine Ursachenreihe beginnen könnte? - Nein. Der Begriff Konstitution ist hier im Sinne des Idealismus gemeint: Es ist möglich, dass ein spontanes Bewußtsein ein ganzes System kausaler Verbindungen aus sich hervorgehen lässt (so wie die Kausalität bei Kant durch Anwendung einer Kategorie auf die raum-zeitlich geformten Sinnesdaten zustandekommt: Der Geist konstituiert die kausale Welt als solche). Sartre hält es vielmehr für undenkbar, dass sich innerhalb eines kausalen Systems Bestandteile akausal verhalten können. Er besteht stattdessen darauf, dass das Bewußtsein der Kausalität gänzlich entzogen ist, weil nichts auf das Bewußtsein einwirken und das Bewußtsein auf nichts einwirken kann und spielt dabei auf das in der Diskussion des Sein-für-sich bereits erwähnte Prinzip von Aktion und Gegenaktion an. - Wie wir damals schon gesehen haben, ergibt sich aus der Behauptung das Problem, dass es in diesem Falle unmöglich wird, dass freie Entscheidungen zu Wirkungen in der Welt führen können (z. B. dazu, dass eine Hand einen Gegenstand hochhebt). - Sartre kommt jedenfalls zu der Schlussfolgerung: "Diese Erörterung zeigt, daß zwei und nur zwei Lösungen möglich sind: entweder ist der Mensch völlig determiniert (was unannehmbar ist, zumal weil ein völlig determiniertes, [...] Bewußtsein [...] aufhört, Bewußtsein zu sein), oder der Mensch ist völlig frei." Insgesamt lassen Sartres Bemerkungen zur Kausalität Wünsche offen. Da Sartres Freiheitsphilosophie die Freiheit ausdrücklich als ausserhalb der Kausalität befindlich betrachtet, hätte man eine detailliertere Diskussion erwartet. (Man kann sich Handlungs- oder Willensfreiheit auch ohne Widerspruch zur Kausalität vorstellen, wenn man nämlich annimmt, dass der konträre Standpunkt den Gebrauch des Wortes "Freiheit" missversteht.) - Paul Vincent Spade interpretiert Sartre so, als lehne er das Kausalitätsprinzip generell ab. Ich sehe mehr Indizien für die Annahme, dass Sartre die Kausalität im Bereich von allem, das er an-sich nennt, für lückenlos hält. So ist der Mensch als Objekt für andere Menschen ein Instrument, und Utensilität setzt Kausalität voraus. In der "normalen" (d. h. nicht im Sinne seiner Theorie der Emotionen umgestalten) Welt hat jede Veränderung eine Ursache. Werfen wir einen vergleichenden Blick auf Kants Umgang mit dem Thema: Die konkreten Handlungen eines Menschen sind verursacht, da die Kategorie der Kausalität bei der Konstitution der Welt durchgängig angewandt wird (so wie alle Dinge räumlich und zeitlich sein müssen, müssen alle Veränderungen an ihnen verursacht sein). - Frei kann der Mensch nicht auf dieser Ebene, auf der Ebene der konstituierten Welt sein, sondern nur, insofern er auch ein Ding-an-sich ist. - Sartres Argumentation scheint auf etwas Ähnliches hinauszulaufen, doch eine analoge Klarheit vermisst man. Und Sartre besteht auf der Freiheit einzelner Handlungen! Da Sartre den Emotionen eine Funktion zuspricht (sie beseitigen das Bedrohliche bestimmter Situationen dadurch, dass sie die Struktur der Welt ändern), müssen sie auf einen Zweck bezogen sein. Und daraus ergibt sich auch schon die Rolle, die sie spielen: Sie sind nichts weiter als besondere Mittel zu einem frei gesetzten Zweck. Und insofern wir die Mittel zur Verwirklichung der Zwecke gleichfalls frei wählen, sind die Leidenschaften Resultat einer freien Entscheidung. - Ich entscheide mich dafür, einen Zweck emotional oder durch kalte Überlegung zu erreichen, so wie ich mich dafür entscheide, mit dem Auto oder mit dem Flugzeug an einen bestimmten Ort zu reisen. Man spricht von "blinder" Leidenschaft, während man den Willen in dem hier gemeinten Sinne eher mit kalter und klarer Überlegtheit assoziiert. (Das Wort "Wille" in der deutschen Umgangssprache hat mehr Verwendungen und kann sich auch auf starke unreflektierte Wünsche beziehen.) Der Unterschied zwischen einer willentlichen und einer nicht-willentlichen Handlung bezieht sich - so Sartre - schlicht auf die Reflexionsstufe. Wenn ich auf der präreflexiven Bewußtseinsebene jemanden schlage, weil er eine "Fresse zum Reinschlagen" hat (das drastische Beispiel stammt von Sartre selbst), handelt es sich um eine unwillentliche Handlung. Der Wille tritt auf der unreflektierten Ebene nicht in Erscheinung, der Zweck stellt sich einfach nur als Forderung in der Welt dar - trotzdem ist er Produkt der Spontaneität des Bewußtseins und daher frei gewählt. Wenn ich mir dagegen überlege, dass es nicht günstig ist, hier und jetzt zuzuschlagen, da sich der Betreffende im Kreis seiner Freunde befindet, und dass ich besser abwarte, bis ich mit ihm in einer dunklen Ecke allein bin, befinde ich mich auf der reflektiven Ebene und verhalte mich willentlich. - Der Wille hat - wie Sartre meint - im Hinblick auf die Freiheit der Handlung keine Bedeutung, da er Motiv und Zweck nicht ändert. - Der Unterschied der Bewußtseinsebenen erlaubt es Sartre auch, die sog. "Antriebe" zu erklären: Diese sind nicht etwa ein irrationaler Faktor - die subjektiven Begierden - der zur Erklärung einer Tat herangezogen werden muss, wenn die objektiven Motive nicht ausreichen, und der zu den Motiven u. U. im Gegensatz stehen kann. Der Antrieb ist einfach das Motiv, wie es auf der präreflexiven Ebene erscheint. - Das Gesicht des potentiellen Angriffsopfers, die Forderung, die die Welt in diesem Augenblick an mich stellt, ist gleichbedeutend mit meinem Antrieb, hineinzuschlagen. Als Motiv, d. h. als Grund der Handlung erscheint das Gesicht erst, wenn ich reflektiere. - Es kann also keinen Konflikt zwischen Motiven und Antrieben geben. Reflektiere ich nachträglich auf mein vergangenes, präreflexives Handeln, so kann ich - so Sartre - den Antrieb als psychisches Quasi-Objekt erfassen und dann womöglich zu dem schlechten Glauben kommen, dass der Antrieb eine besondere Kraft besessen hatte, die mich von der Verantwortung befreit ("mein Drang, zuzuschlagen, war so stark - ich konnte mich einfach nicht wehren"). In Wahrheit sind Antriebe und Motive zwei Erfassungen desselben Gegenstands, und da ich meine Motive frei wähle, können die Antriebe keine eigene Kraft besitzen. Wenn wir bei dem Beispiel bleiben, stellt sich die Frage, ob diese Behauptung hier wirklich zutrifft. Immerhin verhalte ich mich, wenn ich mich willentlich verhalte, anders (indem ich die Ausführung der Verwirklichung des Zwecks aufschiebe, und das heisst, andere Mittel wähle). Da die Mittel aber selber Resultat einer freien Zwecksetzung sind, heisst das, dass in der willentlichen Erwägung Motive hinzugetreten sein müssen, die auf der präreflexiven Ebene nicht da waren (z. B. das Motiv, selbst unbeschadet zu bleiben). Hat hier also nicht doch eine Modifikation von Motiv und Zweck stattgefunden? - Ich werde Sartres vermutliche Antwort darauf skizzieren, wenn ich zu seiner Diskussion der grundlegenden Entwürfe komme. Die Irrationalität der Freiheit Wenn unsere Entscheidungen unverursacht sind, impliziert das die Irrationalität unserer Freiheit? Sartre erwähnt zur Illustration dessen, was hier gemeint ist, den Begriff des Clinamens. Epikur hatte behauptet, dass das Verhalten der kleinsten Weltbestandteile eine gewisse Indeterminiertheit aufweist: Sie bewegen sich nicht auf einer hundertprozentig vorhersehbaren Bahn, sondern es kommt gelegentlich zu kleinen Abweichungen (Clinamen = Abweichung), so dass die Welt zwar im Großen und Ganzen Naturgesetzen folgt, es aber dennoch ein Moment der Zufälligkeit gibt. - Wenn unsere Entscheidungen frei sind, bedeutet das in einem ähnlichen Sinne nicht einfach eine Einschränkung der Vorhersehbarkeit meines Handelns? Und ist nicht Unvorhersehbarkeit gerade ein Kennzeichen irrationalen Verhaltens? Man kann hier an eine Theorie erinnern, die vor einigen Jahrzehnten durch die populärwissenschaftliche Presse geisterte. - Gemäß der modernen Physik gibt es bekanntlich nicht-determinierte Vorgänge auf der subatomaren Ebene, die an Epikurs Clinamen erinnern, und die ebenfalls für ein gewisses Zufallselement im Weltverlauf sorgen. Als Beispiel für die durchaus praktische Auswirkung dieser Nicht-Determiniertheit kann der Zerfall eines radioaktiven Atoms dienen, der lediglich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit stattfindet, aber darüber entscheiden kann, ob ich jung an Lungenkrebs sterbe oder nicht (wenn sich nämlich das Atom in meiner Lunge befindet). - Verteidiger der Willensfreiheit bemühten sich nun, diese Nicht-Determiniertheit mit der menschlichen Freiheit in Verbindung zu bringen. Sie postulierten, dass freie Entscheidungen dadurch zustandekommen, dass das Gehirn eine Art echten Zufallsgenerator enthält: Ein nicht-determinierter subatomarer Vorgang wird durch irgendeinen Verstärkermechanismus Auslöser für eine freie Entscheidung. Betrachtet man diese Theorie, drängt sich sofort der Eindruck auf, dass ein Mensch, dessen Entscheidungen von einem solchen Mechanismus abhängig gemacht werden, deshalb nicht freier, sondern höchstens unberechenbarer wird. - Man könnte nun vermuten, dass es sinnvoll sein könnte, den Gegensatz Freiheit / Determiniertheit in Frage zu stellen. Sartres Argumentation geht aber in eine ganz andere Richtung: Die Rationalität meiner Handlungen ergibt sich aus ihrem Bezug auf einen grundsätzlichen Entwurf, der eine Art Vereinigungspunkt meiner Einzelentwürfe ist. Der Vorwurf der Irrationalität kann daher nicht jede einzelne Entscheidung treffen, sondern nur diesen Grundentwurf selbst, der nicht begründbar ist. Wir werden allerdings sehen, dass für Sartre jede Entscheidung in der Lage ist, den Grundentwurf umzustoßen und durch einen anderen zu ersetzen. Woraus für mich zu folgen scheint, dass auch der Vorwurf der Irrationalität nach wie vor für jede einzelne Entscheidung erhoben werden kann, da nicht vorhersehbar ist, ob sie eine Änderung des Grundentwurfs bedeutet. Ein Mensch, der seinen grundsätzlichen Entwurf alle fünf Minuten wechselt, wäre vorstellbar - die Möglichkeit ergibt sich aus der Spontaneität des Bewußtseins. - Sartre müsste hier auf den Erfahrungssatz verweisen, dass solche Konversionen selten sind. Doch die Langfristigkeit der Grundentwürfe ist lediglich ein "kontingentes Faktum": Der Würfel kann auch mal zehn Sechsen hintereinander werfen, ohne dass seine Würfe dadurch vorhersehbarer werden. Beispiel Minderwertigkeitskomplex Die Urwahl ist die Wahl des grundlegenden Entwurfs, die eine Entscheidung, auf die alle meine konkreten Entscheidungen verweisen. Diese Entscheidung betrifft mein Verhältnis zur Welt insgesamt. - Hier ist einer der Punkte bei der philosophischen Lektüre, an denen man sich ein illustrierendes Beispiel wünscht, und Sartre ist so freundlich, zwei zu liefern. - Man stelle sich zunächst einen Mann vor, dem im Leben nichts von dem gelingt, was er sich vornimmt. Für die Arbeitsstellen, auf die er sich bewirbt, ist er nicht ausreichend qualifiziert, so dass jedes wirklich zustandegekommene Beschäftigungsverhältnis in einer Katastrophe endet, die Frauen die er kennenlernen möchte, sind niemals an ihm interessiert, usw. - Das alles aber nicht deshalb, weil der Mann besonders unbegabt oder hässlich wäre, der Grund für sein dauerndes Versagen liegt vielmehr darin, dass seine Entwürfe immer so beschaffen sind, dass sie mehr anstreben, als für ihn zu erreichen ist, und daher scheitern müssen. Man könnte nun annehmen, dass der Mann irrtümlich eine zu positive Meinung von sich selbst hat. Die Interpretation seines Verhaltens, von der Sartre ausgeht, ist eine andere: Der Mann hat einen Minderwertigkeitskomplex. Der Begriff wird umgangssprachlich meist auf Menschen angewandt, die sich minderwertig fühlen, geht in der Verwendung durch Sartre aber darüber hinaus. Ein Minderwertigkeitskomplex ist nicht nur eine (womöglich objektiv begründbare) negative Selbsteinschätzung, sondern ein Entwurf, der darauf abzielt, die eigene Minderwertigkeit zu beweisen und sicherzustellen. Die Handlungen des Mannes scheitern nicht deswegen, weil er zuviel Optimismus in Bezug auf seine Fähigkeiten hat, sondern scheitern, weil sie scheitern sollen! In seiner Urwahl hat sich der Mann als minderwertig im Vergleich zu anderen Menschen gewählt, und seine Handlungen zielen darauf ab, diesen Grundentwurf zu realisieren. Sartre ist hier von der Psychoanalyse beeinflusst (im Beispiel mehr von Adler als von Freud), zu deren Grundthesen ja gehört, dass scheinbar irrationale, pathologische Verhaltensweisen einen verborgenen Sinn aufweisen, der vom Analytiker aufgeklärt werden muss. - Aber bestreitet Sartre nicht vehement, dass es so etwas wie das Freudsche Unbewußte geben kann? Wir können daher vermuten, dass Sartres Interpretation des Minderwertigkeitskomplexes von der psychoanalytischen abweicht. - Während letztere nämlich behauptet, dass der Mann von seinem Minderwertigkeitskomplex nichts wissen kann, und durch den Analytiker darüber informiert werden muss, hält Sartre den Komplex für bewußt: Er besteht in einer Entscheidung, und alle Entscheidungen des Menschen sind bewußt. Aber wie kann man sich denn bewußt dafür entscheiden, die permanenten Demütigungen auf sich zu nehmen, die das Verhalten des Mannes zwangsläufig mit sich bringen muss? - Hier zeigt sich, dass der Minderwertigkeitskomplex in Wahrheit noch nicht der Grundentwurf selbst ist, sondern einen tieferen Sinn hat (Sartre hat den Leser hier etwas in die Irre geführt). - Wie wir wissen, sind alle menschlichen Handlungen letztlich aus dem Bedürfnis, sich einen Grund zu geben und dem Bedürfnis, der Angst zu entgehen, erklärbar. Die Erklärung hier läuft darauf hinaus, dass der Mann versucht, seine Freiheit loszuwerden, indem er sich durch sein Versagen einem passiven Ding ähnlich macht (indem er immer so handelt, dass der Zweck nicht erreicht werden kann, hebt sich sein Handeln auf und er handelt eigentlich gar nicht). Als passives Ding - so können wir ergänzen - wäre er natürlich selbstgewähltes An-sich und hätte damit auch die Selbstbegründung erreicht. Das dauernde Gefühl von Demütigung, dass der Mann bei der Realisierung seines Grundentwurfs erfährt, stellt sich vor diesem Hintergrund als eine Art Nebenwirkung heraus (wir sind schon mehrmals darauf gestoßen, dass für Sartre der eigentliche Zweck unseres Handelns nie im Erwerb von Lust besteht): Es ist notwendig, dass der Mann auf der reflexiven Ebene seine Handlungen für erfolgversprechend hält, und demgemäß enttäuscht ist, wenn die Handlung trotzdem scheitert. Der Irrtum über den tatsächlichen Zweck der Handlung fügt sich - wie Sartre sagt - diesem Zweck also ein. - Die Argumentation ist hier nicht ganz konsequent, wenn sie die Minderwertigkeitsgefühle als notwendige Begleiterscheinung des angestrebten Scheiterns hinstellt. Minderwertigkeitsgefühle sind der Bewußtseinsspontaneität unterworfen, man kann sich leicht jemanden vorstellen, der freudig scheitert: "Ich kann’s halt einfach nicht, hurra!" - Aber vielleicht kommen solche Gefühle nicht in Frage, weil sie bei dem Mann Verdacht gegen die Ehrlichkeit seines Strebens wecken könnten. (Und aufrichtig das Scheitern seines Handelns anstreben kann er nicht, da sich das Scheitern dann in einen Erfolg verwandeln und so dem Grundentwurf wirklich widersprechen würde.) Noch einmal im Überblick: Der Mann verfolgt willentlich den Zweck, erfolgreich zu sein. Sein übergeordnetes Ziel, das ihm unreflektiert bewußt ist, das sich auf der reflexiven Ebene aber verbirgt, ist es, zu versagen. - Das Setzen eines nicht-realisierbaren Zwecks und der Schritt auf die reflexive Ebene ist in die Handlung des Versagens, die den Grundentwurf realisieren soll, integriert. - Die unreine Reflexion, in der das momentane Ziel fälschlicherweise als erreichbar erscheint, ist Teil der eigentlichen Handlung. - Sartre hatte gesagt, dass der Wille die Zwecke nicht verändern kann und wir sehen jetzt, weshalb: Das willentliche Erwägen kann den eigentlichen Zweck deshalb nicht verändern, da es selber Mittel zu diesem Zweck ist. - Wir hatten gesagt, dass sich die Handlung aus dem Bauch heraus, was Zweck und Motive angeht, von der überlegten Handlung unterscheiden kann, und hatten gefragt, ob das mit dieser Behauptung verträglich ist. Die Antwort ist, dass die Handlung aus dem Bauch heraus einem anderen Grundentwurf entspricht und damit einen anderen übergeordneten Zweck verfolgt als das willentliche Handeln. Das willentliche Verfolgen eines Zwecks ändert den eigentlichen Zweck der Handlung nicht, heisst aber, dass ein anderer Zweck verfolgt wird als beim unwillentlichen Handeln. Insofern das Subjekt sich nach Durchlaufen des Zirkels der Selbstheit in der Welt wiederfindet (die Welt wird als Möglichkeit zur Selbstbegründung wahrgenommen, und deutet damit auf das Subjekt als zukünftiges selbstbegründetes An-sich-für-sich, als realisierter "Wert"), und insofern der Grundentwurf ein Entwurf zur Selbstbegründung ist, korreliert er mit einer bestimmten Art von Welt. Es wäre aber falsch, das so zu interpretieren, als sähe ich die Welt durch die Brille meines Grundentwurfs verzerrt, und als gäbe es daneben noch eine subjekt-unabhängige Welt, die von dem Zerrbild abweicht: Die Welt als aus Forderungen bestehend existiert nur in Bezug auf den Grundentwurf. - Unabhängig vom Subjekt gibt es für Sartre lediglich amorphes Sein-an-sich, und keine dinglich gegliederte Welt. Es hängt von meinem Grundentwurf ab, ob ich auf einer Wanderung eine plötzliche Steigung als Forderung, sie zu überwinden, oder als Forderung, mich auszuruhen und umzukehren wahrnehme. Und damit sind wir bei Sartres zweitem Beispiel für die Abhängigkeit der konkreten Handlungen vom Grundentwurf. - Nehmen wir an, dass ich nicht allein wandere. Für mich ist die Steigung das Zeichen zum Aufgeben, für meine Freunde hingegen nicht, so dass sie mir Vorwürfe machen. Und gegen diese Vorwürfe kann ich mich nicht mit meiner Müdigkeit verteidigen. Warum nicht? Meine Müdigkeit ist wertneutral, sie ist nur die Art, in der ich meinen Körper unter bestimmten Umständen fühle. Ich kann sie erst dann zur Begründung für mein Aufgeben machen, wenn ich sie auf sie reflektiere und ihr einen Wert verleihe. Und diese Bewertung erfolgt im Rahmen meines Grundentwurfs! Durch schlechte Reflexion erscheint sie mir jedoch nicht als Resultat meiner Freiheit, sondern als objektive Eigenschaft der Müdigkeit als psychischem Quasi-Objekt, die eben "unerträglich" ist. - Warum nehme ich eine solche Bewertung vor, während meine Freunde ihre Müdigkeit nicht als unerträglich empfinden? Sartre bemüht für die Erklärung zwei unterschiedliche Grundentwürfe. Der eine - der meiner Freunde - besteht darin, sich zu An-sich werden zu lassen, indem man in seinem Körpergefühl versinkt (man denke an das sexuelle Begehren). Auf dem Hintergrund dieses Entwurfs erscheint die Müdigkeit daher positiv, als eine spezielle Art Fleischwerdung. Mein Entwurf ist jedoch ein anderer: Ich will nicht unmittelbar an-sich werden, sondern indem ich Objekt für den Blick anderer werde. Ich bin daher ein Kommunikationsmensch und halte von Körpereinsatz unter freiem Himmel eher wenig. - Während meine Handlung des Aufgebens insofern rational ist, als sie vor dem Hintergrund meines Grundentwurfes erfolgt, fehlt dem Grundentwurf selbst ein solcher Hintergrund - er ist völlig irrational. (Da unterschiedliche Grundentwürfe aus diesem Grunde nicht diskutierbar sind bedeutet die Abweichung meines Grundentwurfs von dem meiner Freunde eine unaufhebbare Differenz.) Während es nicht möglich ist, dass Handlungen dem Grundentwurf wirklich widersprechen, kann es - so Sartre - Handlungsaspekte geben, die indifferent dazu sind. Es ist z. B. nicht von Belang, ob ich meine Wanderung an diesem Punkt des Weges aufgebe oder hundert Meter weiter vorn. Eine Handlung kann zwar erklärt werden, indem man von dem unmittelbaren Zweck Schritt für Schritt zum höchsten Zweck - dem Grundentwurf - aufsteigt. Umgekehrt ist es aber aufgrund dieser Freiheit in den Details nicht möglich, aus dem Grundentwurf die Handlungen des Menschen abzuleiten. Ich kann aus dem Minderwertigkeitskomplex vielleicht folgern, dass sich der Mann wieder eine Arbeit suchen wird, der er nicht gewachsen ist, aber nicht, um welche Arbeit es sich handeln wird. Da die Urwahl (die Wahl des Grundentwurfs) frei erfolgt ist, kann sie auch frei geändert werden (in einer "Konversion"). Ein Mensch kann - so Sartre - jederzeit seinen grundlegenden Weltbezug wechseln, eine einzige konkrete Handlung, die dem bisherigen Urentwurf tatsächlich widerspricht, reicht dafür aus (ich kann mich z. B. plötzlich dafür entscheiden, mit meinen Freunden weiterzuwandern). - Für die Probleme des Mannes mit dem Minderwertigkeitskomplex heisst das, dass seine einzige Chance auf Erlösung darin besteht, seine Urwahl zu revidieren, da jedes Handeln auf Basis des Grundentwurfs - auch die Handlung, sich therapieren zu lassen - Misserfolg und Demütigung zur Folge haben wird. - Dummerweise verhält es sich nun so, dass sich der Wechsel des Grundentwurfs sich aus dem alten Grundentwurf heraus nicht begründen lässt. Die Handlung, die dem Grundentwurf widerspricht, ist nicht mehr auf ihn bezogen, sondern bereits auf den neuen Grundentwurf. - Es ist also unmöglich, eine erneute Urwahl auf dem Boden des bisherigen Grundentwurfs anzustreben (es sei denn z. B. mit dem verborgenen Ziel, wiederum zu versagen). Die totale Irrationalität, die man dem nicht determinierten Handeln vorgeworfen hat, ist bei der Handlung, die eine neue Urwahl bedeutet, wirklich gegeben. Trotz dieser Irrationalität, und trotz des Umstandes, dass ein Wechsel der Urwahl keineswegs ein leichteres Leben bedeuten muss (die Urwahl kann nicht im Hinblick auf das Ziel leichteren Lebens getroffen werden, da es sonst einen noch höheren Zweck als den von ihr gesetzten gäbe), verirrt sich Sartre in lyrische Höhen, wenn er von der neuen Urwahl spricht: "Diese aussergewöhnlichen und wunderbaren Augenblicke, wo der frühere Entwurf sich in der Vergangenheit auflöst im Licht eines neuen Entwurfs, der auf dessen Trümmern auftaucht und sich vorläufig nur andeutet, wo Demütigung, Angst, Freude, Hoffnung sich eng vermählen, wo wir loslassen, um zuzugreifen, und wo wir zugreifen, um loszulassen ..." Die Konversion ist - so Sartre - der "befreiende Augenblick". Hier muss man an die Diskussion der Zeit zurückdenken, in der Sartre - wie wir uns erinnern - eine Aufteilbarkeit der Zeit in Augenblicke strikt ablehnte. Warum taucht der Begriff hier auf einmal auf? - Mit dem Bewußtsein entsteht die gegenwärtige Welt und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Totalität. In der neuen Urwahl - so Sartre - verändert sich nun meine Welt und die zeitliche Totalität erscheint erneut! Jedem Grundentwurf entspricht eine Zeittotalität, so dass der Moment des Wechsels als Punkt zwischen den Zeittotalitäten der einzige Augenblick ist, der nicht unzulässig aus einer Totalität abstrahiert wurde. (Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dieser Gedanke mit Sartres Ontologie der Zeitlichkeit verträglich ist.) Wir hatten gesehen, dass meine Vergangenheit zwar Faktizität, aber - und das unterscheidet sie von anderen Aspekten der Faktizität - mit mir identisch ist. Eine grundlegende Distanzierung von meiner Vergangenheit ist mir also nicht möglich (oder erfolgt im Schlechten Glauben). - Durch den Wechsel der Urwahl ändert sich diese Sachlage: Die Vergangenheit wird jetzt - insofern sie auf den alten Entwurf bezogen war - wirklich Vergangenheit, die mich nicht mehr auf der unreflektierten Ebene "heimsucht" und zu der ich mich in echter Distanz befinde. - Und da die Zukunft wesentlich durch meine Zwecke bestimmt ist - sie besteht nur in meinen zukünftigen Möglichkeiten - wird sie durch die neue Urwahl gleichfalls zu einer anderen. Man sollte nicht annehmen, dass die Urwahl nur in den befreienden Augenblick zwischen den Zeiten erfolgt. Jede einzelne Entscheidung kann die freie Entscheidung für eine neue Urwahl sein, was umgekehrt bedeutet, dass jede freie Entscheidung im Rahmen des alten Entwurfs eine Wiederholung der ursprünglichen Urwahl bedeutet. Die Urwahl wird mit jeder Einzelentscheidung, die in ihrem Sinne erfolgt, erneuert. Es gibt einen umgangssprachlichen Begriff von "Freiheit", der sich von dem hier vorausgesetzten unterscheidet: Ein Mensch ist umso freier, je eher er dazu fähig ist, die von ihm gesetzten Zwecke zu erreichen. Ein in Ketten gelegter Gefangener ist daher weniger frei als sein Wächter. - Sartres Freiheitsbegriff (er nennt ihn den "philosophischen Freiheitsbegriff") läuft dagegen auf die Konsequenz heraus, dass jeder Mensch genauso frei ist wie jeder andere Mensch, ja dass es gar keine unterschiedlichen Grade an Freiheit geben kann: Der Mensch ist frei und diese Freiheit ist lediglich "durch sich selbst beschränkt", womit Sartre meint, dass wir nicht wählen können, nicht frei zu sein. Die hier gemeinte Freiheit ist allein die Freiheit, zu wählen, d. h. sich Zwecke zu setzen und impliziert nicht die Erreichbarkeit dieser Zwecke. Der Begriff der Wahl setzt allerdings - so Sartre - voraus, dass wenigstens ein Versuch unternommen wird, den Zweck zu realisieren, da die Wahl anderenfalls nicht von einem blossen Wunsch abgrenzbar wäre. - Daher konstatiert Sartre, dass der Gefangene genauso frei ist wie sein Wächter, insofern er alles mögliche versuchen kann (z. B. zu entkommen). Aber ist es wahr, dass - wenn wir Freiheit in Sartres Sinn als Wahlfreiheit verstehen - tatsächlich jeder Mensch frei ist? Man kann sich einen vollständig gelähmten, aber hellwachen Menschen (oder ein körperloses, lebendes Gehirn) vorstellen. Kann man ohne die Möglichkeit, eine Bewegung auszuführen, noch davon sprechen, dass der Mensch versuchen kann, einen Zweck zu realisieren? - Sartre würde vermutlich antworten, dass sich dieser Mensch zwar keine durch Mithilfe seines Körpers realisierbaren Zwecke mehr setzen kann, aber immerhin noch solche mentaler Art: Er kann z. B. versuchen, ein ehemals auswendig gelerntes, aber jetzt halb vergessenes Gedicht "im Geiste" zu rekonstruieren. - Hier wie an anderer Stelle vermißt man bei Sartre eine ausführlichere Erwähnung denkbarer Grenzfälle des Menschlichen, wozu z. B. das Bewußtsein kleiner Kinder, hochentwickelter Tiere, Traum, Drogenrausch oder Geisteskrankheit gehören. (Über Geisteskranke äußert Sartre immerhin in einer Fußnote, dass auch sie die Conditio Humana auf ihre Weise realisieren. - Die "Conditio Humana" ist die Natur des Menschen: Sartre nimmt also an, dass sich Geisteskrankheiten z. B. als Resultate bestimmter Urwahlen erklären lassen und nicht etwa auf eine andere Art von Bewußtsein - und damit Menschsein - zurückgeführt werden müssen.) Es scheint zwischen dem Gelähmten und anderen Menschen, die im Vollbesitz ihrer körperlichen Fähigkeiten sind, doch wenigstens den Unterschied zu geben, dass ein ganzer Bereich möglicher Zwecke für den Gelähmten weggefallen ist. Die Zahl der Wahlmöglichkeiten, die der Gelähmte hat, ist offensichtlich geringer. Ein analoger Fall wäre ein Mensch, der weiss, dass er nur noch 10 Minuten zu leben hat, und für den daher z. B. der Entwurf, am folgenden Tag eine Stunde früher aufzustehen, sinnlos ist. - Selbst wenn man Sartre zustimmt, dass es Wahlmöglichkeiten geben muss, damit es Wahlfreiheit geben kann, scheint die Zahl der Wahlmöglichkeiten grosse Unterschiede zuzulassen, die man vielleicht doch zur Definition unterschiedlicher Freiheitsgrade verwenden könnte. Für die Wahlfreiheit ist es - so Sartre - nicht nur nötig, dass es Wahlmöglichkeiten gibt, sondern auch dass deren Realisierung nicht unmittelbar erfolgen kann. Anderenfalls wäre man auf einer traumhaften Ebene - das Setzen eines Zwecks kann mit der Realisierung des Zwecks nicht identisch sein, sonst verliert der Begriff "Zweck" seinen Sinn: "[...] denn wenn die Zwecke, die ich verfolge, durch rein willkürliches Wünschen erreicht werden könnten, wenn es genügte, zu wünschen, um zu erhalten, und wenn keine definierten Regeln den Gebrauch der Utensilien bestimmten, könnte ich nie in mir den Wunsch vom Willen, das Erträumen vom Handeln, das Mögliche vom Wirklichen unterscheiden." Sartre prägt für den notwendigen "Bruch zwischen der bloßen Konzeption und der Realisation" den Begriff "Widrigkeitskoeffizient": "Ein freies Für-sich kann es nur als engagiert in eine Widerstand leistende Welt geben." - "Ohne Hindernisse keine Freiheit." Der Widrigkeitskoeffizient führt nun zu einer besonderen Schwierigkeit: Ob mir ein Ding als Hindernis oder als Hilfe erscheint, hängt von meiner Zwecksetzung ab. Der Felsblock, der den Weg versperrt, tut das nur, wenn ich die Absicht habe, auf die andere Seite zu gelangen. Falls meine Absicht dagegen darin besteht, mir einen möglichst guten Überblick über die Landschaft zu verschaffen, ist der Felsblock nicht nur kein Hindernis, sondern sogar eine Hilfe, da ich mein Ziel realisieren kann, indem ich ihn besteige. - Trotzdem kann ich auch in letzterem Fall den Plan aufgeben und sagen, dass der Felsblock "zu schwierig zu besteigen" ist. Ist dieses "zu schwierig zu besteigen" eine Eigenschaft des Felsblocks an-sich oder lediglich ein Resultat meiner Zwecksetzung (in diesem Falle des Umstandes, dass mir das Ziel nicht wichtig genug ist - wobei seine Wichtigkeit natürlich von meinem Grundentwurf abhängt)? Sartre glaubt, dass beides der Fall ist, dass es mir aber unmöglich ist, die beiden Komponenten des Widrigkeitskoeffizienten zu unterscheiden. Die Widrigkeit des Felsblockes hat eine Wurzel im Sein-an-sich, ich bin aber prinzipiell nicht fähig, sie isoliert zu erfassen. Warum? - Die Zwecke, die ich mir gesetzt habe, enthüllen sich mir erst in der Art, wie mir die Dinge der Welt erscheinen. Wenn die Besteigung des Felsblocks mir zu schwer ist, sagt mir das etwas über den Wert, den ich der Besteigung beimesse - und auf andere Weise kann ich diesen Wert gar nicht erfassen! - Sartre hält es für notwendig, die An-sich-Komponente der Widrigkeit anzunehmen, weil es mehrere Möglichkeiten geben kann, ein und denselben Zweck zu verwirklichen (z. B. zwei Felsen, auf die ich steigen könnte, um die Landschaft zu überblicken). Wenn diese Mittel unterschiedliche Widrigkeitskoeffizienten aufweisen (der eine Fels z. B. schwerer zu besteigen ist als der andere) - kann das - da der Zweck ja identisch ist - nicht auf meinen Entwurf zurückgehen. Stellen wir uns folgenden einfachen Fall vor: Ich plane einen längeren Spaziergang, aber ein Blick aus dem Fenster belehrt mich, dass ein Unwetter bevorsteht. Achselzuckend gebe den Plan auf. - Zeigt dieses Beispiel nicht, dass mich Widrigkeiten zur Aufgabe meiner Entwürfe zwingen können, und heisst das nicht, dass sie eine Einschränkung meiner Freiheit bedeuten? - Sartre bestreitet das: Zum einen weist er darauf hin, dass ausschließlich untergeordnete Entwürfe der Widrigkeit der Umstände zum Opfer fallen können, aber nicht der in der Urwahl festgelegte Grundentwurf. Warum ist das so? Weil die Art, in der ich Widrigkeiten bewerte, selber vom Grundentwurf bestimmt wird. Sartres zweites Argument besagt, dass mich die Widrigkeiten nicht wirklich zur Aufgabe von Entwürfen zwingen können. Es ist nicht wahr, dass ich nicht auch spazierengehen kann, wenn es stürmt und regnet, und jemand mit einem von dem meinen abweichenden Grundentwurf könnte sich durch das schlechte Wetter sogar besonders motiviert fühlen (z. B. aufgrund eines gewissen Masochismus). Lebendige und tote Vergangenheit Das unentwirrbare Zusammenwirken von An-sich und Subjekt, das sich im Falle der Widrigkeit zeigt, weist - so Sartre - auf ein Paradox der Freiheit hin: Unsere Freiheit gibt es lediglich in einer bestimmten Situation, diese gibt es jedoch nur durch die Freiheit (weil unsere Zwecke bestimmen, wie uns die Welt erscheint). - Das Paradox existiert auch für die Vergangenheit als einem Aspekt unserer Situation: Nur wenn ich alles von der Vergangenheit abziehen könnte, was von meinen Entwürfen abhängt, könnte ich zu einer reinen Vergangenheit an-sich gelangen. Diese stellt also ein unrealisierbares Ideal dar. Sartre gibt ein Beispiel für die Art, wie uns die Vergangenheit immer interpretiert durch den gegenwärtigen Entwurf erscheint: Jemand hat mit 30 Jahren ein Erweckungserlebnis, das ihn zu irgendeiner Variante strengen Glaubens führt. Wenn dieser Mensch in seiner Pubertät bereits eine religiöse Krise hatte, muss er diese jetzt als Vorspiel der Bekehrung wahrnehmen, und kann sie nicht z. B. als vorübergehende Verwirrung aufgrund sexueller Ängste sehen. - Man könnte versucht sein, zu glauben, dass die Abstraktion einer reinen Vergangenheit leichter sein müsste als die Abstraktion einer reinen Widrigkeit: Der Begriff der Widrigkeit setzt nämlich Wertung voraus, und ist ohne einen Bedeutung verleihenden Entwurf schlicht sinnlos. Der Begriff einer "objektiven" Widrigkeit lässt sich nur gewinnen, wenn man eine bestimmte Bewertung zur Norm macht. (So ist die Charakterisierung von Wanderwegen als "schwierig", wie man sie in Reiseführern antreffen kann, offenbar von einer bestimmten Annahme über die durchschnittliche Motiviertheit von Touristen abhängig, die als Norm fungiert.) Meine Vergangenheit erhält durch meinen Entwurf ihren Sinn, aber kann ich diesen Sinn von den objektiven Ereignissen nicht relativ leicht abtrennen? Vermutlich würde Sartre sich hier auf den Unterschied der Bewußtseinsebenen beziehen. Eine "objektive" Vergangenheit kann mir lediglich auf der reflexiven Ebene erscheinen, während meine Vergangenheit auf der präreflexiven Ebene völlig von meinen Entwürfen abhängt. Auf dieser Ebene "sucht" mich die Vergangenheit "heim", ohne dass sie thematisiert wird (sie bildet den "Hintergrund" meines Bewußtseins und motiviert mich beispielsweise). - Und Sartre glaubt, dass die objektive, allgemeine Vergangenheit nur eine sekundäre Ableitung von der unreflektiert gegebenen darstellt (siehe Diskussion der Zeit). Sartre unterscheidet im Hinblick auf ihre Einordnung in meinen aktuellen Grundentwurf tote und lebendige Vergangenheit: Lebend ist die Vergangenheit, wenn sie vom aktuellen Grundentwurf getragen und durch diesen permanent neu bestätigt wird (Beispiel: Eheschließung). Tot ist sie, so können wir ergänzen, wenn sie auf einen vergangenen Grundentwurf verweist, den ich in einer neuen Urwahl abgelegt habe. Ich nehme an, dass man Sartre korrekt interpretiert, wenn man die Heimsuchung durch die Vergangenheit auf der unreflektierten Ebene allein auf die lebendige Vergangenheit bezieht. - Bei einem erneuten Wechsel des Grundentwurfs können tote Bestandteile der Vergangenheit plötzlich wieder lebendig werden, so dass der Sinn der Vergangenheit niemals endgültig festgelegt ist (auch nicht mit meinem Tode, da meine Vergangenheit ihren Sinn dann aus den Entwürfen der Anderen bezieht). Sartre konstatiert, dass sich dieses Phänomen auch für die kollektive Vergangenheit zeigen lässt. So wurde die Unterstützung, die Frankreich den USA während des Unabhängigkeitskrieges gewährte, durch den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg auf Seiten der Entente wieder lebendig, während sich dieselbe historische Tatsache im Falle eines Eintritts auf Seite der Mittelmächte zum toten Fragment gewandelt hätte. Analoges findet man in der deutschen Nachkriegsgeschichte: So mutierten die Bauernkriege für die DDR-Ideologie zu einem Vorspiel des Sozialismus, während andererseits grosse Teile der deutschen Geschichte für das kollektive gesamtdeutsche Bewußtsein mit dem Ende des 2. Weltkrieges plötzlich tot waren. Nur von der lebendigen Vergangenheit kann man sagen, dass sie sich in Kontinuität zur Gegenwart befindet. - Herausragende Ereignisse der lebendigen Vergangenheit bezeichnet Sartre als "Monumente". Das Sein-für-Andere als äußere Grenze der Freiheit Sartre beschäftigt sich nun mit den scheinbaren Begrenzungen meiner Freiheit, die sich aus der Tatsache ergeben, dass ich in einer von Mitmenschen bevölkerten Welt lebe. Wir erinnern uns an die Situation des "Blicks", die mit dem Erscheinen meines Seins-für-Andere einhergeht, und daran, dass dieses Sein-für-Andere von mir nicht kontrolliert werden kann (allerdings eliminiert, indem ich den Anderen meinerseits verobjektiviere). - Obwohl Sartre darauf insistiert, dass die Freiheit lediglich durch sich selbst begrenzt werden kann, behauptet er, dass das Sein-für-Andere eine "faktische, reale" Begrenzung meiner Freiheit darstellt. - Wie lässt sich beides miteinander vereinbaren? - Der wesentliche Punkt ist hier, dass das, was meine Freiheit begrenzt, eine andere Freiheit ist: Die Freiheit wird also immer noch nur durch sich selbst begrenzt. Aber war die nur durch sich selbst begrenzbare Freiheit, von der Sartre bislang sprach, nicht die Freiheit eines Einzelnen, während der Begriff hier offensichtlich sowohl meine Freiheit als auch die des Anderen umfasst? Sartres Ausdrucksweise ist hier etwas irreführend. - Die Sache wird klarer, wenn wir hören, dass es sich bei der Wahrnehmung durch Andere lediglich um eine äußere Grenze meiner Freiheit handelt, die meine eigentliche Freiheit nicht tangiert, da ich auch dieser äußeren Grenze gegenüber noch völlig frei bin. Ich kann mich nämlich entscheiden, ob ich in der Situation des "Angeblicktwerdens" verbleibe, oder durch meinerseitiges "Anblicken" des Anderen daraus ausbreche. Und auch wenn ich mein Sein-für-Andere übernehme, bin immer noch ich es, der darüber entscheidet, in welcher Form das geschieht. Die äußere Grenze meiner Freiheit setzt sich meine Freiheit also selbst. - Die Übernahme des Seins-für-Andere kann übrigens - so Sartre - auch durch Ablehnung geschehen: Wenn ich als Jude das mir vom Antisemiten verliehene Jude-Sein wütend leugne, habe ich es noch nicht zum Verschwinden gebracht, sondern erkenne es dadurch an, dass ich eine Stellung zu ihm beziehe. Erst, wenn ich den Antisemiten zum Gegenstand meines "Blicks" mache, löst es sich auf (so dass in diesem Falle auch mein Zorn verschwindet). - Man denke hier daran, wie leicht man eine Beleidung nimmt, wenn man den Äußernden als determiniert wahrnimmt, z. B. als psychisch krank oder als Opfer einer ungünstigen familiären Prägung. (Umgekehrt sollte man beunruhigt sein, wenn eigenes Fehlverhalten von Anderen nicht mehr saktioniert wird. Die Gleichgültigkeit weist darauf hin, dass man für sie nur noch Objekt ist.) In diesem Zusammenhang führt Sartre den Begriff der "Unrealisierbaren" ein. Unrealisierbar ist mein Sein-für-Andere, da ich es nicht intuitiv erfahren kann. Ich kann mich nicht als Jude fühlen, in dem Sinne wie der Antisemit mich "als Juden" sieht, obwohl ich die Merkmale dieses Seins erschließen kann. Auch die eigene Schuld ist ein Unrealisierbares, was Sartre zu einer interessanten Interpretation des schlechten Gewissens führt: Es entsteht nicht etwa durch meine Schuld als solche, sondern dann, wenn ich mich für schuldig halten will (weil ich die gängige Moral akzeptiere), es aber nicht kann. Die wirkliche Identifikation mit meinem Sein-für-Andere kann nicht gelingen und das schlechte Gewissen ist das Bewußtsein dieses Scheiterns. Es scheint meine Freiheit zu beeinträchtigen, dass ich in einer Welt lebe, in der es zahlreiche Utensilien gibt, die nicht nur Utensilien für mich sind, sondern für eine größere Anzahl von Menschen und deren Utensil-Charakter nicht von mir festgelegt wurde: Ihre Bedeutung steht bereits fest, ist objektive Eigenschaft dieser Dinge, bevor ich sie selbst verwende. So muss ein Auto auf bestimmte Weise bedient werden, um damit fahren zu können, es gibt eine Gebrauchsanweisung dafür. Analoges gilt für das Strassennetz, das ich mit dem Auto befahre, für die gesamte gesellschaftliche Organisation, die dahintersteht und auch für die Sprache, die ich spreche. Wenn ich mich über die für diese allgemeinen Utensilien geltenden Vorschriften hinwegsetze, kann ich sie nicht mehr nutzen und schränke meinen Handlungsspielraum stark ein. (Es wird mir nicht gelingen, mit einem Auto an einen bestimmten Ort zu gelangen, wenn ich Steuer und Pedale "kreativ" bediene oder die Strassenverkehrsordnung ignoriere.) - Sartre bezeichnet diese allgemeinen Utensilien als "Techniken". - Meine Zugehörigkeit zu den Kollektiven definiert sich über die Art der Techniken, die ich verwende. So bin ich z. B. Franzose, weil ich französisch spreche und auf französische Art Ski fahre (was immer das ist), während ich zur Menschheit gehöre, weil ich überhaupt eine Sprache spreche und Dinge als Werkzeuge verwende. Ich werde in solche Kollektive hineingeboren, und das heisst, in den Bereich bestimmer Vorschriften, wie "man" etwas macht. Das Nichtbefolgen der Vorschriften reduziert meinen Handlungsspielraum, das Befolgen der Vorschriften jedoch auch: Zwar kann ich viele Zwecke leichter verwirklichen, wenn ich mich in die gesellschaftliche Organisation einfüge, doch dieser Vorteil kann sich in bestimmten Fällen in einen Nachteil verwandeln, nämlich z. B. wenn ich eingezogen und in den Krieg geschickt werde (eine Erfahrung, die Sartre mit weiten Teilen seiner damaligen Leserschaft teilte). - Sind die gemeinsamen Utensilien und ihre Gebrauchsanweisungen also in beiden Fällen fatal für meine Freiheit? - Sartre ist natürlich nicht dieser Ansicht. Er versucht eine Klärung, indem er sich einer bestimmten Technik zuwendet, nämlich der Sprache. Ich hatte zu Beginn gesagt, dass Sartre kein Sprachphilosoph ist: Sartre lehnt es ab, der Sprache eine besondere philosophische Bedeutung zu geben. In seiner Analyse der menschlichen Verhaltensweisen unterscheidet er die Sprache nicht von anderen Formen des menschlichen Ausdrucks. Hier wiederum betrachtet er die Sprache als eine menschliche Technik unter anderen, für die philosophisch nur das gilt, was für alle Techniken gilt. (Philosophische Theorien, die Sprache ernster nehmen sind z. B. die Auffassung, dass die Sprache unsere Wahrnehmung der Realität bestimmt, oder die Auffassung, dass philosophische Probleme aller Art auf ein Missverstehen des Sprachgebrauchs zurückgehen.) Übrigens scheint Sartre von den Funktionen der Sprache lediglich Ausdruck und Bezeichnung zu kennen. Sartre wendet sich gegen die These, dass es objektive Sprachgesetze gibt, denen der Mensch sich wie Naturgesetzen unterordnen muss. - Die Linguistik unterscheidet zwei Arten von Sprachgesetzen, nämlich die Gesetze eines Sprachsystems zu einem bestimmten Zeitpunkt, aus denen sich z. B. ergibt, dass "Milch mir Zucker!" in der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts keine Verwendung hatte, obwohl der Ausdruck aus damals gebräuchlichen deutschen Wörtern besteht, und die Gesetze der Sprachentwicklung, aufgrund derer man z. B. prognostizieren kann, dass der Genitiv aus dem Deutschen verschwinden wird, falls es die Sprachpuristen nicht verhindern. - Sartre hält es für falsch, die Gesetze beider Kategorien so zu interpretieren, als determinierten sie unser sprachliches Verhalten: Denn was liegt sprachlichen Gesetzen wirklich zugrunde? Sartres Antwort lautet: Der Mensch, der spricht. Die Sprechhandlung ist das Primärphänomen der Sprache, und sie geht auf Wahlfreiheit zurück. Da nun - so Sartres Argumentation - sich die Gesetze der Sprache erst aus dem freien Handeln der Sprecher ergeben, können sie die Handlungen der Sprecher nicht determinieren. - Das Verhältnis sprachlicher Gesetze zum Sprechen kann also nicht mit z. B. dem Verhältnis des Gravitationsgesetzes zur menschlichen Fortbewegung verglichen werden: Die Fortbewegung wird in bestimmter Weise durch die Gesetze der Schwerkraft determiniert (ein Mensch, der spazierengeht, muss sich diesen Gesetzen unterordnen, kann sie dadurch allerdings auch instrumentalisieren), aber Menschen, die sich bewegen, bringen diese Gesetze dadurch nicht hervor. Genau das ist aber der Fall, wenn Menschen sprechen! Doch Sartre führt uns offenbar irre, wenn er suggeriert, dass anderenfalls eine Einschränkung meiner Freiheit vorliegen würde - sonst wäre nämlich auch die Gravitation eine Einschränkung meiner Wahlfreiheit. Man kann sich vorstellen, dass Menschen ausschliesslich eine angeborene Sprache mit strenger und unveränderlicher Syntax sprechen: Heisst das, dass die Sprechakte dieser Menschen, weil hier ein Satz nicht "die freie Erfindung seiner Gesetze" ist, auch nicht auf freie Wahl zurückgehen würden? Ich glaube kaum. Ich kann Gesetze (wie die Sprachgesetze) in meinen freien Handlungen instrumentalisieren, gleichgültig, ob diese Gesetze wie Naturgesetze äußerlich fixiert sind oder durch mein freies Handeln möglicherweise eine Änderung erfahren. - Wirklich im Gegensatz zu Sartre steht dagegen eine Auffassung, nach der alles Verhalten eines Menschen durch sprachähnliche Strukturen determiniert ist, deren Gesetze beschrieben werden können und die dem Verhaltenden nicht bewußt sind. (Solche Thesen werden von Denkern "neostrukturalistischer" Ausrichtung vertreten.) Sartre erwähnt noch ein Problem, das sich aus dem Verhältnis von Denken und Sprechen ergibt: Wenn ich spreche, muss ich meine Gedanken kennen, damit ich sie ausdrücken kann. Aber wie soll ich meine Gedanken anders kennenlernen, als dadurch, dass ich sie ausspreche? Die Sprache führt also auf das Denken zurück, das Denken aber wiederum auf die Sprache, was auf einen Zirkel hinausläuft. - Sartre erhebt nicht den Anspruch, diesen Zirkel aufzulösen, sondern erklärt ihn zu einer besonderen Form des Paradoxes der Freiheit: Dieses besteht - wie wir uns erinnern - darin, dass mir die Situation als durch meine Zwecke geprägt erscheint, die Situation aber der Ausgangspunkt für die freie Wahl meiner Zwecke ist. Situation und Wahl verweisen in ihrer Beziehung auf das jeweils andere Glied. - Sartre drückt das hier so aus: Ich bestimmte das Existierende (die Situation) durch das Nicht-Existierende (den Zweck) und das Nicht-Existierende wiederum durch das Existierende. - Wo liegt nun die Analogie zum Zirkel Sprache/Denken? - Ich vermute, dass Sartre folgendes im Auge hat: Der vorsprachliche Gedanke ist Teil der Situation, der Zweck wiederum entspricht dem zu äußernden Satz (vor seiner Äußerung). Wie erwähnt, betrachtet Sartre die Sprache hier nur als Beispiel für alle menschlichen Techniken. Für sie alle gilt, dass eine Technik erst im konkreten Handeln der Einzelnen entsteht und schon deswegen unsere Freiheit nicht beeinträchtigen kann. Er verweist ausserdem darauf, dass das Anwenden einer Technik in der konkreten Situation vom Anwender nicht als solches erfasst werden muss, sondern im Regelfall für ihn einfach Handeln in Bezug auf einen bestimmten Zweck ist. (Ich erfasse mich nicht als "die Technik des Hämmerns anwendend", sondern schlage einfach einen Nagel ein.) Die Technik als ein Objekt erscheint erst, wenn ich während meines Tuns "angeblickt" werde und existiert dann lediglich für den Anderen. Wenn das der Fall ist, kann sich der Beobachter frei entscheiden, ob und für welche Zwecke er eine Technik übernimmt. - Sartre zieht das Resümee, dass die Techniken keine Selbständigkeit gegenüber dem Menschen haben, gleichgültig ob ich sie als Objekte erfasse oder unreflektiert ausübe. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass ein Mensch der Steinzeit weniger frei war als ein Mensch des 20. Jahrhunderts, weil die Zahl der ihm zur Verfügung stehenden Techniken vergleichsweise klein war. Sartre bestreitet das: Welche Techniken es gibt, ist Eigenschaft der Welt, in der ich lebe, und diese ist der notwendige Ausgangspunkt meiner freien Wahlen. Ob es viele oder wenige Techniken gibt, ist für meine Freiheit ihnen gegenüber gleichgültig: Die Welt eines Steinzeitmenschen war genauso vollständig wie die Welt eines modernen Menschen und erscheint erst in der Rückschau als mangelhaft. Man sollte meinen, dass zumindest der Tod doch eine unbestreitbare Grenze meiner Freiheit darstellt. - Doch bevor Sartre zu diesem Thema kommt, setzt er sich zunächst mit Heideggers Auffassung vom Tod auseinander. In Heideggers Philosophie spielt der Tod eine entscheidende Rolle, da er es dem Menschen ermöglicht, zur "Eigentlichkeit" (Heideggers Version des Authentizitäts-Ideals) zu gelangen: Die totale Individualität ("Jemeinigkeit") meines Todes, die ich über die Angst erfahre, kann mich dazu bringen, mein ganzes Leben als individuell zu erkennen und mich so dem "Man" zu entziehen (der Existenz als Jedermann). - Die Individualität meines Todes drückt sich für Heidegger darin aus, dass niemand mir mein Sterben abnehmen kann. An diesem Punkt setzt Sartres Gegenargumentation an: Er verweist auf den Umstand, dass es in einem bestimmten Sinne durchaus möglich ist, für einen anderen Menschen zu sterben (wenn sich z. B. ein Leibwächter in die Schussbahn einer Kugel wirft, die für seinen Klienten bestimmt war, und so diesem sein Sterben abnimmt), während es in einem anderen Sinne zwar wirklich unmöglich ist, dass ein Anderer meinen Tod hat, aber nur in dem banalen logischen Sinne, in dem es auch unmöglich ist, dass ein Anderer meine Emotionen hat. - Sartre schlussfolgert daraus, dass der Tod gleichrangig mit anderen Phänomenen des menschlichen Lebens ist, und zu meiner Individualisierung genauso viel oder wenig beitragen kann, wie diese. Wenn ich die Individualität meines Todes angstvoll erfahre, setzt das bereits voraus, dass ich mich als Individuum erfasst habe. Heideggers Auffassung geht weiter: Meine Eigentlichkeit (wenn ich zu selbiger gelangt bin) besteht wesentlich darin, dass ich mich auf den Tod hin entwerfe und das läuft - so Sartre - darauf hinaus, dass ich den Tod in meine Pläne integriere und ihn erwarte. Aber kann der Tod überhaupt erwartet werden? Sartre leugnet das für den Normalfall. Nur für besondere Situationen, in denen der Zeitpunkt meines Todes klar absehbar ist (z. B. vor meiner Hinrichtung) kann von einer Erwartung des Todes gesprochen werden, in allen anderen Fällen ist der Tod etwas, auf das ich nur gefaßt sein kann. - Sartre illustriert den Unterschied zwischen Erwartung und Gefaßtsein mit dem Beispiel Bahnfahren: Ich kann auf einen Zug warten, aber nicht auf die unvorhergesehene Verspätung des Zuges (auf diese kann ich lediglich gefaßt sein). Sartre ist sich bewußt, dass diese Charakteristik des Todes nur in Abhängigkeit von den jeweiligen Zeitumständen gilt: Die Dinge lägen anders, wenn Menschen nur an Altersschwäche oder durch Hinrichtung sterben würden. - Für Sartre, der "Das Sein und das Nichts" als Soldat und im Kriegsgefangenenlager konzipierte, war die Unvorhersehbarkeit des Todes ein dominanterer Aspekt als für seinen europäischen Leser zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Tod kann also nicht dafür verwendet werden, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Er ist nach Sartres Auffassung nur das Ende meiner Möglichkeiten und als solches absurd. Er durchkreuzt meine Pläne und kann nicht in sie einbezogen werden, wie Heidegger es suggeriert. - Doch dies gilt wieder nur im Regelfall, da es natürlich möglich ist, dass ich mich auf einen bestimmten Tod hin entwerfe, wie es z. B. ein Märtyrer tut oder ein Selbstmörder. - Kann der Tod wenigstens in diesen Fällen dazu beitragen, meinem Leben einen Sinn zu geben? Leider gleichfalls nicht, da ein Selbstmord (oder ein freiwillig auf sich genommenes Martyrium, das man als eine Art Quasi-Selbstmord auffassen kann) eine Handlung ist. Der Sinn einer Handlung bestimmt sich aber - wie wir gesehen haben - aus der Rückschau und ist selbst dann nur provisorisch, da er sich durch Änderung meiner Urwahl plötzlich verändern kann. - Mein Selbstmord könnte einen solchen vorläufigen Sinn für mich folglich nur dann gewinnen, wenn ich ihn überleben würde, ansonsten bleibt ihm lediglich der Sinn, der ihm von Anderen verliehen wird (und der natürlich genauso provisorisch ist). - Und wenn die Handlung des Selbstmordes keinen Sinn für mich haben kann, kann sie auch meinem Leben keinen Sinn verleihen. In diesem Zusammenhang charakterisiert Sartre das Verhältnis der Lebenden zu den Toten: Da der Sinn des Lebens der Verstorbenen nur noch ein Sinn für die Lebenden ist, konstatiert Sartre eine Verantwortung der Lebenden für die Toten (was nicht moralisch gemeint ist). Durch Vergessen kann die persönliche Existenz der Toten verschwinden - sie löst sich in Kollektiven auf ("die grossen Feudalherren des 13. Jahrhunderts"). - Wir hatten gesehen, dass der "Blick" eine momentane Entfremdung meiner Person bewirkt, da diese plötzlich zum Objekt für Andere wird. Der Tod treibt diese Entfremdung auf die Spitze, da der Tote nicht mehr die Möglichkeit hat, "zurückzublicken". Sein Objekt-Sein für die Anderen ist alles, was von ihm bleibt. Sartre bestreitet, dass der Tod - wie Heidegger meint - ontologische Relevanz hat: Es handelt sich bei ihm um ein kontingentes Faktum (ich könnte in eine Welt geworfen sein, in der niemand stirbt ohne dass das die ontologische Natur meines Für-sich ändern würde). Heideggers Irrtum ergibt sich seiner Meinung nach aus der Verwechslung von Tod und Endlichkeit: Endlich ist der Mensch nicht, weil er sterblich ist, sondern weil er in seinen Entwürfen eine Möglichkeit aus vielen herausgreifen muss und diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden kann (ob das Heideggers Auffassung gerecht wird, lasse ich dahingestellt). Sartre nimmt zu der Frage eines möglichen Lebens nach dem Tode nicht Stellung, sondern verweist nur darauf, dass die Philosophiegeschichte von einer Sichtweise, die den Tod von seiner anderen Seite aus betrachtete (vom Todeszustand aus) zu einer Sichtweise übergegangen ist, die den Tod ausschließlich von der Seite des Lebens aus, als dessen Grenze erfasst. - Man kann hier Sartre vielleicht insofern ergänzen, als die Frage eines Lebens nach dem Tod für seine Auffassung keine Rolle spielen kann, da ein Leben nach dem Tod einfach bedeuten würde, dass der Tod als Ende der Möglichkeiten noch nicht eingetreten ist. Der Ausdruck "Leben nach dem Tod" ist eine Metapher und bezieht sich auf die Möglichkeit, dass die Vernichtung unseres Körpers nicht mit dem Tode des Bewußtseins zusammenfällt (und der Tod bei Sartre ist natürlich der Tod des Bewußtseins). Wir haben bis jetzt die Frage noch nicht beantwortet, ob der Tod eine Beschränkung meiner Freiheit darstellt. Sartre konstatiert, dass der Tod zwar eine faktische Grenze für mich bildet, dass diese Grenze aber von mir nicht realisiert werden kann - ich kann ihr nämlich nie begegnen: "Da er das ist, was immer jenseits meiner Subjektivität ist, gibt es keinen Platz für ihn in meiner Subjektivität." Folglich handelt es sich dabei nicht um eine Grenze meiner Freiheit. - Diese Bemerkung Sartres läuft in dieselbe Richtung wie andere klassische Aussprüche zum Tod: Am bekanntesten ist das Diktum Epikurs, nach dem wir uns über unseren Tod nicht beunruhigen müssen, da er nicht da ist, solange wir da sind, und da wir nicht mehr da sind, wenn er da ist. Dasselbe drückt Wittgenstein im "Tractatus" aus: Unser Leben ist so unendlich, wie unser Gesichtskreis ist (denn unser Blickfeld verliert sich an den Rändern nur im Unscharfen, endet aber nicht). Und der späte Brecht beruhigte sich über seinen absehbaren Tod mit der Feststellung, dass ihm ja nichts fehlen könne, vorausgesetzt, er selber fehle. Situation und Verantwortlichkeit Die Situation ist meine Faktizität, so wie sie sich für mich darstellt und das heisst, im Hinblick auf meine Zwecke. Die Situation ist also die durch mich bewertete Faktizität, wobei ich aufgrund des Paradoxes der Freiheit die Wertungskomponente nicht von der reinen Faktizität trennen kann (wir können ergänzen, dass der Begriff einer "objektiven" Faktizität für Sartre eine sekundäre Ableitung darstellt - vergleichbar mit dem wissenschaftlichen Weltbegriff, der nicht auf einen Standpunkt bezogen ist -, während die Situationen der Individuen das Primäre sind). Im Hinblick auf diese Untrennbarkeit kann Sartre davon sprechen, dass die Situation "weder objektiv noch subjektiv" ist, sondern eine Synthese aus beidem darstellt. Im strengen Sinne ist es nicht möglich, mir eine Verantwortung für meine Faktizität zu unterstellen: Ich bin z. B. nicht dafür verantwortlich, als Deutscher geboren zu sein. (Die Einschränkung "im strengen Sinne" berücksichtigt den Umstand, dass sich Sartre aus Gründen der Pointierung gelegentlich anders ausdrückt.) Im Gegensatz dazu ist meine Verantwortung für die Situation total: Ich bin allein verantwortlich für das, was ich aus meinem "In-Deutschland-geboren-sein" mache. (Ich weise noch einmal darauf hin, dass "Verantwortung" nicht "moralische Verantwortung" meint. Sartre definiert die Verantwortlichkeit hier als "sich bewußt sein, dass man der Urheber ist".) Aus dieser Verantwortlichkeit für die Situation zieht Sartre eine radikale Konsequenz: Er spricht dem Menschen das Recht ab, sich über eine Situation zu beklagen, gleichgültig, wie fatal sie ist. Wie kommt er dazu? Die Antwort lautet, dass alles, was an einer Situation zum Sich-Beklagen anregen kann, auf einer vorangegangenen Wertung unsererseits basieren muss und das heisst (da unsere Wertungen ja mit unseren Zwecken korrelieren) auf unserer freien Wahl. - Sartre illustriert das mit einem Beispiel, das auf reale Diskussionen mit seinen Armee-Kameraden zurückgeht: Ich bin eingezogen worden und befinde mich aufgrund dessen als aktiver Kriegsteilnehmer in Lebensgefahr. Ich klage daher das Schicksal an, dass es mich in diese Situation gebracht hat. - Doch warum ist es schrecklich für mich, in Lebensgefahr zu sein? Weil ich meinem Leben einen höheren Wert erteilt habe als dem Zweck meines Kriegseinsatzes. Ich hätte mich auch dafür entscheiden können, den Sieg höher zu schätzen als mein Leben. In diesem Falle wäre die Lebensgefahr eine Widrigkeit, die mit der Realisierung eines bestimmten Zwecks verbunden ist. - Man kann noch weiter gehen: Ich könnte meinem Leben sogar jeden Wert absprechen und daher den Krieg willkommen heissen, da er mir erlaubt, mich seiner zu entledigen, ohne zum Mittel des Selbstmordes greifen zu müssen (das ich vielleicht aus moralischen Gründen ablehne). Die Lebensgefahr wäre in diesem Fall noch nicht einmal mehr widrig, sie wäre im Gegenteil ein Hilfmittel für das Erreichen meines Zwecks. Sartre charakterisiert die adäquate Haltung eines Menschen, der diese Wahrheit verinnerlicht hat: "Wer in der Angst seine Lage realisiert, in eine Verantwortlichkeit geworfen zu sein, die sich bis zu seiner Geworfenheit zurückwendet, kennt weder Gewissensbisse noch Bedauern, noch Entschuldigungen mehr; er ist nur noch eine Freiheit, die sich als völlig sie selbst entdeckt und deren Sein auf eben dieser Entdeckung beruht. Aber, wir haben zu Beginn dieses Buchs darauf hingewiesen, die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit." - Dass sich die Verantwortlichkeit auch auf die "Geworfenheit" erstreckt, spielt auf das Faktum meiner Geburt an, insofern meine Geburt Teil meiner Situation ist (wie erwähnt, bin ich für das Faktum der Geburt nicht verantwortlich, aber für alles, was meine Geburt für mich ist). - Wir können übrigens davon ausgehen, dass der so beschriebene Mensch das Ideal der Authentizität erreicht hat. Ich werde am Ende meines Textes auf dieses Ideal zurückkommen. Existentielle Psychoanalyse: Erklärung aus dem Grundentwurf Zu Beginn seiner Behandlung der existentiellen Psychoanalyse - was das ist, werden wir gleich sehen - resümiert Sartre noch einmal die Differenz zwischen der in der Psychologie und Psychoanalyse seiner Zeit verbreiteten Interpretation der Begierden und seiner eigenen. Begierden werden üblicherweise als Erklärung für menschliches Verhalten benutzt, wobei man zwei Grundannahmen macht: Zum einen, dass Begierden eine Art seelischer Entitäten darstellen, und als solche ausreichend beschrieben sind und zum anderen, dass die menschlichen Begierden nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten auseinander hervorgehen, nämlich konkrete Begierden aus abstrakteren. Wir können an einem Beispiel zeigen, wie eine solche Erklärung aussehen kann: X verdient mit legaler Arbeit mehr Geld, als er ausgeben kann, hinterzieht aber ausserdem noch Steuern - man erklärt das mit seiner übermässigen Geldgier. Doch warum ist X so geldgierig, aber nicht Y, der genauso viel verdient wie X, seine Steuern aber zahlt? Das liegt sicherlich daran, dass X im Unterschied zu Y ein übersteigertes Bedürfnis nach Anerkennung hat (was natürlich voraussetzt, dass es Leute gibt, die das wahre Einkommen von X kennen und davon beeindruckt sind). Der Drang, Steuern zu hinterziehen wird also mit der Gier nach Geld erklärt, und diese wiederum mit der Begierde nach Anerkennung. - Was ist daran unbefriedigend? - Sartre führt drei Argumente an: Zum einen kann die Rückführung des Konkreten auf das Abstrakte keine vollständige Erklärung des Konkreten sein. Des weiteren ist der Punkt, an dem die Erklärung endet (im Beispiel bei dem Bedürfnis nach Anerkennung, in der Freudschen Psychoanalyse bei der Libido) willkürlich. Das dritte Argument bezieht sich auf das Bild der Begierde als einer psychischen Entität und legt dar, dass dieses Bild die Zweckbezogenheit einer Begierde ignoriert. Das erste Argument wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sich eine gegebene Geldgier von X keineswegs in einem Drang zur Steuerhinterziehung äußern muss. Es ist genauso gut denkbar, dass X sie durch viele bezahlte Überstunden befriedigt, oder dadurch, dass er sich eine Sturmhaube überzieht und Banken überfällt. Die Individualität der konkreten Begierde fällt bei der Rückführung auf das Abstrakte also unter den Tisch. Und je weiter die Erklärung ins Abstrakte aufsteigt, desto grösser wird der nicht erklärte Anteil des Konkreten! - Sartres zweites Argument gegen diese Art von Erklärungen fragt nach der Begründung dafür, dass ich in meiner Erklärung bei einer bestimmten abstrakten Begierde (hier die Begierde nach Anerkennung) stehenbleibe. Warum sollte es keine weitere, noch abstraktere Begierde geben? Das Argument macht natürlich lediglich Sinn, wenn man in der Lage ist, einen plausiblen Endpunkt der psychologischen Erklärung anzubieten - anderenfalls könnte die Reaktion einfach in dem Verweis auf den gegenwärtigen Stand der Forschung bestehen, die eben nur bis zu dieser Abstraktheitsebene vorgedrungen ist. Und in der Tat glaubt Sartre, einen solchen Endpunkt in seiner phänomenologisch-ontologischen Beschreibung des Für-sich gefunden zu haben. - Erinnern wir uns daran, dass die Begierde schon Gegenstand einer Untersuchung war: Sartre hatte herausgestellt, dass Begierden nur durch andere Begierden erklärt werden können und dass die letzte, nicht mehr weiter rückführbare Begierde auf den Seinsmangel des Für-sich verweist - den fundamentalen Mangel des Bewußtseins, das sich als unvollständiges Sein erfasst und dessen grundlegender "Wert" daher in der An-sich-Für-sich-Werdung besteht. Die Begierde nach dem "Wert" ist ontologisches Merkmal des Bewußtseins und daher allen Menschen gemein. Doch widerspricht der Umstand, dass alle Menschen den "Wert" anstreben, nicht der Wahlfreiheit? Denn offenbar gibt es dann mindestens einen Entwurf, der nicht frei gewählt wurde. - Sartre entgegnet auf diesen Einwand, dass der Entwurf, den "Wert" zu realisieren (nicht zu verwechseln mit dem Grundentwurf / Primärentwurf!) die konkreten Zwecke, die wir uns setzen, nicht etwa vorschreibt, sondern nur ihr "Sinn" ist. Es handelt sich, so könnte man sagen, um eine Metastruktur, die allen freien Entscheidungen zugrundeliegt, sie aber nicht determiniert. - Doch die Begierde nach dem "Wert" kann aufgrund ihrer Allgemeinmenschlichkeit nicht dafür benutzt werden, konkrete Begierden und Verhaltensweisen eines Menschen zu erklären: Es kann sich bei ihr nicht um den gesuchten Endpunkt der Erklärung handeln. Dieser Endpunkt ist zwar gleichfalls ein Entwurf, aber nicht der Entwurf hinter allen Entwürfen, sondern sozusagen in der Hierarchie unmittelbar nachfolgende, der Grundentwurf. Der Grundentwurf eines Individuums betrifft die allgemeinste Methode, mit der dieses Individuum den "Wert" zu verwirklichen sucht. Wir hatten gesehen, dass der Grundentwurf z. B. der Entwurf sein kann, das An-sich-Für-sich dadurch zu erreichen, dass man mit dem An-sich zu verschmelzen versucht. Dieser Grundentwurf äußert sich dann vielleicht in einem Bedürfnis nach sportlicher Betätigung, die das Körpergefühl steigert. Ein anderer Grundentwurf, den Sartre erwähnt hatte, ist der Entwurf, das An-sich-für-sich durch Identifikation mit dem Sein-für-Andere zu erreichen: In diesem Falle wird der Betreffende keinen Wert auf sein Körpergefühl legen, aber starken Wert auf Kommunikation mit Anderen, da es deren Bild von ihm ist, mit dem er identisch werden will. - (Wenn man diese Beispiele betrachtet, drängt sich der Gedanke auf, dass die Zahl der möglichen Grundentwürfe sehr klein sein muss. Doch Sartre geht im Gegenteil von einer Vielzahl aus.) Ist die Rückführung von konkreten Begierden auf den Grundentwurf frei von den drei Mängeln, die Sartre der traditionellen Methode unterstellt? Dass nach Sartres Auffassung die Begierde keine psychische Entität ist, die keinen Bezug zur Welt hat, steht ausser Frage: Die Begierde definiert sich durch den angestrebten Zweck. Und man kann auch sagen, dass der Grundentwurf sich von den sonst zur Erklärung von konkreten Begierden angeführten Grundtrieben wie z. B. der Libido dadurch unterscheidet, dass er (wenn man Sartres Ontologie akzeptiert) notwendiger Endpunkt der Erklärung sein muss: Hinter dem Grundentwurf steht nur noch der Seinsmangel, der allen Menschen gemeinsam ist, so dass es sich bei ihm um den Ausgangspunkt aller individuellen Begierden handeln muss. Doch wie steht es um den "Abstraktionsverlust", d. h. um die Tatsache, dass jede Erklärung des Konkreten aus dem Abstrakten unvollständig ist, da sie die individuellen Merkmale des Konkreten ignoriert? Ist Sartres Grundentwurf nicht gleichfalls ein höchst abstraktes Konzept - muss sich z. B. der Drang nach Verschmelzen mit dem An-sich unbedingt in einer Begierde nach Leibesertüchtigung äußern? - Doch Sartre meint folgendes: Der Grundentwurf befindet sich nicht in abstrakter Ferne zu den konkreten Handlungen der Menschen, sondern "drückt sich in jeder von ihnen ganz aus". Wir erinnern uns, dass jede Handlung den Grundentwurf ändern könnte (eine Entscheidung, die dem Grundentwurf widerspricht, bedeutet unmittelbar eine neue Urwahl). Die Urwahl ist keine erste Entscheidung, die allen konkreten Entscheidungen voranliegt, sondern jede Entscheidung will letztlich den Zweck der Urwahl realisieren und setzt diesen Zweck neu. Existentielle Psychoanalyse vs. klassische Psychoanalyse Das Ziel der existentiellen Psychoanalyse besteht darin, aus den konkreten Handlungen / Begierden eines Menschen seine Urwahl zu ermitteln. Dieses Ziel kann sich die Psychoanalyse nicht selbst geben, sondern sie erhält es von der Ontologie (insofern Sartres Ontologie auch Phänomenologie ist, wird hier also das Husserlsche Programm einer phänomenologischen Grundlegung der Einzelwissenschaften realisiert). Der Ausdruck "Psychoanalyse" verweist auf Freud - wie verhält sich das Konzept zu Freuds Theorie? - Wie wir wissen, leugnet Sartre, dass es ein Unbewußtes im Sinne Freuds gibt und bestreitet ausserdem die Existenz psychischer Entitäten, wie der Triebe. Nichtsdestoweniger sieht sich Sartre ausdrücklich in Freuds Nachfolge: Seine existentielle Psychoanalyse soll so etwas wie die ontologisch bereinigte Neuauflage der klassischen Psychoanalyse werden. - Aus diesem Grunde gibt Sartre einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Konzepte: Gemeinsam haben existentielle und klassische Psychoanalyse den Ansatz, konkrete psychische Tatsachen als Symbolisierungen grundlegender Strukturen zu deuten und anhand ihrer die grundlegende menschliche Haltung aufzudecken. Die "grundlegende Haltung", auf die Sartre abzielt, ist natürlich der Grundentwurf, wohingegen Freud den "Komplex" meint. (Ein Komplex ist ein unbewußter "Gedanken- und Interessenkreis", der das konkrete Verhalten eines Menschen bestimmt, wie z. B. der Minderwertigkeitskomplex oder der Ödipuskomplex.) - Weiterhin sind sich beide Konzepte in der Annahme einig, dass der Mensch wesentlich geschichtlich ist - sein Handeln ist aus seiner Vergangenheit zu erklären und nicht aus angeborenen Verhaltensmustern - und dass er als in der Welt handelnder Mensch gesehen werden muss ("in seiner Situation", wie Sartre es ausdrückt). Eine letzte Übereinstimmung liegt in der für das Existenzrecht von Analytikern wichtigen These, dass ein Mensch sich selbst nicht besser und vielleicht sogar schlechter analysieren kann, als es jemand anders (der Analytiker) tun kann. Der zuletzt genannte Punkt markiert die entscheidende Differenz beider Ansätze: Sie liegt in der jeweils angeführten Begründung. - Was Freud angeht, ist sie naheliegend: Der Komplex ist nicht nur unbewußt und daher durch Introspektion nicht erfassbar, sondern möglicherweise auch eine Quelle des Widerstandes gegen die Erkenntnis seiner Existenz. Sartre kann es sich nicht so leicht machen, da der Grundentwurf bewußt ist. Warum ist der Patient dennoch in keiner bevorrechteten Position, was seine Erkenntnis angeht? Der Schlüssel ist hier das Wort "Erkenntnis". Zwar ist sich jeder Mensch seines Grundentwurfs bewußt, daraus folgt aber keineswegs, dass er ihn auch erkennt. - Wir könnten in Versuchung sein, für die Interpretation dieser Behauptung die alte Unterscheidung von präreflexiver und reflexiver Bewußtseinsebene heranzuziehen, doch sollten wir ihr nicht nachgeben: Auch wenn ich auf meine Zwecke reflektiere, bedeutet das für Sartre noch keine Erkenntnis des von ihnen ausgedrückten Grundentwurfs. Zwar ist mir mein Grundentwurf in der Reflexion nie verborgen, "alles liegt offen da", aber diese Intuition liefert lediglich eine Art Rohmaterial, das begrifflich aufgearbeitet werden muss, um Erkenntnisse zu liefern. Der wesentliche Punkt ist, dass diese Aufarbeitung vom Standpunkt des "Blicks" aus erfolgt: Der Analysierte muss verobjektiviert werden, damit eine Analyse möglich ist. Und insofern man sich selbst mit dem Blick eines Anderen betrachten kann, eröffnet sich dadurch auch die Möglichkeit der Selbstanalyse. Der Grundentwurf ist mit dem grundlegenden Verhältnis des Für-sich zur Welt identisch, über das es sich (Zirkel der Selbstheit) selbst bestimmt. Gemäß dieser Charakterisierung befindet er sich zwangsläufig ausserhalb der Erkenntnis, da Erkenntnis eine Haltung des Für-sich zu Bestandteilen der Welt ist, die selbst durch den Grundentwurf bestimmt wird. Aus diesem Grunde hält Sartre die Verobjektivierung des Für-sich für unbedingt notwendig. Das auf dieser Ebene gewonnene Wissen kann dann vom Analysierten benutzt werden, um das, was sich ihm in der Reflexion zeigt, richtig einzuordnen (wobei das Wissen für den Analysierten nach dem eben Gesagten kein wirkliches Wissen, sondern nur "Quasi-Wissen" sein kann). Praxis der existentiellen Psychoanalyse Die Bewußtheit des Grundentwurfs kann - so Sartre - zur Erklärung eines Phänomens herangezogen werden, das in der Praxis des Psychoanalytikers häufig auftritt und mit den Annahmen der klassischen Psychoanalyse nicht verträglich ist: Es handelt sich um den Moment der Selbsterkenntnis des Analysierten, der mit einem plötzlichen Zusammenbrechen seiner Widerstände gegen die Analyse einhergeht. Der klassische Psychoanalytiker interpretiert dieses Ereignis als Signal, das seine Analyse ihr Ziel erreicht hat. Doch wie soll das - so Sartre - möglich sein, wenn der aufgedeckte Komplex unbewußt war? Als solcher kann er nämlich vom Patienten nicht mit dem Bild verglichen werden, das der Analytiker von ihm gemalt hat, die plötzliche Selbsterkenntnis muss also Täuschung sein. - Für die existentielle Psychoanalyse entsteht das Problem nicht: Der Patient vergleicht die Beschreibung des Analytikers nämlich nicht mit einer unbewußten Entität, sondern entdeckt ihre Übereinstimmung mit dem, was ihm ohne Erkenntnischarakter immer bewußt gewesen ist. Das Signal, das der Patient im Augenblick des Zusammenbruchs gibt, kann vom existentiellen Analytiker ohne Widerspruch zu seiner Theorie ernstgenommen werden. Ein wichtiges Mittel für die Praxis des klassischen Psychoanalytikers ist die Interpretation von Äußerungen und Handlungen des Patienten oder den Elementen seiner Traumerzählungen als Symbole. Im Rahmen der Freudschen Theorie gelangen unbewußte Triebe zu einer Art Ersatzbefriedigung symbolischer Art, die von der seelischen Zensurinstanz nicht als solche erkannt wird (wir erinnern uns an Karl Mays Beschreibungen von Schluchten). - Welche Rolle Symbole dieser Art in der existentiellen Psychoanalyse spielen sollen, die ja keine unbewußten Triebe kennt, ist hier nicht recht klar, jedoch hält Sartre an der Methode der Symbolinterpretation fest. Oder symbolisiert eine konkrete Handlung oder Äußerung den Grundentwurf nur insofern, als sie auf ihn als höchsten Zweck verweist? Jedenfalls beschränkt sich Sartre darauf, allgemeine Symbole zu leugnen und besteht auf ihrer Individualität: Ein Symbolkatalog wie der Freudsche (längliche Gegenstände = Phallussymbole usw.) ist unmöglich, weil die vom Analysierten benutzten Symbole lediglich im Rahmen seines individuellen Grundentwurfs interpretierbar sind. Ja, es besteht sogar die Möglichkeit, dass der Analysierte während der Analyse seine Urwahl revidiert und auf diese Weise alle bislang erkannten Symbolbedeutungen ungültig macht. - Generell sollte der existentielle Analytiker die Individualität seines Patienten viel stärker berücksichtigen als der klassische, was bedeutet, dass die Methode auf jeden Patienten angepasst werden muss. Das Ziel einer klassischen Psychoanalyse bestand nicht in erster Linie darin, den Patienten über seine Komplexe aufzuklären, sondern in der Beseitigung von Symptomen, unter denen der Patient oder seine Umgebung litt. Die Analyse war kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Heilung. - Man kann nun fragen, ob Sartres Neuauflage ein ähnliches Ziel verfolgen kann: Ein gegebener Grundentwurf kann nämlich - so Sartre - keine Motivation für seine Änderung liefern, da jedes Motiv immer Motiv im Rahmen des Grundentwurfes ist. Der Analytiker kann dem Patienten, der mit einem Minderwertigkeitskomplex in seine Praxis kommt, also keinerlei Hoffnung machen, dass die Analyse zu einer Befreiung von seinem fatalen Hang zum Scheitern führen wird. Der Patient kann seine Urwahl nur völlig allein revidieren und keine Analyse kann diese Revision bewirken. - Wenn Sartre die Hoffnung ausspricht, dass die durch existentielle Analysen ermittelten letzten Ziele von Patienten miteinander verglichen, und so Grundlage für eine Klassifikation der Grundentwürfe werden können, ist man versucht, das für den einzigen Zweck der Methode überhaupt zu halten. Alle Begierden lassen sich auf die grundlegende Begierde des Seins nach Selbstbegründung zurückführen, wie Sartre ausgeführt hat. Diese grundlegende Begierde liegt der Entstehung des Für-sich aus dem An-sich bereits zugrunde und ist daher eine Begierde ohne jemanden, der begehrt. Alle konkreten Begierden eines Menschen bezwecken die Erfüllung dieser ursprünglichen Begierde, die das ist, was alle Menschen miteinander gemein haben, auch wenn die Grundentwürfe, die angeben, wie der "Wert" realisiert werden soll, auf individuell unterschiedliche Wahlen verweisen. Es ist diese Gemeinsamkeit - so Sartre - die dem existentiellen Analytiker das Verstehen fremder Grundentwürfe ermöglicht. Die konkreten Begierden lassen sich nun gemäß ihrer Gegenstände klassifizieren. Sartre gelangt zu der Auffassung, dass es lediglich drei Klassen von Begierden gibt: Erstens die Begierde, etwas zu haben, zweitens die Begierde, etwas zu tun und drittens die Begierde, etwas zu sein. Die Begierde, etwas zu tun lässt sich dabei als Begierde, zu haben, demaskieren, da jedes Tun (mit Ausnahme des echten Spielens, was Gegenstand des nächsten Abschnitts sein wird) darauf abzielt, etwas zu besitzen: Das gilt auch für sportliches Tun, da Freiluftsport immer die Aneignung eines Teils der Welt bedeutet (z. B. die Aneignung der jungfräulichen Schneefläche durch den Skifahrer). Wir können auch vermuten, dass ein Kraftsportler, der das Fitnessstudio nie verlässt, sich durch die Ausübung seiner Tätigkeit wenigstens in den Besitz von Muskeln setzen möchte. - Es bleiben daher nur zwei Klassen übrig, die Begierde nach Besitz und die Begierde nach Sein. - Wo befindet sich in diesem Schema die Begierde nach Erkenntnis? Sartre erklärt sie ebenfalls als Begierde nach Besitz, wir werden gleich sehen, warum. Inwiefern versucht der Drang, etwas zu besitzen, den "Wert" zu realisieren? Sartres Erklärung beruft sich auf eine Identität des Besitzers mit dem Besessenen, die das eigentliche Besitzideal darstellt. Der Besitzer ist mit den Gegenständen, die ihm gehören identisch, sie fungieren als eine "Emanation" (ein Ausströmen) des Besitzers in das An-sich. Dass dieses Besitzideal allen juristisch definierten Eigentumsformen vorangeht, zeigt sich - so Sartre - an archaischen Begräbnissitten: Fürsten wurden mit ihren Besitztümern - zu denen u. U. auch Pferde, Diener und Frauen gehörten - beerdigt. (So enthalten, wie ich kürzlich hörte, die Urnen germanischer Krieger der Völkerwanderungszeit meistens das zusammengebogene Schwert des Toten.) Diese historischen Tatsachen beweisen nach Sartres Meinung, dass die Vorstellung der Identität selbstverständlich war. (In den Kriegstagebüchern heisst es dazu, dass die üblicherweise zur Erklärung herangezogene Annahme, dass der Verstorbene seine Besitztümer im Jenseits benötigt, nur eine spätere Rationalisierung darstelle - Belege dafür werden aber nicht angeführt.) Wer also etwas zu besitzen versucht, will mit einem Stück An-sich identisch werden. Wenn man nun berücksichtigt, dass Besitz ursprünglich nicht durch Kauf oder Tausch, sondern durch Herstellung erworben wurde, wird klar, worauf die Sache hinausläuft: Das Besessene ist nicht nur An-sich und mit dem Besitzer identisch, sondern hat auch einen Seinsgrund - nämlich den Besitzer selbst als seinen Hersteller. Der Gegenstand ist also sein Besitzer als Realisierung eines selbstbegründeten An-sich-Für-sich! Da diese Realisierung des "Wertes" lediglich Schein ist - die Identität ist niemals wirklich vorhanden - kommt Sartre zu der Schlussfolgerung, dass es sich beim Besitzen um eine symbolische Befriedigung der ursprünglichen Seinsbegierde handelt. (Im Unterschied zur Auffassung Freuds ist der Zweck der Symbolisierung hier nur die Ersatzbefriedigung und nicht zusätzlich die Irreführung einer seelischen Zensurinstanz.) - In der neueren Zeit wird diese Symbolisierung übrigens durch eine weitere überlagert, nämlich durch den Ersatz der Herstellung eines Gegenstandes durch den Kauf des Gegenstandes. - Der Kauf vertritt symbolisch die Herstellung - woraus man schliessen kann, dass der Besitz eines selbst hergestellten Gegenstandes attraktiver ist, weil eine Ersetzungsebene wegfällt. Sartre sieht das in dem Umstand bestätigt, dass Raucher selbstgefertigter Zigaretten behaupten, dass deren Geschmack besser sei (ich behaupte das auch). Sartre bleibt hier nicht stehen, sondern entwickelt eine regelrechte Theorie des Rauchens, an der sich gewisse Aspekte des Besitzes exemplifizieren lassen. Zunächst einmal fällt auf, dass der Raucher seinen Besitz dadurch geniesst, dass er ihn vernichtet. Wie lässt sich das erklären? Schließlich sollte er doch - nach dem Verfertigen oder dem Kauf seiner Zigaretten - damit zufrieden sein, sich selbstbegründet in der Gestalt eines tabakgefüllten Papierröllchens wiederzufinden. - Doch wenn der Raucher die in seinem Besitz befindliche Zigarette näher betrachtet, kommt er vielleicht auf den Gedanken, dass eigentlich kein wirklicher Bezug zwischen der Zigarette und ihm besteht - die Täuschung der Identität verschwindet und das Ding erscheint sinnlos. - Der Besitzer hat jetzt - so Sartre - zwei Möglichkeiten, die Täuschung zu verlängern bzw. wiederherzustellen. Die erste besteht im Gebrauch des Gegenstandes, der nur eine Art Fortsetzung der Herstellung bzw. Aneignung ist. (Das sich der Gegenstand durch den Gebrauch verändert, verstärkt nur sein Begründetsein durch den Verwender.) Die zweite Möglichkeit ergibt sich - so Sartre - aus der Enttäuschung darüber, dass letztlich alle Arten der Aneignung nicht zum wirklichen Genuss des Besessenen führen, da der "Wert" ja nicht wirklich erreicht werden kann. Der Besitzer kann jetzt auf den Gedanken kommen, den besessenen Gegenstand zu vernichten. Was für einen Nutzen hat er davon? Nun, die Vernichtung lässt sich als Assimilation durch den Besitzer interpretieren. Der Gegenstand bleibt als vergangener Gegenstand an-sich, scheint aber durch seine Unsichtbarkeit eine Art Für-sich-Charakter angenommen zu haben. Die Illusion der Identität ist so leichter aufrechtzuerhalten als durch den blossen Gebrauch! - Daher also pflegt ein Raucher seine teuer erworbenen Zigaretten dem Feuertod preiszugeben. Sartre fasst zusammen: "Die Zerstörung ist also unter die aneignenden Verhaltensweisen einzuordnen." - Auch das Schenken ist für Sartre eine Form der Aneignung durch Zerstören, so dass die erste Frage des existentiellen Analytikers, wenn ein Patient durch besondere Grosszügigkeit auffällt, lauten muss, "warum das Subjekt das Aneignen durch Zerstören statt durch Schaffen gewählt hat." - Die Manipulation des Beschenkten durch das Geschenk (auf die man normalerweise zuerst stößt, wenn man über die Funktion des Schenkens nachdenkt) hält Sartre lediglich für einen Sekundärnutzen des Schenkaktes. Sartre stellt nun die Frage, warum es die Lebenslust eines Rauchers deutlich stört, wenn er das Rauchen aufgibt. Der blosse Verzicht auf das Zerstören von Zigaretten kann ja nicht erklären, warum der Betreffende auch den Spass an vielen anderen Dingen verliert (der Suchtcharakter des Rauchens war Sartre entweder nicht bekannt, oder er ignorierte Substanzabhängigkeiten in seiner Philosophie, da der Begriff einer Abhängigkeit mit der Freiheit des Subjektes nicht gut verträglich ist). - Der Grund dafür ist Sartres Ansicht nach, dass ein besessener Gegenstand für die ganze Welt steht - seine Aneignung ist die symbolische Aneignung der Welt, so dass der Entzug der Zigaretten wiederum symbolisch für den Verlust der ganzen Welt steht. Nach dem Gesagten dürfte auch klar sein, inwiefern die Erkenntnis eine Form des aneignenden Verhaltens ist. Die Aneignung ist hier die Aneignung eines Gedankens. Nehmen wir an, dass ich der erste bin, der auf die erkannte Wahrheit gestossen ist, so haben wir den Fall, dass die Erkenntnis einerseits ganz durch mich begründet wurde und andererseits völlig unabhängig von mir ist, da Wahrheiten bekanntlich auch dann Wahrheiten sind, wenn sie niemand kennt. Der Besitz einer Erkenntnis hat daher - so Sartre - Bezüge zum Geschlechtsakt, während dem man im Frau "besitzt", obwohl sie ihre unabhängige Existenz behält: "Der Forscher ist der Jäger, der eine weiße Nacktheit überrascht und sie mit seinem Blick vergewaltigt." - Sartre meint, dass die mit dem Besitzen verbundene (ideale) Identität des Besessenen mit dem Besitzer im Falle der Erkenntnis zu dem philosophischen Irrtum beiträgt, dass Erkennen eine Assimilation des erkannten Gegenstandes sei, womit er offenbar auf idealistische französische Philosophen anspielt. Wir sollten uns übrigens daran erinnern, obwohl Sartre diesen Aspekt hier nicht erwähnt, dass die Begierde noch in einem anderen Sinne die An-sich-für-sich-Werdung anstrebt: Am Beispiel des Durstes hatte Sartre uns erklärt, dass der Durst nicht seine Beseitigung zum Ziel hat, sondern seine An-sich-Werdung als Durst. Die Begierde ist also nicht nur Begierde nach einem Gegenstand, sondern immer auch Begierde nach Vervollständigung des Seins der Begierde (das Sein des Bewußtseins ist) als erfüllte Begierde. Seinsbegierde und Authentizität Sartre wird manchmal "Philosoph der Authentizität" ("Authentizität" = Echtheit) genannt, so dass es bei der Lektüre von "Das Sein und das Nichts" überrascht, dass die Bemerkungen zum Authentizitätsideal nur kurz und andeutend ausfallen. Das umso mehr, wenn man seine Kriegstagebücher gelesen hat und weiss, dass Sartre persönlich ganz ernsthaft versuchte, Authentizität zu erreichen - und ausserdem seine Kameraden damit zu nerven pflegte, dass er ihnen Mangel an Authentizität vorwarf. - Und seine Romane dieser Zeit handeln von Menschen, die es schaffen, zur Authentizität durchzudringen oder daran scheitern. Im Kapitel über Schlechten Glauben konstatierte Sartre, dass Ehrlichkeit gegenüber sich selbst ein unmögliches Ideal ist, weil es vom Menschen verlangt, zu sein, was er ist - was der grundlegenden Nichtidentität des Bewußtseins mit sich selbst widerspricht. Er weist dann in einer Fußnote darauf hin, dass das Authentizitätsideal nicht mit diesem unmöglichen Ideal gleichzusetzen ist, sondern auf etwas anderes hinausläuft, nämlich auf die "Übernahme des verdorbenen Seins durch sich selbst". Im Zusammenhang mit der reinen Reflexion waren wir dann plötzlich darauf gestoßen, dass es doch möglich sein könnte, den Schlechten Glauben zu besiegen - nämlich dadurch, dass man sich durch reine Reflexion als das erkennt, was man ist, nämlich als Für-sich. - Wir hatten weiter gesehen, dass Angst für Sartre das einzige Gefühl ist, das keinen funktionalen Charakter hat, so dass man sie das einzige authentische Gefühl nennen kann. Später wies Sartre nach, dass alle menschlichen Haltungen zum Scheitern verurteilt sind, da alle den vergeblichen Versuch darstellen, den "Wert" zu realisieren. Auch diese Betrachtung scheint die Unmöglichkeit von Authentizität zu implizieren, und auch hier leugnet Sartre das mit einer dunklen Anmerkung: Eine radikale "Konversion", die zum Heil führen könne, sei dennoch möglich. - Eine weitere Bemerkung aus der Diskussion der menschlichen Verantwortlichkeit, die man als Leser auf eine erreichte Authentizität beziehen muss, zitiere ich hier erneut: "Wer in der Angst seine Lage realisiert, in eine Verantwortlichkeit geworfen zu sein, die sich bis zu seiner Geworfenheit zurückwendet, kennt weder Gewissensbisse noch Bedauern, noch Entschuldigungen mehr; er ist nur noch eine Freiheit, die sich als völlig sie selbst entdeckt und deren Sein auf eben dieser Entdeckung beruht. Aber, wir haben zu Beginn dieses Buchs darauf hingewiesen, die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit." Bei der Unterteilung der Begierden hatte Sartre von einer Begierde, zu sein gesprochen. Da alle Begierden das Streben nach dem Sein-an-sich-für-sich sind, heisst das, dass alle Klassen der Begierde letztlich auf die Begierde, zu sein, reduziert werden können. Doch Sartre erwähnt noch eine Begierde zu sein, die etwas Anderes meint und starken Bezug zum Authentizitätsideal hat: Diese Begierde äußert sich im Spiel. Sartre meint hier natürlich nicht Pokern um Geld oder Spiele, die auf den Sieg über einen Gegner abzielen. Man sollte hier m. E. eher an die Improvisation eines Jazz-Musikers denken. Das Spiel ist der Gebrauch der Freiheit, wobei die Freiheit nicht verleugnet, sondern als solche akzeptiert und gewollt wird. Nach welchem Sein strebt der in diesem Sinne Spielende? - Offenbar nicht nach dem "Wert" als dem totalisierten Sein des Subjekts, sondern nach dem Sein des Für-sich, so unvollständig, wie es ist! Der Spielende steht damit im Gegensatz zu einer Haltung, die Sartre als "Geist der Ernsthaftigkeit" bezeichnet. Ein Mensch in dieser Haltung leugnet seine Freiheit und sieht sich in Schlechtem Glauben als Objekt, dessen Handeln festen Regeln folgt. Er hält es also für ganz unmöglich, etwas anders zu tun, als "man" es tut. - Bei dem Begriff "Ernsthaftigkeit" sollte man vielleicht an bestimmte düstere Mahnungen denken, die man - wenigstens in meiner Generation - als Kind erhalten hat: Noch sei man ja sorgloses Kind, aber schon bald beginne der "Ernst des Lebens"! Wobei der Ernst des Lebens natürlich darin besteht, dass der Erwachsene in alle möglichen Zwänge eingebunden ist, von denen das Kind frei ist. - Wir wissen, dass diese Zwänge für Sartre keine echten Zwänge sind. Der Spielende ist derjenige, der sich dessen bewußt ist, ohne vor diesem Bewußtsein in den Schlechten Glauben zu flüchten. Wir können jetzt zusammenfassen, auf was das Authentizitätsideal nach all diesen Andeutungen hinauszulaufen scheint: Es bedeutet Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, aber nicht in dem Sinne, dass man sich ehrlich für ein Objekt - für ein An-sich - hält, da eine solche Ehrlichkeit lediglich eine Variante des Schlechten Glaubens ist. Es bedeutet weiterhin, dass man sich der reinen Reflexion bedient hat, um den Schlechten Glauben als solchen zu entlarven und sich als freies Für-sich zu erkennen. Und es bedeutet, dass man sein Sein-für-sich als solches akzeptiert. - Wir können noch hinzufügen, dass diese Haltung nicht nur ein Momentereignis sein kann, das z. B. beim Philosophieren auftreten kann, sondern eine Haltung, die das ganze Leben prägt und der eine Art Bekehrung vorausgeht. Warum gibt uns Sartre keine ausführliche Darstellung des Themas, sondern beschränkt sich auf schüchterne Andeutungen? Der Grund dafür liegt offenbar darin, dass Sartre noch nicht abschliessend wusste, inwieweit das Authentizitätsideals mit seinem philosophischen System verträglich gemacht werden kann (diese Interpretation habe ich von Paul Vincent Spade). - Ich beschränke mich auf zwei Punkte: Zum einen ist es nach allem, was bisher gesagt wurde, unmöglich, etwas zu begehren, ohne dass diese Begierde auf den "Wert" abzielt. Das trifft auf das Authentizitätsideal zu, wenn dieses Ideal begehrt wird, aber auch auf das spielerische Handeln des Menschen, der die Authentizität erreicht hat. Auch dieses Handeln muss - wenn es sich nicht um sinnlose Bewegungen handeln soll - auf irgendeinen Zweck bezogen sein, der begehrt wird. Und dass sich das Sein-für-sich als solches will, ist undenkbar, wenn das Sein-für-sich seiner ganzen Natur nach Begehren nach einer anderen Form des Seins ist. Der zweite Punkt betrifft den ethischen Charakter des Authentizitätsideals: Warum sollte man die Authentizität anstreben? Sartre ist - so scheint es jedenfalls - nicht der Ansicht, dass es sich dabei um seinen privaten Spleen handelt, sondern davon überzeugt, dass es einen Wert für alle Menschen darstellt. Wie soll man aber eine Ethik im Rahmen einer Philosophie unterbringen, die das Bestehen objektiver Werte gerade leugnet und alle Werte auf die freie Setzung eines Individuums zurückführt? Es geht hier um die psychoanalytische Erklärung der Vorlieben (und Abneigungen), die manche Menschen für Dinge mit bestimmten Qualitäten haben, und die sich z. B. in einer Neigung zu bestimmten Speisen, aber auch in der Wahl bestimmter Motive durch einen bildenden Künstler äußern kann. Der Begriff der "Qualität" bezieht sich hier auf Eigenschaften wie körnig, kompakt, flüssig, klebrig usw. - So zieht beispielsweise Günter Grass, wie es im "Tagebuch einer Schnecke" und anderswo belegt ist, Speisen mit schleimiger Konsistenz (wie Innereien, Pilzgerichte, Aal) vor. - Obwohl man solche Vorlieben gewöhnlich als "Geschmäcker" bezeichnet und eingesteht, dass man "über Geschmack nicht streiten kann", entspricht es der Erfahrung, dass Menschen dazu tendieren, sie für allgemeingültig zu halten (und anzunehmen, dass Menschen mit anderem Geschmack irgendeiner Täuschung oder einem Vorurteil unterlägen und sich so um den wahren Genuß brächten). Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Es liegt nahe, anzunehmen, dass sich Geschmäcker nicht zufällig ausbilden, sondern irgendeine Art von Bedeutung haben, die psychologisch aufgeklärt werden kann. Um hier weiterzukommen, könnte man zuerst nach metaphorischen Verwendungsweisen der Ausdrücke suchen, die eine bestimmte Qualität kennzeichnen. So nennen wir einen Menschen beispielsweise "schleimig", wenn seine Freundlichkeit und seine Schmeicheleien als übertrieben empfunden werden, und er daher im Verdacht steht, mit ihrer Hilfe eine Manipulation oder Täuschung zu beabsichtigen. Soll man also die Erklärung dafür, dass jemand Dinge mit schleimiger Qualität als "eklig" empfindet, darin suchen, dass dieser Mensch unangenehme Erfahrungen mit "schleimigen" Menschen gemacht hat und die Abneigung gegen sie auf die Dinge projiziert? Sartre lehnt diese Interpretation ab: Sie setzt das voraus, was sie erklären will. Die Ekligkeit des Schleimigen kann nicht auf Erfahrungen mit "schleimigen" Menschen zurückgeführt werden, da die Metapher "schleimig" ihren Ursprung in der (in diesem Falle häufigen) Ablehnung der Dingqualität hat. Abgesehen davon zeigt sich, dass ein Ekel vor schleimigen Dingen bereits bei Kindern vorkommt, die keine schlechten Erfahrungen mit schmeichlerischen Menschen gemacht haben können. Das Widrige schleimiger Dinge ist also nicht aus einer Projektion unangenehmer Gefühle aus anderen Erfahrungsbereichen auf diese Dinge erklärbar, sondern unmittelbar mit diesen Dingen verknüpft. Wir wissen, dass die Beziehung zum Sein-an-sich auf der Handlungsebene grundsätzlich in dem Wunsch nach Aneignung besteht: Der Mensch will sich das An-sich aneignen, um mit ihm identisch zu werden und so den "Wert" zu verwirklichen. Wie diese Aneignung aussehen soll, bestimmt sich durch seinen Grundentwurf. - Die Qualitäten der Dinge symbolisieren nun - so Sartre - eine bestimmte Art dieser Aneignung: Die Qualität des Flüssigen z. B. verweist auf das Wasser, in das man zwar eintauchen kann, das vom Menschen aber auch wieder abgleitet - die Aneignung des Seins-an-sich ist in diesem Falle eine, die das Sein-für-sich unangetastet lässt. Die Qualität des "Klebrigen" hingegen (ich nehme an, dass Sartre hier das "Schleimige", wie der Begriff im Deutschen gebraucht wird, mitmeint) verweist auf die Möglichkeit, vom An-sich eingesogen zu werden - d. h. auf die Möglichkeit des Ins-An-sich-Zurückfallens. - Ein Mensch, dessen Grundentwurf nun eine nur äußerliche Aneignung des An-sich vorsieht, die seine Freiheit nicht zerstört, wird eine Neigung zu flüssigen Materien haben, wohingegen jemand, der sein An-sich-für-Sich durch Verschmelzung mit dem An-sich unter Aufgabe seiner Freiheit erreichen will, das Klebrige lieben wird. (Günter Grass' Neigung zu schleimigen Nahrungsmitteln findet so eine einfache und natürliche Erklärung.) Wesentlich an Sartres Konzept ist, dass die Symbolbedeutung der Qualitäten nicht Gegenstand unserer freien Wahl ist. Der Grundentwurf entscheidet nicht über die Seinsbedeutung des Klebrigen, sondern allein darüber, ob man zu der Qualität ein positives oder negatives Verhältnis hat. Die Symbolbedeutung der Qualitäten kann also aufgeklärt werden, ohne dass ein bestimmter Mensch analysiert werden muss - aus diesem Grunde spricht Sartre hier von einer "Psychoanalyse der Dinge" ("Psychoanalyse der Sachen"). - Die Bedeutung ist natürlich subjektbezogen, aber dennoch objektiv, in dem Sinne, wie auch die Potentialität der Dinge objektiv ist, obwohl sie sich aus der subjektinduzierten Ding-Aufspaltung des Seins-an-sich ergibt (das als solches keine Potentialitäten hat, weil diese Negativität voraussetzen). Hier wie anderswo hat man den Eindruck, dass trotz der häufigen Versicherungen Sartres, dass es eine grosse Vielzahl möglicher Grundentwürfe gibt, sein ontologisches System eigentlich nur einige wenige ermöglicht, und dass sich dieser Mangel in der begrenzten Zahl von Beispielen äußert, die Sartre gibt. - Die Diskussion der psychoanalytischen Bedeutung des Lochs lasse ich aus, um das Risiko nicht noch zu vergrößern, dass diese Webseite in Jugend- oder Beamtenschutz-Webfiltern hängenbleibt. Sie läuft darauf hinaus, dass die Fasziniertheit von Kindern durch Löcher nicht auf die kindliche Sexualität, sondern ebenfalls auf eine Seinsbedeutung des Lochs im eben erklärten Sinne verweist. Metaphysische Schlussfolgerungen Sartre beschließt "Das Sein und das Nichts" mit Schlussbetrachtungen zu den Themen Metaphysik und Moral. - Die "metaphysichen Aperçus" (unter einem Aperçu versteht man üblicherweise einen aphorismusartigen Sinnspruch, obwohl man dergleichen hier nicht findet - die ursprüngliche Bedeutung "flüchtiger Blick" ist hier erhellender) führen uns in den Kernbestand seiner Ontologie zurück. Seltsamerweise definiert Sartre Metaphysik als diachronische Wissenschaft, die sich zur Ontologie so verhält wie die Geschichtswissenschaft zur Soziologie: Die Metaphysik soll zeigen, wie die von der Ontologie beschriebenen Strukturen entstanden sind. - Er weicht damit vom üblichen Gebrauch ab, der nahelegt, dass Sartres ontologische Bemühungen selbst metaphysischer Art sind. Eine Frage, die Sartre an die Metaphysik in diesem Sinne weiterreicht, ist die Frage, warum es zu dem absoluten Ereignis, also der Entstehung des Für-sich aus dem An-sich kommen konnte. Wir erinnern uns, dass Sartre das Ereignis so dargestellt hatte, als handle es sich um einen Versuch des nicht begründeten An-sich, sich zu begründen. Hier nun gibt er zu, dass die Geschichte in dieser Form nicht haltbar ist, da das An-sich bereits Bewußtsein sein müsste, um eine Begierde nach Begründung haben zu können. Sartre beschränkt sich daher jetzt auf die Behauptung, dass die Ontologie lediglich eine Als-ob-Darstellung liefern kann: Alles verhält sich so, als ob sich das An-sich in einem Entwurf zur Selbstbegründung in Für-sich verwandelt. Es obliegt nun der Metaphysik, Hypothesen zum tatsächlichen Geschehen zu liefern. (Eine weitere Aufgabe der Metaphysik sieht Sartre in der Klärung der Frage, ob die Bewegung - die ja ebenfalls die Nichtidentität eines Seins mit sich selbst impliziert - ein anderer Versuch des An-sich zur Selbstbegründung ist.) Sartre hatte, als er seine Unterscheidung der Seinsbereiche An-sich und Für-sich präsentierte, nicht nur nach einer Verbindung beider Bereiche gefragt, sondern auch nach der Rechtfertigung dafür, beide unter denselben Begriff "Sein" zu fassen. Die Verbindung zwischen ihnen hatte sich für Sartre geklärt - sie ergibt sich aus dem Umstand, dass das Für-sich negiertes An-sich ist (das Nichts im Für-sich muss relativ auf ein Sein sein, und dieses Sein ist das An-sich). Das Für-sich entstand aus dem An-sich, und besteht nur fort, weil es sich als nicht das An-sich seiend definiert, was darauf hinausläuft, dass ein Bewußtsein ohne bewußtseinsunabhängiges Sein, von dem es Bewußtsein ist, nicht denkbar ist: Das Bewußtsein ist interne Negation des An-sich. - Die Frage, ob die Subsumierung von An-sich und Für-sich unter den Begriff "Sein" zu rechtfertigen ist, läuft nun - so Sartre - auf die Frage hinaus, ob es eine Totalität gibt, von der Sein-an-sich und Sein-für-sich nur Momente sind. Wie haben wir das zu verstehen? Das Bestehen einer solchen Totalität würde - so Sartre - voraussetzen, dass die beiden Momente, aus denen sie sich zusammensetzt, nicht alleine existieren können. Wir sollten daraus entnehmen, dass es hier um mehr geht als nur um das logische Vereinigen unter einem Oberbegriff aufgrund gemeinsamer Eigenschaften. (Tiger und Hase fallen unter den Oberbegriff "Säugetier", bilden aber keine Totalität in diesem Sinne, da Tiger auch Säugetiere wären, wenn es keine Hasen gäbe.) Es handelt sich hier eher um die Frage, ob beide Seinsarten lediglich Aspekte ein und desselben Gegenstandes (desselben Seins) sind. - Nach Sartres Beschreibung ist die Sachlage klar: Zwar kann das Für-sich nicht ohne das An-sich existieren, für das An-sich gilt aber keineswegs das Umgekehrte. Das An-sich benötigt kein Bewußtsein, um zu existieren. Ein weiteres Gegenargument kann sich auf die logische Unvereinbarkeit der beiden Seinsbegriffe berufen: Der Begriff eines Seins, das mit sich selbst identisch ist, ist nicht vereinbar mit dem eines Seins, das nicht mit sich identisch ist. Wie sollen also beide Aspekte desselben sein? - Eine Totalität scheint also einerseits ausgeschlossen, während andererseits die einseitige Abhängigkeit des Für-sich vom An-sich und das absolute Ereignis nahelegen, dass es irgendeinen Einheitspunkt geben muss. Sartre versucht das Dilemma dadurch zu lösen, dass er die Totalität als "detotalisiert" bezeichnet, was einfach darauf hinausläuft, dass er bei dem Widerspruch stehenbleibt: Das Sein kann als Totalität oder als Nicht-Totalität betrachtet werden. Welche Betrachtungsweise vorzuziehen ist, ergibt sich nach Sartres Ansicht allein aus der jeweiligen Nützlichkeit für den Fortgang der Erkenntnis. Die Annahme einer Totalität (oder einer Nicht-Totalität) wäre also eine Art "regulative Idee" im Sinne Kants. - Interessanterweise nimmt Sartre an, dass die Metaphysik (nachdem sie sich einmal für einen der beiden Ausgangspunkte entschieden hat) auch klären könne, wie es möglich ist, dass das Für-sich, wenn es handelt, auf das An-sich einwirken kann (wir hatten gesehen, dass eine solche Einwirkung in Sartres System eigentlich unmöglich ist!). Die Aussichten für die Entwicklung einer Ethik auf der Basis des in "Das Sein und das Nichts" entwickelten Systems sind ausserordentlich schlecht. Alle Werte, denen ein Mensch in seinem Handeln folgen kann, sind von ihm frei gesetzt, und verweisen ausserhalb der Freiheit nur auf das unmögliche Ideal des "Wertes". - Wenn die Aufgabe einer Ethik darin besteht, allgemeingültige Werte zu ermitteln, die für jeden Menschen verpflichtend sind, ist sie als philosophische Disziplin sinnlos, da sie nach etwas sucht, das es nicht geben kann - wenn wir Sartre ernstnehmen. Sartre sagt in seiner "Moralische Perspektiven" übertitelten Abschlussbemerkung denn auch nichts anderes. Er stellt klar, dass er alle menschlichen Tätigkeiten für gleichwertig hält und sich die Handelnden bestenfalls durch größere Klarheit über den ontologischen Hintergrund unterscheiden: "Wenn eine dieser Tätigkeiten die andere übertrifft, so nicht wegen ihres realen Ziels, sondern wegen des Grades an Bewußtsein, das sie von ihrem idealen Ziel hat; und in diesem Fall wird es geschehen, dass der Quietismus des einsamen Trinkers der müßigen Geschäftigkeit des Lenkers von Völkern überlegen ist." Wir könnten ergänzen, dass in diesem Sinne auch die Tätigkeit eines Jack the Ripper der Tätigkeit einer Mutter Theresa überlegen ist, wenn sie mit größerer Klarheit über den eigentlich angestrebten "Wert" erfolgt und wir könnten natürlich auf den Gedanken kommen, dass mit der Klarheit ein allgemeingültiger Wert eingeschmuggelt wird. - In seiner drei Jahre danach entstandenen Vorlesung "Ist der Existentialismus ein Humanismus" wird sich Sartre um eine Verkleinerung des Abstandes zwischen seinem Ansatz und einer Einstellung, die auf moralisch begründetes Engagement abzielt, bemühen. Am Ende stellt Sartre noch die Frage, ob es möglich ist, dass Ziel der Selbstbegründung aufzugeben und stattdessen die Freiheit und damit die uneindeutige Existenz als Für-sich als Ideal zu wählen. Wir hatten schon erwähnt, dass das Authentizitätsideal eine solche Möglichkeit zu erfordern scheint und auch, dass diese Möglichkeit Sartres gesamte Ontologie in Frage stellt. Man könnte also sagen, dass Sartre sein Werk damit schliesst, dass er die darin präsentierte Theorie selbst bezweifelt. ENDE |